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Kapitel 24

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Früh am Morgen, drei Tage bevor Franca ihre Reha abgeschlossen hatte – „Ihr werdet es nicht glauben, aber ich kann wieder prima freihändig laufen, nur noch keine langen Strecken. Der Rollator gehört der Vergangenheit an, sag das deinem Sohn, Julie, er kann ihn wieder mit nach Montpellier nehmen!“ –, riss ein impertinentes Hupen vor dem Tor zu ‚Les Genets‘ alle aus den Federn. Die Hunde schossen als Erste kläffend nach draußen, als Marie die Glastüre von der Küche zum Garten hin aufschob.

„Welcher Idiot ist denn um diese Zeit schon auf den Beinen und macht solch einen Lärm, es ist gerade mal sechs Uhr … Autsch!“, fluchte sie, weil sie sich die Hüfte, noch nicht ganz wach, am Türrahmen gestoßen hatte, und humpelte zum Tor. Davor stand ein Auto mit italienischem Kennzeichen und großem, geschlossenem Anhänger, daneben ein übermüdeter Mann mit Dreitagebart. „Verdammte Sch… Paolo?“ Marie verkniff sich den Rest des Fluches.

Ciao, tesoro – du siehst bezaubernd aus … wie immer“, grinste dieser.

Marie lächelte verlegen und ärgerte sich gleichzeitig über ihr altes T-Shirt mit verwaschenem Mickey-Mouse-Druck über rosafarbenen Shorts und dass sie nicht geschminkt und auch nur mit den Händen durchs Haar gefahren war. Sie starrte Paolo wie unter Schock an.

„Mach auf, Marie, bitte. Ich bin vierundzwanzig Stunden gefahren und sehr müde.“ Er schob sich wieder auf den Fahrersitz seines Autos.

Marie versuchte den Restschlaf abzuschütteln, öffnete das Tor und ließ den Freund aus vergangenen römischen Tagen auf den Vorplatz des Hauses fahren. Inzwischen waren auch Cécile, Julie und Eleni, bereits korrekt gekleidet, dazugekommen und sahen erstaunt, dass Marie im Schlafanzug einen unrasierten Mann mit zerknautschter Kleidung herzte und küsste, dahinter ein italienisches Auto mit Anhänger. „Was ist denn hier los?“

„Ihr werdet es nicht glauben“, Marie drehte sich mit Paolo zu den anderen herum, „das ist …“

In diesem Augenblick schrillte in der Küche das Telefon in den höchsten Tönen.

„… euer römischer Maler“, sagte Cécile lächelnd und reichte ihm die Hand. „Herzlich willkommen! Aber jetzt muss ich mich sputen, um zu erfahren, wer uns da so unerbittlich anläutet.“ Und sie spurtete davon.

Julie und Eleni begrüßten Paolo ebenfalls sehr freundlich, und Marie sagte: „Kommt, jetzt gehen wir erst einmal rein und brühen uns allen einen kräftigen Kaffee auf … Cappuccino, Caffè Latte, Latte macchiato oder Espresso?“

„Espresso“, sagte der müde Römer, lächelte matt, nahm seine Siebensachen und folgte den Mädels ins Haus.

Cécile hielt den Hörer noch in der Hand.

„Na, wer hat es denn gewagt, uns so früh anzurufen?“

„Das war Franca.“ Cécile drückte auf den Lautsprecher. „Allerdings habe ich sie nur noch auf dem Anrufbeantworter erwischt. Hört euch das an, währenddessen können wir schon mal in Ruhe das Frühstück vorbereiten.“ Und sie lachte, während Francas Stimme durch die Küche schallte: „Hallo, ich bin es! Wo seid ihr denn? Ich telefoniere mir langsam die Finger wund, wo sind denn eure Handys? Überall nur Mailbox! Na ja, egal. Also, ich habe total vergessen, euch davon in Kenntnis zu setzen, dass Paolo wahrscheinlich heute zu euch kommen wird. Ich hoffe, es ist euch recht und macht keine Umstände. Schlafen kann er ja in meinem Appartement. Übrigens wäre es hilfreich, wenn wenigstens eine von euch auch zu dieser nachtschlafenden Zeit ihr Handy anließe. Ich habe nämlich null Bock, es hundert Mal erfolglos zu versuchen. Bis dann, macht’s gut und lasst von euch hören, sobald ihr wach seid.“

Cécile erklärte den anderen, dass sie schon versucht habe, die Freundin zurückzurufen, aber ohne Erfolg.

