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|156|5. Zwischen Wohlfahrtsökonomik und Institutionenökonomik? – Zu den Rezeptionsschwierigkeiten des Coase-Ansatzes

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Die bisher rekonstruierten Coase-Aufsätze sind rein verbal gehalten. Sie verzichten auf formale Modellierung und auf hiermit verbundene technische Finessen. Statt dessen konzentrieren sie sich auf Argumente. Diese Argumente sind denkbar einfach strukturiert, je geradezu simplistisch – und dennoch sind sie grundlegend missverstanden worden. Lange Zeit wurde ihre Bedeutung für eine ökonomische Analyse institutioneller Arrangements nicht erkannt, und zudem wurde – und wird – die hiermit verbundene Herausforderung der Wohlfahrtstheorie unterschätzt, jener Theorie also, welche das ökonomische und insbesondere wirtschaftspolitische Denken des 20. Jahrhunderts über weite Strecken maßgeblich bestimmt hat. Woran kann das liegen? Worin bestehen die Hindernisse einer angemessenen Rezeption? Inwiefern leisten die Aufsätze selbst der Tendenz Vorschub, die Kernbotschaft des Coase-Ansatzes misszuverstehen? Und nochmals: Worin genau besteht die Kernbotschaft? Und was ist aus heutiger Sicht an dieser Kernbotschaft zu kritisieren?

(1) Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst auf zwei Faktoren hinzuweisen, die Missverständnisse gefördert haben könnten. Erstens: In allen drei Aufsätzen wird das ökonomische Kernproblem als Allokationsproblem aufgefasst, als Problem einer optimalen Ressourcenverwendung. Vor allem im 1946er und im 1960er Aufsatz präsentiert Coase seine Überlegungen als eine interne Kritik der Wohlfahrtsökonomik, so als ginge es darum, kategoriale Verbesserungen innerhalb dieses Paradigmas vorzunehmen, anstatt das Paradigma zu wechseln. Coase akzeptiert ausdrücklich, dass die gesellschaftliche Wohlfahrt maximiert werden soll und macht lediglich geltend, dass sie durch eine angemessene Berücksichtigung von Transaktionskosten erfolgreicher maximiert werden kann. Coase präsentiert seine institutionenökonomischen Überlegungen als bessere Wohlfahrtsökonomik. Dies macht es schwer, den von Coase propagierten Wechsel des Ansatzes nicht als eine normalwissenschaftliche Anregung, sondern statt dessen als eine revolutionäre Herausforderung des dominierenden Paradigmas wahrzunehmen.

Zweitens: Der Anschein, es handle sich um Fortschrittsbemühungen innerhalb des wohlfahrtsökonomischen Paradigmas, wird auch dadurch verstärkt, dass Coase sein Bemühen um eine grundlegende Änderung eingeschliffener Problemstellungen an manchen Stellen nicht als Konstruktivismus, sondern – so scheint es – als Empirismus ausweist. Dies ist tendenziell irreführend. Dass es Coase nämlich nicht um ein einfaches Sammeln von Daten geht, zeigt sich zum einen an seiner Kritik des von der deutschen Historischen Schule maßgeblich beeinflussten amerikanischen Institutionalismus.[241] Zum anderen zeigt es sich daran, dass Coase sich von einer stärker empirisch ausgerichteten Forschung dezidiert konstruktivistische Fortschrittsbeiträge verspricht. So heißt es in der Ergänzungsstudie zum 1937er Aufsatz:

|157|„I have suggested that what is wanted is a large-scale systematic study of the organization of industry … I have also suggested that this would yield best results if conducted in an atmosphere in which the scientific spirit is not contaminated by a desire (or felt obligation) to find quick solutions to difficult policy issues. … This proposal for more research is founded on my belief that it is unlikely that we shall see significant advances in our theory of the organization of industry until we know more about what it is that we must explain. An inspired theoretician might do as well without such empirical work, but my own feeling is that the inspration is most likely to come through the stimulus provided by the patterns, puzzles, and anomalies revealed by the systematic gathering of data, particularly when the prime need is to break our existing habits of thought.“[242]

(2) Im übrigen ist es aufschlussreich, dass Coase sich die Frage nach den Gründen für die Rezeptionsschwierigkeiten seines Ansatzes selbst gestellt und retrospektiv wie folgt beantwortet hat: Er schließt eigene Unzulänglichkeiten hinsichtlich der argumentativen Darstellung nicht aus. Als Haupthindernis jedoch identifiziert er den tiefgreifenden Paradigmawechsel, der mit seinem Ansatz verbunden ist.[243] Dieser Ansatz beruht auf einem Element der Selbst-referentialität. Coase geht es darum, die Mängel ökonomischer Theorie mit Hilfe ökonomischer Theorie zu heilen. Hierin sieht er den gemeinsamen Kern seiner drei zentralen Aufsätze und der jeweils zugehörigen Ergänzungsstudien.[244]

