Читать книгу Einmal morden ist nicht genug - Irene Scharenberg - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3
Pielkötter saß Doktor Salzbach im Sprechzimmer der Norderneyer Kur- und Rehabilitationsklinik am Deich mit bleichem Gesicht gegenüber. Die ruhige bedächtige Art seines Arztes mochte normalerweise wohltuend wirken, aber im Moment zerrte sie einfach nur an Pielkötters Nerven. Schließlich ging es um seine Zukunft. Warum sah Salzbach ihn einfach nur durchdringend an und spannte ihn weiter auf die Folter? Er wollte endlich wissen, ob er bald wieder seinen Dienst antreten konnte. Die Beweglichkeit seines Schultergelenks und des kranken Arms hatte in den letzten Tagen enorm zugenommen, aber würde das reichen?
»Wie mir zu Ohren gekommen ist, gehören Sie in unserer Klinik immer noch nicht zu den Musterpatienten«, begann der Arzt endlich zu sprechen.
Pielkötter unterdrückte mühsam ein Seufzen. Salzbach hatte damit durchaus Recht, aber darum ging es doch jetzt nicht. Für den Fall Immenhoff hatte er schließlich keine Therapiestunden versäumt.
»Unverbesserlich, würde ich sagen, einfach unverbesserlich« Salzbach deutete kurz ein Lächeln an, dann wurde er wieder sehr ernst. »Allerdings haben Sie gerade in der letzten Woche große Fortschritte gemacht. Deshalb habe ich keine Handhabe mehr, Sie noch länger in der Klinik zu behalten, auch wenn Ihnen das sicher guttun würde. Wie ich Ihnen schon beim letzten Gespräch unter Vorbehalt mitgeteilt habe, werden Sie morgen entlassen.«
Pielkötter freute sich natürlich auf Zuhause, erleichtert fühlte er sich durch die Ankündigung allerdings noch nicht. Schließlich musste die Entlassung nicht unbedingt heißen, dass er wieder dienstfähig sein würde. »Und meine Arbeit?«, fragte er mit einem dicken Kloß in der Stimme.
»Keine Sorge, ich weiß, wie wichtig es Ihnen ist, so bald wie möglich wieder Ihren Dienst aufzunehmen.«
Während der Arzt redete, schoss Pielkötter Adrenalin in die Adern, als müsse er sich auf einen Kampf vorbereiten.
»Nun, ich selbst kann nur Vorschläge machen«, fuhr Salzbach fort. »Ihr Arzt in Duisburg wird dann entscheiden, ob er sie umsetzen möchte oder nicht.«
»Was also schlagen Sie vor?«, brachte Pielkötter mühsam heraus und versuchte, das leichte Zittern seiner Hände zu verbergen, indem er sie gegen die Oberschenkel presste.
»Hamburger Modell. Das heißt stufenweise beziehungsweise gestaffelte Wiederaufnahme Ihres Dienstes. Damit werden Sie kontinuierlich an die Belastungen Ihres Arbeitsplatzes herangeführt. Der behandelnde Arzt legt dabei auch die möglichen Tätigkeiten fest.« Salzbach sah Pielkötter durchdringend an. »Dass Verbrecherjagd für Sie vorerst entfällt, versteht sich von selbst. Ich denke, Sie werden in der ersten Zeit vorwiegend an Ihrem Schreibtisch sitzen und die Kollegen oder Mitarbeiter beraten. Aber wie ich bereits erwähnte, entscheidet Ihr Arzt in Duisburg. Er muss sich nicht zwingend an meine Vorschläge halten.« Salzbach erhob sich und Pielkötter tat es ihm gleich. Er reichte Pielkötter zum Abschied die Hand und sah ihm direkt in die Augen. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, und ich bin zuversichtlich, dass Sie wieder ganz hergestellt werden können. Allerdings nur, wenn Sie auch zu Hause weiterhin regelmäßig Ihre Übungen machen.«
Das hörte sich doch gar nicht so übel an. Pielkötter lächelte zum ersten Mal seit langer Zeit.