Marie war inzwischen nach oben gelaufen, um zu duschen und sich ein wenig aufzuhübschen. Als sie zu den anderen zurückkam, zog sie ihr Handy aus der Hosentasche. „Übrigens, Cécile, du brauchst bis heute Mittag nicht zu versuchen, Franca zu erreichen. Sie hat mir eine SMS geschickt, dass ihr Telefon für ein paar Stunden abgeschaltet bleibt, da sie zu verschiedenen physio- und psychotherapeutischen Übungen muss und uns weder persönlich noch telefonisch dabei gebrauchen kann.“

Cécile hatte zusammen mit Julie und Eleni aufgefahren, was die provenzalische Küche so hergab, und aus einem petit déjeuner ein großes Frühstück gemacht: selbst gebackenes Brot, Butter und Lavendelhonig, außerdem Feigenkonfitüre – „Nach einem alten Rezept meiner Urgroßmutter selig, aus selbst gepflückten Feigen eigenhändig hergestellt“, sagte sie stolz. Dazu gab es Käse wie den milden morbier und einen fromage de chèvre , einen etwas strengeren Ziegenkäse.

„In Italien frühstücken wir so früh am Morgen nur einen Espresso“, ließ Paolo lachend verlauten beim Anblick der vielen Köstlichkeiten – langte aber doch kräftig zu. „Doch nach vierundzwanzig Stunden Fahrt habe ich un fame come un lupo !“

„Das bedeutet: Hunger wie ein Wolf“, übersetzte Marie lachend, als er sich noch ein weiteres Stück Käse abschnitt.

Nachdem sie ausgiebig gefrühstückt und parliert hatten, half Paolo, die mitgebrachten Kleinmöbel, Bilder und Francas persönliche Habe in deren Appartement zu bringen. Dann ließ er sich mit den Worten „Ich schlafe nur mal schnell eine Runde, anschließend können wir Franca besuchen!“ auf ihr Bett fallen, drehte sich zur Seite und schon waren die ersten Anzeichen von Schnarchtönen zu hören.

Marie nahm eine leichte Decke aus dem Schrank und legte sie dem müden Römer über die Beine. „Lassen wir ihn so lange schlafen, wie er will. Der Besuch bei Franca läuft uns ja nicht davon.“

Auf Zehenspitzen schlichen sich die Mädels nach draußen und zogen leise die Türe hinter sich zu.

Die Sonne stand schon recht tief und schimmerte rotgolden durch die hohen Pinien, als Paolo wieder auf der Terrasse erschien. Seine Haare waren noch feucht vom Duschen, und er hatte frische Sachen angezogen. Er streckte sich wohlig. „Das hat gutgetan! Aber ihr hättet mich ruhig früher wecken können.“

Julie saß draußen am Tisch und schnitt Zucchini in kleine Würfel. „Für einen tian aux courgettes , einen Zucchiniauflauf, passend zum Seeteufel mit Namen Lotte, haha“, erklärte sie lachend. „Cécile war heute mit Eleni auf dem marché aux puces in Goult und hat dort verschiedene Leckereien besorgt, damit wir dir, lieber Paolo, ein fürstliches Abendessen zubereiten können, dazu einen köstlichen Roten aus dem Luberon. Was sagst du dazu?“

„Wundervoll! Mir läuft schon jetzt das Wasser im Mund zusammen.“

„Schluck es runter!“ Marie stand plötzlich hinter ihm. „Zuerst besuchen wir zwei noch Franca!“ Sie hakte sich bei ihm unter und hielt Julie die geöffnete Rechte hin. „Schlüssel? Danke!“

Schmollend reichte die Freundin ihr diesen. „Aber ich finde es einfach ungerecht. Du darfst dich in Apt mit Römerin und Römer vergnügen, während ich niedere Arbeiten für unsere begnadete Köchin Cécile leisten muss.“