„In mainstream economic theory, the firm and the market are, for the most part, assumed to exist and are not themselves the subject of investigation. One result has been that the crucial role of the law in determining the activities carried out by the firm and in the market has been largely ignored. What differentiates the essays in this book is not that they reject existing economic theory … but that they employ this economic theory to examine the role which the firm, the market, and the law play in the working of the economic system.“[245]

Der Ansatz, den Coase an die Stelle der wohlfahrtsökonomischen Theorie treten lassen möchte, ist ein institutionenökonomischer Ansatz mit positiven und normativen Implikationen. Auf der einen Seite möchte Coase das Verständnis institutioneller Arrangements fördern, indem er diese nicht nur als Restriktion, sondern zusätzlich auch als Objekt individueller Wahlhandlungen aufgefasst wissen möchte (‚institutional choice‘ als Erklärungsansatz). Auf der anderen |158|Seite möchte Coase die politische Gestaltung des gesellschaftlichen Institutionensystems ihrerseits als eine – nach Möglichkeit zu optimierende – Wahlhandlung aufgefasst wissen (‚institutional choice‘ als Steuerungsansatz).[246] Hierbei macht er sich die wohlfahrtsökonomische Vorstellung einer gesellschaftlichen Maximierung ausdrücklich zu eigen.

„Individuals and organizations will, in furthering their own interests, take actions which facilitate or hinder what others want to do. They may supply labour services or withdraw them, provide capital equipment or decline to do so, emit smoke or prevent it, and so on. The aim of economic policy is to ensure that people, when deciding which course of action to take, choose that which brings about the best outcome for the system as a whole. As a first step, I have assumed that this is equivalent to maximizing the value of total production (and in this I am Pigovian).“[247]

(3) Auf den ersten Blick spricht somit einiges für die These, dass Coase den Paradigmawechsel von der Wohlfahrtsökonomik zur Institutionenökonomik als Wegbereiter ermöglicht hat, ohne jedoch diesen Paradigmenwechsel selbst vollständig zu vollziehen. Hierzu wäre es nötig gewesen, das ökonomische Problem nicht als gesellschaftliche Maximierung, sondern als gesellschaftliche Koordinierung aufzufassen: als Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen für je individuelle Maximierungsanstrengungen. Die radikale Schlussfolgerung, einer solchen Koordinierung nicht das Kriterium allokativer Effizienz, sondern das Kriterium demokratischer Zustimmung zugrunde zu legen, d.h. sich von der Hypothek utilitaristischen Denkens endgültig zu verabschieden, ist nicht von Ronald Coase gezogen worden, sondern von James Buchanan, mit dessen Name sich das Forschungsprogramm konstitutioneller Ökonomik verbindet.[248] Erst in neuerer Zeit wird gesehen, dass dies eine weitere, nicht minder radikale Konsequenz nach sich zieht, die Schlussfolgerung nämlich, den ökonomischen Ansatz von einer Aktions-Analyse auf eine Interaktions-Analyse umzustellen: auf eine Anreizanalyse sozialer Dilemmata, die einen systematischen Ansatzpunkt für Konsens hinsichtlich institutioneller Arrangements und ihrer institutionellen Reform bietet.[249] Von daher wird man Coase nicht gut zum Vorwurf machen können, dass er nicht bereits alle theoriestrategischen Implikationen des von ihm geforderten Paradigmawechsels von vornherein selbst gesehen und antizipiert hat.

Allerdings ist an dieser Stelle auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen, der das Verständnis des Transaktionskosten-Begriffs betrifft. Wird der Paradigmawechsel von der Wohlfahrtsökonomik zur Institutionenökonomik konsequent vollzogen, so verabschiedet man sich nicht nur von der Vorstellung einer gesellschaftlichen |159|Wohlfahrtsmaximierung, sondern zugleich auch von der Vorstellung, es sei wünschenswert, Transaktionskosten zu minimieren. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich die Funktionsweise einer Institution veranschaulicht, die, so Coase, in der ökonomischen Literatur noch stärker vernachlässigt und folglich noch weniger verstanden worden ist als die Institution der Firma, nämlich die Funktionsweise der Institution des Marktes (Abb. 5).[250]

Abbildung 5:

