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3. Der Aufsatz „The Problem of Social Cost“ (1960)

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Dieser Aufsatz enthält eine vehemente Kritik der wohlfahrtsökonomischen Vorstellung externer Effekte, d.h. einer Denkkategorie, die Coase für irreführend hält und die er so radikal ablehnt, dass er nicht einmal den Begriff verwendet. Diese Kritik folgt einer Argumentationslinie, die Coase auf nicht weniger als 60 Druckseiten entwickelt. Allerdings ist der Text in insgesamt 10 Abschnitte unterteilt, die es dem Leser erleichtern, den roten Faden nicht zu verlieren. Folgt man dieser Einteilung, so lässt sich die Argumentation in fünf Schritten zusammenfassen.

Den ersten Schritt bilden die Abschnitte I und II. Hier formuliert Coase einleitend seine Problemstellung und seine These: Er geht aus von dem Befund, dass die Wohlfahrtsökonomik bei einer Diskrepanz zwischen privaten und sozialen Kosten einen externen Effekt diagnostiziert und als Therapie hierfür staatliche Eingriffe empfiehlt, die den externen Effekt internalisieren sollen, sei es in Form eines Verbots oder einer Besteuerung jener – z.B. umweltverschmutzenden – Aktivität, von der ein (negativer) externer Effekt ausgeht. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass der Verursacher eines externen Effekts mit – unter Umständen prohibitiv hohen – Kosten belastet werden soll, so dass es zu einer Angleichung von (verhaltensrelevanten) privaten und (wohlfahrtsrelevanten) sozialen Kosten kommt. Gegen diese Vorstellung wendet Coase ein, dass die Identifizierung von Verursachern auf einer Zuschreibung beruht, d.h. auf einer Situationswahrnehmung, |151|die er als unterkomplex zurückweist. Aus seiner Sicht geht das zugrunde liegende Problem – entgegen dem Augenschein – nicht einseitig vom ‚Verursacher‘ eines ‚externen Effekts‘ aus. Vielmehr stellt es sich ein als das Resultat einer Nutzungskonkurrenz, bei der rivalisierende Ansprüche an eine knappe Ressource aufeinandertreffen. Das Problem wird also wechselseitig verursacht. Es ist kollektiver Natur. Aufgrund dieser differenzierteren Diagnose hält Coase die Politikempfehlungen der Wohlfahrtsökonomik für in sich inkonsistent und tendenziell verfehlt. Deshalb setzt er seine Kritik als eine interne Kritik der Wohlfahrtsökonomik an. Seine These lautet, dass einige der für die Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt relevanten Alternativen – und mithin die Opportunitätskosten der empfohlenen Politikmaßnahmen – im traditionellen Ansatz außer acht gelassen werden. Er kritisiert also nicht, dass die Wohlfahrtsökonomik den gesellschaftlichen Nutzen maximieren will, sondern er kritisiert, dass ihr bei diesem Bemühen gravierende Fehler unterlaufen. Coase kritisiert, dass eine auf externe Effekte fixierte Wohlfahrtsökonomik ihr Ziel verfehlt: dass sie, entgegen ihrer Intention, aus systematischen Gründen die Wohlfahrt nicht wirklich maximiert, weil sie eine Perspektive einnimmt, aus der ihr gesellschaftlich relevante Kosten aus dem Blick geraten.

Der zweite Argumentationsschritt besteht aus den Abschnitten III und IV. Hier dekonstruiert Coase die wohlfahrtsökonomische Position, indem er nachweist, dass in der in dieser Literatur typischerweise verwendeten Modellwelt – einer Modellwelt ohne Transaktionskosten – die von der Wohlfahrtsökonomik empfohlenen Politikmaßnahmen gar nicht nötig wären, um die für wünschenswert gehaltene Angleichung von privaten und sozialen Kosten herbeizuführen. Vielmehr würde sich eine solche Angleichung quasi automatisch einstellen, und zwar durch – kostenlose! – Verträge, durch die rivalisierende Nutzungsansprüche aufeinander abgestimmt und marginal ausgeglichen würden. Hierbei macht sich Coase die Pointe zunutze, dass sich in jedem Fall eine effiziente Allokation einstellen würde, und zwar unabhängig von der Frage, wie die Nutzungsrechte im Ausgangszustand verteilt sind. Bei Abwesenheit von Transaktionskosten würden bestehende Nutzungsrechte per Vertrag genau dorthin übertragen, wo sie den gesellschaftlich größten Nutzen stiften – so die Aussage des berühmt-berüchtigten Theorems, das mit dem Namen Coase mittlerweile untrennbar verbunden ist. Das sogenannte ‚Coase-Theorem‘ formuliert also lediglich ein gegen die Wohlfahrtsökonomik gerichtetes Non-Sequitur. Es sagt nicht aus, welche Anschauung Coase für richtig hält; sondern es sagt aus, dass und warum Coase den wohlfahrtsökonomischen Problemaufriss für verfehlt hält.

Den dritten Argumentationsschritt bildet der lange, nicht weniger als zehn Seiten umfassende Abschnitt V. Hier dokumentiert Coase ausführlich, dass die reziproke Natur des ‚Verursachungs‘-Problems in der juristischen Literatur durchaus gesehen worden ist. Mit diesem Exkurs stimmt Coase den Leser auf seine differenzierende Sicht der Dinge ein und bereitet damit das eigentliche Kernargument seines Aufsatzes vor.

