Читать книгу Königin im Schatten Gesamtausgabe - Iris Hennemann - Страница 23
Kapitel 14
ОглавлениеDiesen Tag hatte Bertha gefürchtet, und nun war er da: Heinrich war nach Goslar zurückgekehrt und würde sie sicherlich bald aufsuchen. Ein Bote hatte ihn bereits über die Geburt seines Kindes unterrichtet. Würde er zornig sein, da sie ihm nur eine Tochter geschenkt hatte? Bereits nach kurzer Zeit hatte Bertha eine Amme kommen lassen und abgestillt, damit sie schnell wieder ein Kind empfangen konnte. Sie war grenzenlos enttäuscht, dass sie keinen Thronfolger geboren hatte, und fühlte sich, als hätte sie versagt. Und … sie konnte sich nicht dagegen wehren, sie war eifersüchtig, dass Arends Weib einen Jungen zur Welt gebracht hatte.
Bertha befand sich nicht mehr im Wochenbett, hatte sich geweigert, bis zur anschließenden Messfeier so lange nutzlos herumzuliegen. Schon hörte sie Schritte, die die Stufen emporhasteten. Sie stand neben der vergoldeten Wiege, in der ihre hübsche Tochter schlief. Die Königin trug ein waidblaues Kleid, das mit Goldfäden und Perlen bestickt war. Da sie sich in ihrem Gemach befand, trug sie keinen Schleier, und das lange Haar wallte ihr golden über den Rücken. Sie zitterte vor Furcht, und ihre Hände spielten nervös mit ihrem schweren Armreif. Ihr sorgenvoller Blick glitt zur Wiege. Hoffentlich tat Heinrich dem Säugling nichts zuleide.
Auch Ada und Imma standen verunsichert im Raum, lächelten ihr zwar aufmunternd zu, konnten aber ihre bekümmerten Mienen nicht verbergen.
Die Tür flog auf, und die Frauen zuckten allesamt zusammen. Bertha stockte der Atem. Der König war noch staubig von der Reise, die dunkelblonden Haare wirr vom Wind, der Bart ein wenig wild. Er löste die Spange seines Reisemantels und warf diesen auf eine Truhe. „Raus hier!“, schnauzte er die Dienerinnen an und schritt energisch auf sein Weib zu. „Wo ist sie?“
Bertha war wegen seiner Reaktion besorgt und machte sich zum Sprung bereit, um ihn notfalls vom Kind fortzureißen.
Heinrichs Blick glitt an ihr vorbei zur Wiege. Vorsichtig spähte er hinein. Da lag das Mädchen, zerbrechlich und selig schlummernd.
Sie stutzte. War das Rührung in seinem Gesicht? Nie zuvor hatte sie diesen Ausdruck an ihm gesehen. Da blitzte echte Wärme hervor, die tief aus seinem verbiesterten Inneren hervorbrach. Sein Mund verzog sich zu einem zarten Lächeln.
„Mein Kind.“ Er berührte mit seinem Zeigefinger vorsichtig das Ärmchen seiner Tochter. Diese öffnete ihre winzige Hand und umklammerte seinen Finger. Heinrich musste schlucken, und ein Sturm der Gefühle huschte über sein Gesicht: Stolz, Glück, sogar Liebe, aber auch tiefer Schmerz. Er beugte sich ein wenig vor. „Wenn ich es verhindern kann, sollst du kein Spielball der Mächtigen werden – auch wenn du nur ein Mädchen bist. Du bist meine Tochter! Blut von meinem Blute.“ Dann wurde er sich Berthas Anwesenheit bewusst. Er entzog dem Kind vorsichtig seinen Finger, atmete tief durch und versteckte diese Flut verletzlicher Emotionen wieder hinter einer Tür aus dicker Eiche. „Ich hatte mir eigentlich einen Erben erhofft. Nun gut, meinem Vater wurde dieses Glück auch nicht sofort zuteil, da die ersten vier Kinder allesamt Töchter waren. Und als der Druck auf meine Mutter enorm war und die Furcht um einen Nachfolger groß, da wurde schließlich ich geboren. Ich hoffe, dass es bei dir ein wenig schneller geht. Du hast eine Amme für das Kind?“
„Ja.“
„Gut so.“ Er angelte aus seiner Gürteltasche eine prachtvolle juwelenbesetzte Goldkette, ging um sie herum, schob ihre Haare fort und legte ihr das Geschmeide um.