Marie sah sie verblüfft an. Dann lächelte sie verschmitzt. „Denk an die Bienen. Da gibt es die Fleißigen, die emsig für Nahrung sorgen, und dann die anderen, die sich nur amüsieren dürfen. Heute bin ich eben mal eine Drohne.“

Julie grinste. „Nun haut schon ab. Ihr wisst doch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, in diesem Fall ich, und das bezieht sich natürlich ausschließlich auf das dîner heute Abend, da habe ich nämlich ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.“ Und sie deutete auf das geschnippelte Gemüse.

„Das ist doch mal eine altersgerechte Beleuchtung“, sagte Marie erfreut, als sie und Paolo nach ‚Les Genets‘ zurückkehrten. „Da wird unseren Falten ja jede Möglichkeit genommen, sich zu zeigen!“ Sie deutete auf das lodernde Kaminfeuer neben dem Herd an der Rückwand der überdachten Terrasse, von dem verführerische Düfte ausgingen.

„Hör auf mit unserem Alter“, meckerte Julie, „da fühlt man sich bereits wie scheintot. Unsere Altvorderen haben bis ins neunzehnte Jahrhundert gerade mal die Hälfte unserer Jahre erreicht, wäre dir das lieber?“

„Nee, überhaupt nicht.“ Marie lachte.

„Dann setzt euch endlich an den Tisch, bevor das Essen kalt wird“, befahl Cécile, „sonst war unsere ganze Kocherei glatt für die Katz.“

„Und für die Hunde“, unterstützte sie Eleni und begann aufzutragen.

Zum Abschluss gab es an diesem Abend eine tarte tatin.

Mon dieu, quel malheur“, bemerkte Cécile schmunzelnd, als sie Paolo den Teller mit einem Stück des gestürzten Apfelkuchens reichte.

„Wieso ein Unglück?“, wollte der Maler wissen.

„Na, frag mal Marie. Die hat nämlich für ihr provenzalisches Kochbuch damals eine kleine Geschichte um diese tarte gesponnen.“

„Ach was, erzähl mal!“

„Also, das war so“, begann Marie etwas verlegen, „ich dachte, es wäre doch nett zu erklären, warum dieser Kuchen im Gegensatz zu anderen sozusagen mit dem Gesicht nach unten gebacken wird. Und so ließ ich den Demoiselles Tatin aus dem neunzehnten Jahrhundert, nach denen der Kuchen seinen Namen trägt, die tarte aus der Hand gleiten. Er landete mit dem Gesicht nach unten auf dem heißen Herd, und ehe sie mit Braten- und Tortenheber zur Stelle waren, karamellisierten Butter, Zucker und Äpfel. Doch bevor die Demoiselles den Kuchen in den Abfall schmissen, kosteten sie von der verunfallten tarte und voilà , sie schmeckte vorzüglich!“

„Deine Fantasie ist einfach unübertrefflich“, sagte Paolo bewundernd.

„Ja sicher“, sagte Marie und lachte, „und seitdem ist die Geschichte nicht nur in die Historie eingegangen, sondern auch in nachfolgende französische Kochbücher.“

„Nennt man das nicht Plagiat?“

„Ach, woher denn. Du glaubst gar nicht, wie viel in Kochbüchern geklaut wird, selbst so frei erfundene Storys wie die über die tarte tatin.“

Salut , auf dich und die Demoiselles!“, riefen alle, nahmen dann ihre Gläser und gingen zu den Liegen am Pool, während Cécile eine weitere Flasche von dem herrlichen „Mont Ventoux“, einem sanften Rotwein aus dem Luberon, aus der Küche holte.