Den vierten Argumentationsschritt bilden die Abschnitte VI und VII. Hier nimmt Coase den durch den Exkurs unterbrochenen Gedankengang wieder auf. War im zweiten Argumentationsschritt gezeigt worden, dass sich das zugrunde liegende Problem reziproker Nutzungskonkurrenz in einer Welt ohne |152|Transaktionskosten ohne weiteres von selbst regelt, stellt sich nun die Frage, wie dieses Problem in einer Welt mit Transaktionskosten wohlfahrtsoptimal gelöst werden kann. Hierzu bietet Coase folgende Überlegung an: Transaktionskosten sorgen dafür, dass der Tausch von Nutzungsrechten unter Umständen bereits eingestellt werden muss, noch bevor die knappen Ressourcen ihre produktivste Verwendung gefunden haben. Damit kehrt sich die Aussage des sog. ‚Coase-Theorems‘ geradewegs um: In einer Welt mit positiven Transaktionskosten wird die Anfangsausstattung mit Nutzungsrechten wichtig, weil sie das Allokationsergebnis der marktlichen Tauschprozesse vorbestimmt. Hieraus zieht Coase nun den Schluss, dass dies bereits bei der Zuteilung von Rechten bedacht werden sollte. Folglich wird Gesetzgebung und Rechtsprechung eine extrem wichtige ökonomische Bedeutung zugesprochen. Das Kernargument lautet im Original wie folgt:

„[W]hen dealing with the problem of the rearrangement of legal rights through the market, I argued that such a rearrangement would be made through the market whenever this would lead to an increase in the value of production. But this assumed costless market transactions. Once the costs of carrying out market transactions are taken into account, it is clear that such a rearrangement of rights will only be undertaken when the increase in the value of production consequent upon the rearrangement is greater than the costs which would be involved in bringing it about. When it is less, the granting of an injunction … or the liability to pay damages may result in an activity being discontinued (or may prevent its being started) which would be undertaken if market transactions were costless. In these conditions, the initial delimination of legal rights does have an effect on the efficiency with which the economic system operates. One arrangement of rights may bring about a greater value of production than any other.“[230]

An dieses Argument schließt Coase zwei Überlegungen an. Die erste Überlegung besagt, dass – ausgehend von gegebenen Rechten – zur Lösung des reziprok verursachten Problems einer Konkurrenz rivalisierender Nutzungsansprüche mehrere Alternativen in Frage kommen und dass jede dieser Alternativen – eine preisliche Koordination der Nutzungsansprüche, eine hierarchische Koordination in Firmen und schließlich eine staatliche Koordination mittels Steuer und Verbot oder ähnlichen Formen der Regulierung – Kosten verursacht, die gegeneinander abgewogen werden müssen, wenn das Wohlfahrtsoptimum nicht verfehlt werden soll.[231] Die zweite Überlegung besagt, dass dort, wo es um die Zuteilung von Rechten geht, also bei der Gesetzgebung und bei der Rechtsprechung, mit berücksichtigt werden sollte, dass – aufgrund von Transaktionskosten – die Primärverteilung von Rechten ihre Sekundärverteilung präjudiziert und dass folglich bereits bei der Zuteilung von Rechten darauf geachtet werden sollte, dass sie einer möglichst produktiven Verwendung knapper Ressourcen nicht im Wege steht.[232]

|153|Den fünften Argumentationsschritt schließlich bilden die Abschnitte VIII, IX und X. Hier nimmt Coase die Auseinandersetzung mit der Literatur wieder auf: die Auseinandersetzung mit Pigou und der sich an Pigou anschließenden Wohlfahrtsökonomik. Gegen Pigou wendet er ein, dass es nicht darauf ankommen kann, externe Effekte ‚um jeden Preis‘ zu internalisieren: Genauso, wie es sehr riskant wäre, alle Risiken strikt vermeiden zu wollen, wäre es sehr schädlich, alle Schädigungen unterbinden zu wollen.[233] Gegen die Pigou-Tradition wendet er ein, dass sie sich den Denkfehler, der Pigou unterlaufen ist, als Methode zu eigen macht.[234] Sein Fazit lautet, dass dieser verfehlte Ansatz korrigiert werden muss.[235] Hierbei geht es ihm vor allem um die Heuristik, d.h. um eine methodische Anleitung zur Wahrnehmung der situativ relevanten Alternativen. Im einzelnen führt er dazu Folgendes aus:

„Analysis in terms of divergences between private and social products concentrates attention on particular deficiencies in the system and tends to nourish the belief that any measure which will remove the deficiency is necessarily desirable. It diverts attention from those other changes in the system which are inevitably associated with the corrective measure, changes which may well produce more harm than the original deficiency.“[236] – „A better approach would seem to be to start our analysis with a situation approximating that which actually exists, to examine the effects of a proposed policy change, and to attempt to decide whether the new situation would be, in total, better or worse than the original one. In this way, conclusions for policy would have some relevance to the actual situation.“[237]

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