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|161|6. Der Aufsatz „How Should Economists Choose?“ (1982)

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In diesem Aufsatz führt Ronald Coase eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit der methodologischen Position von Milton Friedman, derzufolge das entscheidende Qualitätskriterium einer wissenschaftlichen Theorie in ihrer Prognosefähigkeit liegt.[253] Coase erhebt den Anspruch, mit Friedman gegen Friedman zu argumentieren – genauer: mit dem Ökonom Friedman gegen den Methodologen Friedman.[254] In der Tat wählt Coase einen dezidiert ökonomischen Zugang zum Thema: „Many economists, perhaps most, think of economics as the science of human choice, and it seems only proper that we should examine how economists themselves choose the theories they espouse.“[255] Es geht Coase also nicht um eine allgemeine Wissenschaftstheorie, sondern – spezifischer – um eine Wissenschaftstheorie von und für Ökonomen.

Insgesamt erhebt Coase drei Einwände gegen Friedmans Position. Der erste Einwand besteht in dem Hinweis, dass es nicht nur auf die prognostische, sondern auch – laut Coase: sogar vor allem – auf die heuristische Qualität einer Theorie ankommt: Die wichtigste Leistung einer wissenschaftlichen Theorie bestehe nicht in empirisch prüfbaren Voraussagen über die Realität, sondern in einer Anleitung des Denkens. Coase sieht in Theorien primär eine Strukturierungshilfe für intellektuelle Orientierung.[256] Der zweite Einwand betrifft Friedmans Aussage, dass es vorrangig auf den Prognoseerfolg und deshalb allenfalls nachrangig auf die Realitätsnähe der Annahmen ankomme: Nicht der Theorie-Input, sondern der Theorie-Output entscheide über die Qualität einer Theorie. Gegen diese Auffassung macht Coase folgende Überlegung geltend: „Testable predictions are not all that matters. And realism in assumptions is needed if our theories are ever to help us understand why the system works in the way it does. Realism in assumptions forces us to analyze the world that exists, not some imaginary world that does not.“[257] Es ist also weniger eine etwaige Realitätsnähe der Annahmen per se, die Coase für wichtig hält, als vielmehr eine gewisse Realitätsnähe zur theoretischen Verankerung relevanter Problemstellungen – genauer: zur Verankerung der Theorie gegen eine leicht zur Irrelevanz neigende Autopoiesis freischwebender Intelligenz. Coase möchte offenbar verhindern, dass von methodologischer Seite der Tendenz Vorschub geleistet wird, die ökonomische Theoriebildung auf imaginäre Modellwelten zu spezialisieren und dadurch von gesellschaftlich relevanten Forschungsproblemen abzukoppeln.

Der dritte Einwand, und erst dieser ist grundlegend, beruht auf der Beobachtung, dass Friedmans Methodologie selbst nicht eine positive, sondern eine normative |162|Theorie formuliert.[258] Diese Beobachtung nimmt Coase nun zum Anlass, die Fragestellung zu ändern. Er will nicht untersuchen, wie sich Ökonomen bei der Auswahl konkurrierender Ansätze verhalten sollten, sondern wie sie sich bei einer solchen Theoriewahl tatsächlich verhalten. Zu diesem Zweck analysiert er drei spektakuläre Theorieerfolge aus den 1930er Jahren: Anhand der Rezeption der Arbeiten von F.A. von Hayek, J.M. Keynes sowie E. Chamberlin und J. Robinson gelangt Coase zu dem Schluss, dass der Prognoseerfolg ihrer Theorien für den Rezeptionserfolg eine allenfalls untergeordnete Rolle gespielt hat, so dass sich die ökonomische Profession bei ihrer Theoriewahl mehrfach deutlich anders verhalten hat, als es die Friedmansche Methodologie postuliert.[259] Erst vor diesem Hintergrund formuliert Coase seinen dritten Einwand, den Einwand nämlich, dass eine Befolgung der Friedmanschen Methodologie den Wissenschaftsprozess blockieren würde: „An insistence that the choice of theories be made in accordance with Friedman’s criteria would paralyze scientific activity.“[260]

Zur Erläuterung dieses Einwands erörtert Coase die Rolle, die die empirische Forschung für die ökonomische Theoriebildung spielen kann. Zum einen weist er die Vorstellung zurück, das Sammeln und Analysieren von Daten gehe der Theoriebildung – gleichsam induktiv – voran. Unter Verweis auf seine Erfahrungen als Herausgeber des „Journal of Law and Economics“ schreibt er über die dort veröffentlichten empirischen Studien: „I doubt whether such studies have often led to a change in the views of the authors. My impression is that these quantitative studies are almost invariably guided by a theory and that they may most aptly be described as explorations with the aid of a theory. In almost all cases, the theory exists before the statistical investigation is made and is not derived from the investigation.“[261] Zum anderen macht er darauf aufmerksam, dass eine Umsetzung der Friedmanschen Methodologie auf gewaltige Anreizprobleme stoßen würde:

„There is little profit in undertaking an investigation that is expected to show that a theory in which no one believes yields incorrect predictions, and I doubt whether any editor of a professional journal could be found who would be willing to publish a paper giving the results of such an investigation. If all economists followed Friedman’s principles in choosing theories, no economist could be found who believed in a theory until it had been tested, which would have the paradoxical result that no tests would be carried out. This is what I meant when I said that acceptance of Friedman’s methodology would result in the paralysis of scientific activity. Work could certainly continue, but no new theories would emerge.“[262]