„Arend hat einen Sohn, ja?“, ließ er mit leiser Stimme verlauten.
Sie bedauerte, sein Gesicht nicht sehen zu können. Unnötig lange hantierte er am Verschluss herum.
„Ja, jedoch niederen Standes. Seine Mutter ist schließlich nur ein Bauernmädchen.“ Bertha konnte nicht verbergen, welch Stachel dieses Kind für sie bedeutete.
„Aber ein freies Bauernmädchen. Wenn sein Sohn später einmal so ein guter Kämpfer wie sein Vater wird, kann er sich einen Platz erstreiten und zu Ruhm gelangen.“
Bertha wusste nicht, von welchem Vater er sprach. Dies schmerzte sie sehr. Endlich hatte Heinrich es geschafft, die Kette zu schließen. Sie war schwer, fast eine unerträgliche Last. „Ich danke dir. Du bist überaus großzügig.“ Ihre Hand legte sich auf das kalte Metall.
„Ich weiß.“ Abermals betrachtete er das Kind. „Sie soll auf den Namen Adelheid getauft werden.“
„Ein schöner Name.“ Bertha stutzte. Wollte er sie nach seiner Schwester, die er in Quedlinburg so niederträchtig behandelt hatte, benennen? Gereute es ihn? Noch immer berührten Berthas Finger den kostbaren Schmuck. „Ich nehme an, die Verhandlung in Mainz war für dich erfolgreich?“
Schwungvoll wandte er sich zu ihr um und lehnte sich gegen den schweren Tisch. Er grinste zufrieden. „Oh ja, sehr. Otto wurde die Anklage bekannt gemacht. Natürlich hat er seine Unschuld mehrfach und inbrünstig beteuert, doch weder die Fürsten noch ich haben ihm Glauben geschenkt. Es waren aber auch nicht alle Fürsten zugegen. Ich habe zuvor einige unsichere Gesellen, die Erzbischöfe Hermann von Bamberg, Siegfried von Mainz und auch Anno nach Rom geschickt, damit sie dem Papst ein Schreiben von mir überbringen. Sie sollen sich zudem nach dieser Scheidungsgeschichte um Einvernehmen mit dem Papst bemühen. Ich brauche in Rom nicht auch noch einen Gegner, sondern geglättete Wogen.“
Bertha verstand, er wollte sich vollends auf die Sachsen konzentrieren und brauchte deshalb keine zweite Front, die seine Kräfte aufrieb. Sicherlich hatte er in Mainz zahlreiche Fürsten bestochen, damit sie sich über den Northeimer empörten.