Das Marktschema

Abbildung 5 enthält eine schematische Darstellung der Anbieter (A) und Nachfrager (N), die auf einem Markt zusammentreffen. Hier lassen sich horizontale und vertikale Beziehungen – genauer: Interaktions-Beziehungen – unterscheiden. Jede dieser Beziehungen ist dadurch gekennzeichnet, dass mindestens zwei Akteure beteiligt sind und dass die beteiligten Akteure simultan gemeinsame und konfligierende Interessen aufweisen. Ein funktionierender Markt ist nun so beschaffen, dass in vertikalen Beziehungen die gemeinsamen Interessen dominieren, so dass ein wechselseitig vorteilhafter Tausch auch tatsächlich zustande kommt, während in horizontalen Beziehungen die konfligierenden Interessen dominieren, so dass Kartellhandlungen unterbunden werden, obwohl auf jeder Marktseite ein gemeinsames Interesse an einem eigenen Kartell besteht. Vor diesem Hintergrund ist nun auf vier Punkte aufmerksam zu machen.

Erstens ist es in der Tat wichtig, die Transaktionskosten für vertikale Interaktionen möglichst gering zu halten, um gesellschaftlich produktive Tauschakte zu unterstützen. Hierzu dient nicht zuletzt die staatliche Durchsetzungsgarantie privatrechtlicher Verträge.

Zweitens ist es jedoch mindestens ebenso wichtig, die Transaktionskosten für horizontale Interaktionen hinreichend hoch zu halten, um gesellschaftlich unproduktive ‚Tauschakte‘ zu Lasten Dritter in Form von Kartellen zu unterbinden. Hierzu dient nicht zuletzt das Wettbewerbsrecht sowie generell der Versuch, Märkte offen zu halten, um eine wirksame Marktabschottung auch durch potentiellen Wettbewerb zu erschweren.

Drittens ist der systematische Zusammenhang zu beachten: Höhere horizontale Transaktionskosten dienen dazu, die vertikalen Transaktionskosten zu |160|senken. Die Unterbindung von Kartellen erst macht es möglich, Wettbewerbsanreize nutzen zu können, um auch solche Gegenleistungen individuell rational werden zu lassen, die nur schwer justitiabel gemacht werden können. Zugespitzt formuliert: Die rechtsstaatliche Kontrolle und die Kontrolle durch Konkurrenten sind funktionale Komplemente in der gesellschaftlichen Herstellung von Anreizkom-patibilität.

Viertens: Auch wenn eine gezielte Erhöhung von Transaktionskosten eingesetzt wird, um letztlich Transaktionskosten zu senken, liegt die Rationalität eines funktionierenden Marktes nicht in einer Minimierung der insgesamt anfallenden Transaktionskosten, sondern in der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit der Anreizstruktur für die betroffenen Marktteilnehmer. Nicht Effizienz, sondern Konsens ist hier das entscheidende Merkmal. – Normativ gewendet, sollten Märkte so ausgestaltet werden, dass sie die gemeinsamen Regelinteressen aller Marktteilnehmer – genauer: aller Bürger – zur Geltung bringen, indem sie Konkurrenz als Instrument gesellschaftlicher Kooperation einsetzen. Es geht darum, das für die Möglichkeit demokratischer Politik unverzichtbar wichtige konsensuale Potential zu aktivieren, das in einer institutionellen, d.h. anreizgestützten, (De-)Stabilisierung (un-)produktiver Interaktionen liegt.[251]

(4) Es geht hier nicht darum, Coase von einer Position aus zu kritisieren, die ohne seine Pionierleistungen wohl kaum zu erreichen gewesen wäre. Seine Leistung besteht darin, wie nur wenige andere der Institutionenökonomik als einer Alternative zur Wohlfahrtsökonomik zum Durchbruch verholfen zu haben. Dass das Neue noch einige Reste des Alten mit sich führt, ist kein Einwand gegen das Neue, sondern allenfalls eine Herausforderung, genauer auf die Übergänge zu achten und exakt jene Unterschiede herauszuarbeiten, durch die sich das Neue vom Alten abhebt. Der in dieser Hinsicht neuralgische Punkt ist die Vorstellung gesellschaftlicher Maximierung, die in den drei bisher rekonstruierten Aufsätzen nicht aufgegeben wird.[252] Folglich sieht es zunächst so aus, als bleibe Coase gleichsam auf halber Strecke stehen, als mache er Halt im unwirtlichen Niemandsland zwischen Wohlfahrtsökonomik und Institutionenökonomik. Sein Werk wäre dann primär eine Übergangserscheinung und allenfalls unter theoriegeschichtlichen Aspekten interessant. Allerdings wäre es voreilig, einen solchen Schluss zu ziehen, bevor nicht noch ein weiterer Aufsatz rekonstruiert wird, der Aufschluss darüber geben kann, was auch heute noch von dem den Coase-Aufsätzen zugrunde liegenden Ansatz gelernt werden kann.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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