Читать книгу Die Lavendelgang Gesamtausgabe - Inge Helm - Страница 28
Kapitel 19
ОглавлениеZwei Wochen später waren Marie und Julie mit Céciles altem Kastenwagen auf dem Weg zur Autobahn Richtung Marseille, nicht ohne vorherige Diskussion mit der Halterin des Wagens. „Lasst mich fahren, Marseille ist ein Moloch, da findet ihr euch nie zurecht … und das auch noch ohne Navi.“
„Aber wir sind zu zweit, und der Flughafen ist ja wohl ausgeschildert.“
„Und ich bin dort geboren, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welch ein Gewirr auf den Boulevards, Straßen und in den Gassen der Altstadt herrscht. Es gibt so viele Häuser, Geschäfte, Autos und Menschenströme, dass euch davon der Kopf schwirrt, und von dem Lärm und dem Gestank der Abgase werdet ihr benebelt und bekommt Kopfschmerzen …“
„Na hör mal“, Marie wurde langsam ungeduldig, „wir sind doch keine unschuldigen Landeier. Ich komme aus der Großstadt Köln, Julie aus der Metropole Paris. Denkst du, da gibt es keine vollen Straßen, Gassen, Menschenströme und Benzingestank?“
„Marie hat recht“, sprang ihr Julie bei, „ich kann nicht glauben, für wie bescheuert du uns hältst.“
„Das ist ja der reinste Kindergarten“, schimpfte Franca und beendete damit die Diskussion. „Wenn ihr euch nicht auf der Stelle einigt, dann nehme ich meinen Rollator und hole damit persönlich Eleni vom Flughafen ab, aus, finito, basta!“ Das Ganze löste sich daraufhin in allgemeines Gelächter auf, und Marie und Julie bekamen Céciles Segen für die Fahrt.
Den Flughafen fanden sie sozusagen auf Anhieb … eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit, nachdem sie mindestens fünfmal, eingekeilt in den Strom der anderen Autos, an dem Hinweisschild vorbeigerauscht waren. Eleni stand bereits am Ausgang, ihren kleinen Philosophen in einer Box neben sich.
„Mensch, wo bleibt ihr denn“, begrüßte sie Marie und Julie ungeduldig. „Klein-Diogenes muss mal dringend Pipi nach dem langen Flug.“
Marie ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu: „Typisch Eleni, kaum angekommen und schon am Rummeckern!“, sagte sie, und dann wurden die Ankömmlinge lachend von ihr und Julie umarmt. „Komm, dahinten kurz hinter dem Parkplatz befindet sich eine kleine Wiese, da kann er ungestört sein Beinchen heben.“
Während Marie und Julie Elenis Koffer und Taschen in den Kofferraum des Kombis hievten – „Mensch, hat die da die ganze Akropolis drin?“ –, kamen die beiden erleichtert zum Wagen zurückgehüpft. Diogenes musste zu seinem Leidwesen zurück in die Box und wurde auf den Rücksitz verfrachtet, Eleni rutschte neben ihn und knallte die Tür zu.
„Auf, auf zur Besichtigungstour der eigentlich ja griechischen Stadt!“, rief sie, als Marie und Julie sich schwer atmend auf den Vordersitzen niederließen.
„Was hast du eigentlich eingepackt?“, fragte Julie. „Sind das etwa Wackersteine antiker griechischer Ruinen?“
„Klar doch, Diogenes braucht schließlich seinen hauseigenen Hinkel… äh … Pinkelstein.“
Laut hupend gab Marie Gas, und sie reihten sich in die Autoschlange ein, die Stoßstange an Stoßstange und dreispurig Richtung Zentrum vorankroch.