Aufgewühlt lief Pielkötter den Gang entlang, der zu seinem Zimmer führte. Noch war nicht alles entschieden, aber jetzt kam er erst einmal nach Hause. Vor allem freute er sich auf das Wiedersehen mit seinem Sohn und mit seiner Frau Marianne. Es hatte ihn sehr bedrückt, sie während ihres Krankenhausaufenthaltes und in den Tagen danach nicht unterstützen zu können. Zum Glück hatte sich das entfernte Gewebe als harmlose Zyste erwiesen und nach eigenen Aussagen schien es ihr wieder ganz gut zu gehen. Nur das Tragen schwerer Sachen und körperliche Anstrengung waren ihr noch untersagt.
Pielkötter beschleunigte seinen Schritt. Auf einmal konnte er es kaum noch abwarten, mit ihr zu telefonieren. Nachdem er die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen hatte, setzte er sich aufs Bett und zog sein Smartphone aus der Hosentasche.
»Ich bin’s, Willibald.«
»Hast du inzwischen mit diesem Doktor Salzbach gesprochen?«, fragte Marianne mit einem ängstlichen Unterton, den sie nicht vor ihm verbergen konnte.
»Ja, und stell dir vor, ich werde morgen entlassen. Mit Wiedereingliederung und einer gewissen Chance auf Erfolg.«
»Ich freu mich so für dich. Und bin natürlich froh, dich endlich wiederzusehen. Hätte die Reha länger gedauert, wäre ich noch einmal zu Besuch nach Norderney gekommen, selbst wenn mein Arzt mir davon abgeraten hätte.«
Ihre Worte gefielen ihm, auch wenn sie ihn sehr nachdenklich stimmten, denn sogleich wurde ihm bewusst, was sie nun endlich klären müssten. Sie lebten immer noch getrennt. Vor seiner Verletzung hatte er den Zustand akzeptiert, wenn auch nur äußerst ungern, und dann war er zuerst ins Krankenhaus, dann in die Reha gekommen. Was für eine Lebensform aber schwebte Marianne nach seiner Rückkehr vor? Er hatte dieses Thema erfolgreich verdrängt. Der ungewisse Ausgang seiner Rehamaßnahme hatte im Vordergrund gestanden. Daher hatten sie bisher darüber nicht miteinander gesprochen. Vielleicht war es besser, damit zu warten, bis er zurück wäre?
»Du, Marianne, könntest du dir vorstellen, wieder in unser Haus zu ziehen, wenn ich wieder in Duisburg bin?« So, nun war es doch schon heraus. Was würde sie sagen? Er wartete, fühlte sich, als sei er in einem dienstlichen Einsatz mit ungewissem Ausgang. Warum antwortete Marianne nicht? An seiner Frage war ja nichts missverständlich. Hatte sie das denn bisher überhaupt nicht in Erwägung gezogen? Bei diesem Gedanken krampften sich seine Magenmuskeln leicht zusammen.
Marianne räusperte sich. »Also, das geht mir jetzt etwas schnell. Ich kann nicht einfach so von heute auf morgen meine Wohnung aufgeben. Nachher klappt es mit unserem Zusammenleben nicht und dann ...«
Pielkötter fühlte sich wie nach einem Faustschlag, obwohl er eine solche Antwort nicht ausgeschlossen, ja befürchtet hatte. »Aber wir haben doch schon unser halbes Leben zusammengelebt.«
»Willibald, wir haben uns beide verändert«, erklärte sie seufzend.
»Nach meiner OP hast du versprochen, zu mir zu halten«, rutschte ihm raus, obwohl er davon nicht hatte anfangen wollen.
»Das will ich immer noch. Nur mit dem Zusammenziehen sollten wir vorsichtig sein.«
»Verstehe«, presste er hervor. »Lass uns ein anderes Mal darüber reden. Ich muss jetzt los. Sonst verpasse ich meine Therapie. Bis dann.«
Nachdem er aufgelegt hatte, stapfte er eine Weile wütend auf sich selbst im Zimmer auf und ab. Schließlich lief er zur Balkontür, öffnete sie und starrte hinaus. Er hatte keinen Termin. Warum hatte er Marianne angelogen? Er verabscheute Lügen. Ihm war es jedoch unmöglich erschienen, dieses Gespräch weiterzuführen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Allerdings hatte Marianne vielleicht sogar ein wenig Recht. Heutzutage gab es viele Paare, die in getrennten Wohnungen lebten. Egal, ihre Reaktion saß irgendwo in seinem Körper wie ein Stachel.