„Und wie geht es nun weiter mit Otto? Immerhin ist er Herzog.“
Nachdenklich fuhr Heinrich mit dem Daumen über seinen Bart. Seinen Mund umspielte ein verschwörerisches Lächeln. „Ich habe seinen angebotenen Reinigungseid abgelehnt. Er soll am 1. August nach Goslar kommen, und hier wird ihm die Gelegenheit zu einem Zweikampf gegeben. Dann kann er seine Unschuld beweisen.“
„Ein Zweikampf?“ Bertha sackte auf eine Bank nieder. Dass Heinrich seine Fürsten zu einem solch irrsinnigen Beschluss bewegt hatte, würde ihn sicherlich einiges an Geld und zahlreiche Zugeständnisse gekostet haben. „Otto von Northeim ist der Herzog von Bayern, ein mächtiger, angesehener, edler Mann. Er wird sich niemals selbst demütigen und gegen Egeno I. von Konradsburg antreten. Dieser ist eine zwielichtige Gestalt und –wie nicht nur wir beide wissen – von zweifelhaftem Ruf. Nein, Otto wird sich zu diesem Zweikampf niemals herabwürdigen.“
Der König zog mit gespieltem Bedauern eine Augenbraue empor. „Und wenn er es doch tut … Egeno ist trotz seines Alters ein hervorragender, überaus erfahrener Kämpfer. Ich bin mir sicher, dass Otto unterlegen sein wird. Sollte er sich einen Ersatzkämpfer suchen, was ihm durchaus zusteht, so werde ich Arend auf ihn hetzen.“
„Arend ist Sachse. Er wird sich nicht als Ersatzkämpfer für den älteren Egeno zur Verfügung stellen“, preschte Bertha vor.
„Nun, jeder hat einen wunden Punkt. Arends Punkt könnte vielleicht sein Sohn sein. Wenn ich ihm zusage, diesen später in einen besseren Stand zu erheben, wer weiß …“
Oh, dies würde zweifellos auch Heinrich gefallen, wenn sein eventueller Bastard aufrückte.
Als Adelheid unruhig wurde und mit ihren Fäustchen wedelte, stieß er sich von der Tischkante ab und ging zu ihr. Erneut hielt er diese kleine Hand, kniete sich neben die Wiege und schaute gerührt hinein.
Irgendwie tat Bertha der Herzog wegen dieser Intrige leid, und sie fragte sich, ob Egeno I. ebenso widerwärtig wie dessen Enkel war. Konnte es in dieser Welt nicht möglich sein, seine Macht zu behaupten und zurückzugewinnen, ohne seine Seele dafür zu verkaufen? Doch als Lamm konnte man nicht gegen Wölfe bestehen. Man konnte Raubtiere nur zurücktreiben, wenn man die schärferen Zähne hatte. Also durfte sie kein Lamm sein und musste stets achtsam sein, wenn sie ein mächtiges Königshaus wollte. Sie war jetzt schon vorsichtig und sorgte dafür, dass weder sie noch Heinrich etwas zu sich nahm, was nicht zuvor ein Vorkoster genossen hatte.
Dieser Vorfall mit Otto bedeutete eine ungeheure Provokation, die vielleicht zum Krieg führte. Genau das wollte Heinrich erreichen. Er wollte die Königslande in Sachsen zurückhaben und noch viele weitere Güter dazugewinnen.
Und sie? Sie war zwiespältig. Die Mittel erschienen ihr ungerecht, hinterhältig und hart. Ihr taten die bereits so überaus geschröpften Sachsen leid, aber das Reich musste gestärkt werden, damit nicht die Ungarn oder andere Völker kriegerisch einfielen. Es ging um so viel mehr. Wenn man sah, dass einem ein gewaltiger Baum auf das Haus stürzen könnte, musste dieser mit der Axt gefällt werden.