„Cécile hatte recht“, sagte Julie, „die Stadt ist wirklich sehr groß.“
Als Erstes fuhren sie zu den Quais hinunter und betrachteten die Silhouette der Frachter. Dann schauten sie einem Flugzeug hinterher, das mit donnerndem Geräusch langsam in den blassblauen Himmel stieg. Es machte über der Stadt einen Bogen, flog vor der Sonne her, verdunkelte sie für den Bruchteil einer Sekunde, steuerte dann auf das Meer hinaus und entschwand ihren Blicken.
Marie kniff die Augen zusammen, weil sie tränten. „Es ist wirklich zum Heulen. Meine Sicca-Augen hören überhaupt nicht mehr auf zu laufen, und meine Sehkraft ist auch nach der Grauen-Star-Operation kaum besser geworden.“
„Na wenn schon“, grinste Julie, „selbst der ‚kleine Prinz‘ von Antoine de Saint-Exupéry war der Meinung, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, das Wesentliche sei für das Auge sowieso unsichtbar.“
Und Eleni fügte hinzu: „Ich habe vor einiger Zeit gelesen, dass das Flugzeug des Autors im Jahre 2000 hier, nahe der Île de Riou im Meer vor Marseille, entdeckt wurde. Der arme Kerl. Aber nun genug der trüben Gedanken und ab, weiter zum Zentrum.“
Gehorsam wendete Marie den Wagen und sie fuhren die schnurgeraden, lärmenden und großen Boulevards entlang, die Canebière, den Boulevard Dugommier, den Boulevard d’Athènes. Sie sahen Leute aus allen Ländern der Welt, Soldaten, Matrosen und schwarz gekleidete Geschäftsleute, wobei Letztere eilig vorbeiliefen und kleine Köfferchen bei sich trugen. Es gab so viele Straßen und Namen, dass es dem Trio ganz schwindelig wurde. Als sie sich allerdings zum gefühlten zehnten Mal auf dem Boulevard d’Athènes wiederfanden, deklamierte Julie erschöpft:
„‚Das Leben schafft Ordnung, aber die Ordnung bringt kein Leben hervor.‘ Auch von Saint-Exupéry. Allerdings wünschte ich mir hier in dieser Stadt ein klein wenig mehr Ordnung und ein bisschen weniger Leben.“
„Ja doch“, sagte Marie leicht genervt, „aber wie kommen wir jetzt zurück auf die Autobahn?“ Wie von Cécile vorhergesagt irrten sie eine weitere halbe Stunde durch das Dickicht von Marseille. In der Rue des Chapeliers scherte Marie plötzlich aus der Autoschlange aus und hielt dicht am Straßenrand. „Ich bin total erledigt“, stöhnte sie.
„Und verrückt!“, schrie Julie. „Das hier ist ein Parkplatz nur für Behinderte und auch noch direkt unter den Augen der Gesetzeshüter!“ Sie zeigte entsetzt auf die zwei Häuser entfernte Polizeistation.
Doch Marie lächelte plötzlich und sagte erleichtert: „Ha, das ist die Idee! Geh doch mal schnell zur Wache rüber und frag nach dem rechten Weg.“
Zehn Minuten später kam Julie mit einem Polizeibeamten zurück.
Marie kurbelte das Fenster herunter. „Knöllchen?“
„Nee“, sagte die Freundin, „der Beamte ist so freundlich und fährt bis zur Autobahnauffahrt vor uns her. Rutsch mal rüber, jetzt übernehme ich das Steuer und folge gekonnt dem Auto mit dem blauen Licht.“
„Aber Cécile erzählen wir nichts von unserer Odyssee“, beschwor Marie die Freundin und wandte sich dann an Eleni. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Es juckt mich furchtbar am Rücken, kannst du mal bitte kratzen?“
„Du liebes bisschen, hoffentlich bist du nicht auch allergisch gegen meinen Diogenes“, sagte diese erschreckt und kam Maries Wunsch umgehend nach.
„Ach Quatsch“, wehrte Marie entschieden ab, „ich bin allergisch gegen Erdbeeren, Melonen und Pfirsiche, aber doch nicht gegen Hunde!“