Vor diesem Hintergrund zieht Coase folgendes Fazit: Er widerspricht der Vorstellung, empirische Studien seien die Entscheidungsinstanz für theoretischen Erfolg. Trotzdem hält er sie für wichtig, und zwar deshalb, weil sie bei der Entscheidung |163|für oder gegen Theorien eine bestimmte Rolle spielen können. Hierbei legt Coase großen Wert auf die Feststellung, dass die Theoriewahl von Wissenschaftlern getroffen wird und dass der Wissenschaftsprozess als ein sozialer Prozess aufzufassen ist. Demzufolge müsse die Rolle empirischer Forschung von ihrer Funktion in diesem sozialen Prozess her bestimmt werden. Konkret heißt dies, so Coase, dass empirische Studien eine Marketingfunktion auf dem Markt wissenschaftlicher Ideen übernehmen können:

„Quantitative studies … may give someone who believes in a theory a better idea of what that theory implies. But such studies … also play … another and very important role. The choice economists face is a choice between competing theories. These studies … perform a function similar to that of advertising and other promotional activities in the normal products market. They do not aim simply at enlarging the understanding of those who believe in the theory but also at attracting those who do not believe in it and at preventing the defection of existing believers. … What we are dealing with is a competitive process in which purveyors of the various theories attempt to sell their wares.“[263]

Coase ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass diese provokante Analogisierung von Wissenschaftsprozess und Marktprozess ein wichtiges (Folge-)Problem nach sich zieht: Wie kann die Wissenschaftlichkeit des Wissenschaftsprozesses konstituiert werden, wenn sie nicht durch das Ethos der einzelnen Wissenschaftler garantiert ist? – Diese Frage stellt sich, so Coase, besonders dringlich für die ökonomische Wissenschaft, die aufgrund ihrer Politiknähe stärker als andere Disziplinen der Gefahr ausgesetzt ist, dass Theoriebildung, Theorierezeption und Theorieakzeptanz von anderen als nur rein wissenschaftlichen Motiven bestimmt werden.

Auf die so gestellte Frage antwortet Coase als Ökonom. Seine Antwort besagt, dass es im Wissenschaftsprozess – analog zum Markt – weniger auf die Handlungsmotive als vielmehr auf die Handlungsanreize ankomme und dass diese – analog zum Markt – institutionell: mit Hilfe wettbewerblicher Anreize, so gesetzt werden können – und tatsächlich auch weitgehend so gesetzt sind –, dass sanktionsbewehrte Reputationseffekte der Gefahr intellektueller Korruption hinreichend vorbeugen. Freilich verschweigt Coase nicht, dass eine solche Organisation des Wissenschaftsprozesses auch aus ökonomischer Sicht Chancen und Risiken in sich birgt: Auf der einen Seite sei mit Reputationseffekten innerhalb der Profession die Chance verbunden, sich gegen wissenschaftsfremde Einflüsse – insbesondere gegen tages- und parteipolitischen Opportunismus – wirksam abzuschirmen. Auf der anderen Seite bringe gerade dies die Gefahr mit sich, dass sich eine Profession, wie ein Kartell, gegen unbequeme Neuerungen abschotte. Zur Illustration dieses Problems – und der institutionellen Optionen zur Lösung dieses Problems – verweist Coase darauf, dass die neue Disziplin „Law and Economics“ nicht an ökonomischen Fakultäten, sondern an juristischen Fakultäten beheimatet ist und dass die ursprünglichen Akzeptanzschwierigkeiten in der ökonomischen Profession nur aufgrund wettbewerblicher Strukturen des Universitätssystems – einschließlich einer an finanzielle Verantwortung gekoppelten Entscheidungsautonomie einzelner Departments, Forschungsinstitute und Stiftungen – überwunden werden konnten.

|164|Diese Überlegungen münden schließlich in die eigentliche These des Aufsatzes. Diese sei hier im vollen Wortlaut wiedergegeben, weil sie wie kaum ein anderes Zitat deutlich werden lässt, dass Coase auch hier seinem konstruktivistischen Ansatz treu bleibt, dem Ansatz nämlich, mit Hilfe ökonomischer Theorie – hier: mit Hilfe der ökonomischen Unterscheidung zwischen individuellen Handlungen und institutionellen Handlungsanreizen – eine eingefahrene Problemstellung aufzusprengen und so eine neue, fruchtbare Frage aufzuwerfen, verstanden als Einladung, die Welt auch einmal aus der Perspektive einer komparativen Institutionenökonomik zu betrachten:

„I started … by asking, How should economists choose? I have ended by discussing the organization and finance of academic activities. I do not think that I have lost my way. Instead of confining ourselves to a discussion of the question of how economists ought to choose between theories, developing criteria, and relying on exhortation or perhaps regulation to induce them to use these criteria in making their choices, we should investigate the effect of alternative institutional arrangements for academic studies on the theories that are put into circulation and on the choices that are made. From these investigations we may hope to discover what arrangements governing the competition between theories are most likely to lead economists to better choices. Paradoxically, the approach to the methodological problem in economics that is likely to be most useful is to transform it into an economic problem.“[264]

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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