Heinrich schaute über seine Schulter hinweg zu ihr. „Ich habe dich falsch eingeschätzt, Bertha. Dies passiert mir nicht oft, weil ich Menschen genau beobachte und deren wahre Gesinnung zu erkennen versuche. Doch die deinige hat mich eigentlich gar nicht interessiert. Seit meiner Kindheit warst du an meiner Seite, und ich habe dich nur als etwas Aufgezwungenes empfunden, das ich abschütteln wollte.“ Er löste sich von Adelheids Händchen und begab sich zu seinem Weib. „Ich habe verstanden, dass du gegen mich gekämpft hast, weil du deine Stellung behaupten wolltest. Seit ich dich nun als mein Weib akzeptiert habe, bist du – soweit ich es mitbekommen habe – nie wieder gegen mich tätig geworden. Du wirst unzweifelhaft bemerkt haben, dass ich dich in mein Vertrauen gezogen habe. Selbst zu Adalbert habe ich nie so frei gesprochen wie zu dir. Ich habe das Gefühl, dass du viele meiner Gedanken ohnehin kennst. In all den Jahren hast du mich zu ergründen versucht. Niemals hast du Anstrengungen unternommen, dir meine Gunst zu erkaufen. Nein, verprügelt und geschlagen hast du mich …“ In seinen Augen leuchtete Zuneigung. „Ich brauche eine Frau, die zu mir steht und mich unterstützt. Keiner der edlen Herren ist vorrangig an einer Festigung des Reiches interessiert, niemand schaut über die Kante seines eigenen Tisches hinweg. Jeder sieht nur zu, dass er so viel wie möglich zusammenraffen oder wie er an meinem Thron möglichst lange und unbemerkt sägen kann, ehe ich stürze.“ Er setzte sich an den Tisch und beschaute sich Berthas goldglitzernde Borte, die noch nicht fertig gewebt war, strich mit den Fingern darüber. Er zögerte zu sprechen. „Ich habe die Erzbischöfe Anno, Siegfried und Hermann auch aus dem Grunde nach Rom gesandt, um sie für eine Weile aus dem Reich zu entfernen und somit ihren Einfluss zu schwächen und ihre Unternehmungen zu lähmen. Anno hat dieses durchschaut und nach Ausreden gesucht, aber letzten Endes nicht gewagt, sich mir offen zu widersetzen. Noch nicht. Ich weiß von Briefen, die zwischen Anno, Siegfried, dem Erzbischof Werner von Magdeburg und dem Bischof Burchard II. von Halberstadt hin- und hergehen. Die genauen Inhalte sind mir nicht bekannt, aber Anno wurde wohl gebeten zu vermitteln, da sie sich gegen mich zusammenschließen wollen. Immerhin ist Anno Werners Bruder, und Burchard ist sein Neffe. Burchard ist gefährlich und rücksichtslos. Das hat er beim Feldzug gegen die Liutizen bewiesen, als er ein bedeutendes Heiligtum dieser Heiden vernichtet hat. Anschließend ist er mit dem heiligen Pferd, das sich dort befunden hat, die Heiden verhöhnend, davongeritten.“ Er seufzte. „Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass Annos Verwandte in solche Posten erhoben werden. Als Kind war ich oft zu unbedarft und konnte die Finten der Fürsten nicht durchschauen. Nun liegt vieles im Argen … zu viel, und ich weiß nicht, wie ich alles wieder richten soll. Allerdings habe ich vorerst Annos und Burchards Spielchen unterbunden.“
„Wäre es nicht besser gewesen, nur Anno zu schicken?“
„Ich habe erfahren, dass Siegfried mit sich, der Welt, mit mir, seinem Titel und überhaupt mit allem seit seiner Rückkehr aus Palästina hadert. Er will eigentlich kein Erzbischof mehr sein, und ich hoffe, dass er die Chance nutzt und dem Papst die Bitte vorträgt, von seinem Amt enthoben zu werden. Dann hätte sich Siegfried zumindest schon einmal selbst aus dem Spiel genommen.“
Bertha verschlug seine Gerissenheit den Atem. Und doch, musste man als Herrscher nicht so denken und handeln?
