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2. Die Carnegie-Umgebung und das Forschungsprogramm

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Bei der retrospektiven Beschreibung seiner alma mater hebt Williamson drei – für ihn: wegweisende – Charakteristika hervor: eine friedliche Ko-Existenz alternativer Forschungstraditionen; eine strikte Orientierung am Problem, nicht an tradierten |172|Disziplingrenzen; und einen Forschungspragmatismus, der sich nicht an methodologischen Dogmen, sondern an den Erfordernissen des jeweiligen Forschungsproblems orientiert.[273] Durch diese Umgebung fühlt sich Williamson ermutigt, eine organisationstheoretische Integration soziologischer, ökonomischer und juristischer Einsichten anzustreben. Hierbei sieht er sich von vornherein – und bis heute unverändert – in einer vermittelnden Position zwischen extremen Auffassungen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Erstens versucht Williamson eine Überschätzung der Kategorie ökonomischer Rationalität ebenso zu vermeiden wie eine Unterschätzung dieser Kategorie. Er nimmt eine vermittelnde Position zwischen Hyperrationalität und Irrationalität ein, indem er sich das Konzept einer ‚beschränkten Rationalität‘ (bounded rationality) zu eigen macht. Zweitens zieht Williamson nicht die radikale Konsequenz, die Herbert Simon als Vorkämpfer des Konzepts einer ‚bounded rationality‘ bevorzugt, nämlich: den Nutzenmaximierungsansatz zugunsten eines Satisfizierungsansatzes aufzugeben. Auch hier bezieht Williamson wiederum eine eher vermittelnde Position, die am Maximierungsansatz prinzipiell festhält und gegenüber der orthodoxen Ökonomik auf traditionell vernachlässigte Restriktionen hinweist – insbesondere auf zeitliche, informatorische und kognitive Beschränkungen –, die es schwierig und vielfach sogar unmöglich machen, eine mehrperiodige Nutzenmaximierung in einem einzigen Wahlakt vorzunehmen. Hierdurch nimmt Williamson von vornherein eine Prozessperspektive ein. Durch sie wird der orthodox ökonomische Erklärungsansatz für das organisationstheoretische Problem institutioneller Wahl nicht einfach übernommen, sondern adaptiert: Es geht nicht, zeitpunktbezogen, um eine optimale Entscheidung, sondern, zeitraumbezogen, um eine effiziente Anpassung an unvorhergesehene Ereignisse. Es geht um die Wahl einer Interaktionsumwelt, in der man auch morgen noch auf heute unvorhergesehene Ereignisse angemessen reagieren kann. Damit wird – nicht ein Optimierungs-, sondern – ein Anpassungsproblem zum Kernproblem seines theoretischen Ansatzes.

Die Entwicklung des Forschungsprogramms kann in vier Phasen eingeteilt werden. Jeder dieser Phasen lassen sich zentrale Publikationen Oliver Williamsons zuordnen (Abb. 1). Die Startphase wird 1971 durch einen Aufsatz markiert. Das Buch von 1975 lässt sich als Aufbauphase kennzeichnen, das Buch von 1985 als Konsolidierungsphase, die Aufsatzsammlung von 1996 als Ausreifungsphase. Betrachtet man die zeitliche Aufeinanderfolge dieser Schriften, treten zwei Kennzeichen deutlich hervor. Erstens erkennt man eine über Jahrzehnte hinweg kontinuierliche Problembearbeitung, die es erlaubt, hier in der Tat von einem Forschungsprogramm zu sprechen: von einer heuristisch angeleiteten Ausarbeitung zentraler Kernideen. Zweitens fällt auf, dass sich das Anwendungsspektrum des Williamson-Ansatzes kontinuierlich erweitert hat, so dass hier in der Tat eine Reihe progressiver Problemverschiebungen stattgefunden hat, in deren Verlauf sich Williamsons Organisationsökonomik ‚imperialistisch‘ entfaltet. Ausgehend vom generischen Problem vertikaler Integration wurde zunächst eine Firmentheorie, sodann eine Theorie wirtschaftlicher Organisationen und schließlich eine allgemeine Theorie institutioneller Governance entwickelt. Dies gilt es nun zu erläutern.

|173|Abbildung 1:

Die vier Phasen des organisationsökonomischen Forschungsprogramms

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