Mittlerweile war auch Paul auf ein Glas Wein zu ihnen gestoßen. Mit den Worten „Das ist unser römischer Künstler, Paolo“ stellte Marie die beiden Männer einander vor. Und dann lagen sie da bis weit nach Mitternacht und schauten in den klaren Sternenhimmel über sich. Vögel zwitscherten leise im Schlaf, die Umwälzpumpe des Pools gluckerte hin und wieder, Zikaden zirpten, Coco und Mascotte robbten auf der Jagd nach Mäusen fast geräuschlos durchs Gras, während Felix, Lieschen und Diogenes zusammengerollt auf einer weiteren Liege schnarchten und Glühwürmchen zwischen den Sträuchern auf- und abtanzten. Von Zeit zu Zeit bellte irgendwo in der Ferne ein Hund. Alle träumten vor sich hin, als Paolo plötzlich sein Glas und seine Stimme erhob.

„Auf euch, mes chères amies, und meinen Namensvetter. Ich habe nur noch zwei Tage Zeit. Dann muss ich dieses Paradies leider verlassen und nach Rom zurückkehren. Mein Atelier und die Galerie rufen.“ Er nahm einen großen Schluck und prostete den anderen zu. „Der zergeht einfach auf der Zunge. Morgen würde ich gerne mit euch und den wunderbaren provenzalischen Rebsäften eine Weinprobe machen.“ Er nahm einen weiteren Schluck. „Also noch mal, auf euch! Und übermorgen eine Fahrt ans Meer, um mal wieder fangfrische Austern zu speisen.“

D’accord“, antwortete Cécile, „da weiß ich auch schon wo. Im ersten Fall gibt es eine große cave coopérative in Lumière. Dort melde ich uns morgen …“, sie schaute auf ihre Armbanduhr, „… ach nein, heute früh gleich an. Wer kommt mit?“

„Wir!“, riefen Marie und Julie einstimmig. Eleni schwieg.

„Und was ist mit dir?“

„Och, ich bleibe lieber hier und hüte Haus und Zoo. Außerdem muss ja jemand die Unordnung von gestern Abend wegräumen. Ich könnte auch für heute das Essen …“

„Eleni! Was willst du eigentlich?“, sagte Marie leicht genervt. „Wir haben fast ein Jahr davon gesprochen, was wir alles gemeinsam unternehmen wollen, wenn wir von unserem familiären und beruflichen Ballast befreit sind und endlich Zeit nur für uns haben.“

„Ja“, unterstützte sie Julie, „und jetzt machst du einen Rückzieher. Du sprichst vom Haushüten, Aufräumen und Kochen. Du redest dich raus, Schätzchen, gib’s zu. Was willst du nun wirklich?“

„Alles, was ihr auch wollt“, entgegnete die Freundin bekümmert, „aber ich habe Schiss, dass ich von den vielen Weinproben wieder Magen und Kopf bekomme, und …“

„Vergiss es“, sagte Cécile bestimmt, „du kommst mit. Den Wein musst du nicht runterschlucken, du spuckst die Proben jedes Mal einfach in ein dafür vorgesehenes Behältnis. Und wenn alle Stricke reißen, dann mache ich dir danach eine infusion …“

„Bist du verrückt? Ich habe eine Spritzenphobie!“

„Du Schäfchen“, beruhigte sie Cécile, „eine infusion ist lediglich ein Aufguss aus einer Handvoll Lindenblüten, zwei Nelken und zwei Sternanis. Du wirst sehen, der wirkt einfach Wunder, sollte es dir dann hinterher trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht gut gehen.“

„Na, siehste“, sagte Julie und wandte sich dann an Cécile. „Und wo bekommen wir übermorgen die extravaganten Muscheln?“

„Das wäre der zweite Fall, da gibt es nur einen Ort, Les Saintes-Maries-de-la-Mer in der Camargue. Ich kenne dort ein Fischrestaurant direkt am Hafen, das schlicht und einfach ‚Le Poisson‘ heißt, aber mindestens einen Stern im Michelin verdient hätte.“ Sie küsste verzückt ihre Fingerspitzen. „Es geht eben nichts über fangfrische Austern aus dem mer méditerranée mit einem Spritzer Zitrone, findet ihr nicht auch?“

Alle nickten begeistert Zustimmung. Dass sich diesmal Marie leicht schüttelte und schwieg, fiel jedoch im Eifer des Gefechts nur Paul auf, und er prostete ihr verschwörerisch grinsend mit seinem Rest Wein zu, bevor er sich auf den Weg zurück nach Marseille machte.

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