Müde rieb sich Heinrich die Augen. „Rudolf von Rheinfelden halte ich auch für gefährlich. Ich bin mir sicher, dass es ihm nach mehr Macht gelüstet. Zudem kann ich ihm nicht verzeihen, dass er damals meine Schwester Mathilde entführt hat. Und wie hat meine Mutter reagiert? Sie hat sich von ihm erpressen lassen und ihm das Herzogtum Schwaben gegeben. Mit dieser Ehe hat er sich in königliche Nähe gebracht. Bereits nach einem Jahr ist Mathilde gestorben, ich weiß noch nicht einmal, woran. Aber mir wurden Gerüchte zugetragen, dass er sie oft geschlagen hat. Und deine Schwester, seine nächste Braut, hat er auch nicht gut behandelt, wie du mir erzählt hast. Allerdings ist mir noch schleierhaft, was er damit bezwecken wollte, deiner Schwester Untreue vorzuwerfen und sich von ihr zu trennen. Ich misstraue ihm schon lange, zumal er Kontakte zu den Sachsen haben soll. Deshalb habe ich Karl, den Domprobst der Harzburg, im Februar in Konstanz als Bischof eingesetzt, damit dieser Rudolf im Auge behält. Doch leider bereiten ihm die dortigen Domherren gehörige Schwierigkeiten und weigern sich, ihn als Bischof anzuerkennen. Siegfried von Mainz hat ihm sogar die Bischofsweihe verweigert, weil er glaubt, Simonie sei im Spiel gewesen. Diese Hunde haben stattdessen Siegfried, den Domkanoniker aus Konstanz, zum Bischof gewählt. Welch Unverfrorenheit! Und dann haben sie sich auch noch gleich an den Papst mit der Bitte um Klärung gewandt.“ Er rieb sich seinen Nacken. „Ohnehin versucht momentan jeder, mir ans Bein zu pinkeln oder Unruhe zu schüren. Herzog Vratislaw II. von Böhmen hat Streit mit Herzog Boleslaw II. von Polen, und immer häufiger kommt es an den Grenzen zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Wenn das so weitergeht, muss ich mit einem Heer einschreiten. Gedroht habe ich ihnen bereits damit. Gleichwohl sind mein vordringlichstes Problem die Sachsen.“ Heinrichs Blick richtete sich direkt auf sein Weib. Er näherte sich ihr und fuhr mit seinen Fingern über ihre Wangen. Kalt und hart wie Saphire wurden seine Augen. „Ich habe dich in mein Vertrauen gezogen, doch …“, seine Hand rutschte an ihren Hals, „… wenn ich eines Tages erfahren sollte, dass du mich hintergehst oder jemandem erzählst, was ich dir sage, dann …“ Für einen Atemzug lang wurde sein Griff erschreckend fest. Seine Hand löste sich und glitt über die Kette, die er ihr geschenkt hatte. Sein Blick wurde weicher. „Aber das glaube ich nicht, sonst hätte ich dir gegenüber nie solche Worte verlauten lassen.“
Bertha war entsetzt. Ihr Herz raste, und sie konnte noch immer seine rohe Berührung spüren. Dennoch verstand sie seine Ängste. Er hatte in den vergangenen Monaten eine Wandlung durchlebt, eine, die ihn wohl selbst verblüffte, erschreckte und auch verunsicherte.
„Ich bin dein Weib, die Königin, und ich liebe dich. Ich will wie du ein starkes Königreich – auch für unsere Kinder.“
„Ja, für unsere Kinder …“, hauchte er und küsste sie. „Wenn du wieder empfangen kannst, dann sage es mir.“
* * *
Noch immer hing die Hitze des Tages zwischen den Bäumen. Wind, auch wenn es nur ein leichter Hauch gewesen wäre, hätte ein wenig Erquickung gebracht. Die Äste und Blätter waren seltsam unbewegt, geradezu starr.
Der Strahlenkranz der Abendsonne durchschnitt den Wald in goldenen Streifen und zeichnete ein verwirrendes Spiel von Licht und Schatten. Die sonnengetränkten Blätter der mächtigen Bäume glühten in der Farbe von Smaragden, kostbar und königlich. Doch weiter hinten, an den Stellen, wo das Licht verebbte und in einem tiefen Schwarz erstarb, war das Dickicht unergründlich, gar gespenstisch.
„Verdammt, was hast du dir dabei nur gedacht?“ Giselher, Arends ältester Bruder, trat hinter dem glatten, dicken Stamm einer alten Buche hervor, und Arend ließ sein Schwert zurück in die Scheide sinken.
Giselher war nicht ganz so groß wie er, hatte braunes Haar und dieselben hellen Augen wie er. Seine Miene war äußerst betrübt. „Danke, dass du gekommen bist. Ich war mir nicht ganz sicher …“
„Was habe ich mir wobei gedacht?“
Giselher strich sich mit gespreizten Fingern seine verschwitzten Haare aus der Stirn. „Du weißt es genau. Unsere Eltern kommen gar nicht darüber hinweg, dass du sie so herbe enttäuscht, ja, der Lächerlichkeit preisgegeben hast. Mutter hatte bereits eine Braut für dich ins Auge gefasst, wunderschön, äußerst begütert und von altem sächsischem Adel. Und was tust du, du Narr? Du beschmutzt die Ehre unseres Hauses, indem du die abgelegte Hure Heinrichs heiratest“, schimpfte sein Bruder. Gleichwohl war da auch ein Hauch von Befriedigung in seinen Augen. War er nicht von jeher eifersüchtig auf Arends Kampfkunst gewesen und auf die stolzen Reden, die sein Vater über seinen starken Sohn geschwungen hatte? Nun war Arend ein Versager und ein Ausgestoßener.
„Bist du nur gekommen, um mir das zu sagen? Ich weiß bereits, dass Vater mich nicht mehr seinen Sohn nennt.“ Arend wandte sich zum Gehen.
Sein Bruder hielt ihn an der Schulter zurück. „Warte!“
Arend schüttelte die Berührung energisch ab und hakte die Daumen in seinen Waffengürtel. „Sprich!“
Giselher scharte nachdenklich mit dem Fuß im sich zersetzenden Laub des vergangenen Herbstes. „Vater würde dich wieder in die Familie aufnehmen, wenn du an Ottos statt gegen Egeno I. kämpfen würdest.“
Arend presste die Lippen zusammen und fuhr mit den Fingern die Furchen im Stamm entlang, die er und sein Bruder diesem Waldriesen einst beim Herumstreifen beigebracht hatten. Dieses war zu einer anderen Zeit gewesen, in einem anderen Leben.
„Nun, was sagst du?“
„Ich kann nicht.“
„Du kannst nicht?“ Giselhers Augenbrauen zuckten überrascht empor, er schien nicht mit dieser Antwort gerechnet zu haben. „Was heißt: Du kannst nicht?“ Er schnaufte zornig. „Es ist jetzt an der Zeit, Stellung zu beziehen. Heinrich sind unsere Versammlungen nicht entgangen. Er will Otto, die bedeutendste Kraft hinter unserem Aufstand, aus dem Weg schaffen. Wir haben harte Überzeugungsarbeit dafür bei den Adligen leisten müssen, und unsere Pläne gehen nur schleppend voran, weil sie fürchten, bei einer Niederlage ihre Güter zu verlieren, anstatt Land hinzuzugewinnen. Wenn Otto stirbt, sterben die Pläne mit ihm. Du kannst dich jetzt nicht mehr hinter deinem Eid und deiner bescheuerten Ehre verkriechen. Erweise dich unserer Familie würdig, als stolzer Sachse, der diesem verdammten Franken nicht in den Arsch kriecht!“
Arend schnellte auf ihn zu und umfasste den Stoff von Giselhers verschwitztem Hemd, drehte es in seiner Faust. „Wenn du nicht mein Bruder wärest, dann …“ Er ließ ihn los und trat zurück.
„Komm zur Besinnung!“ Giselher ordnete mit zornrotem Gesicht seine Kleidung. „Schließ dich uns an, du verdammter Tor!“
Arend hob eine wurmstichige, hohle Buchecker auf und wog sie in seiner Hand. „Heinrich hat bereits von mir verlangt, dass ich an Egenos statt kämpfe, wenn sich Otto einen Ersatzkämpfer sucht.“
Entsetzt trat Giselher einen Schritt zurück. Schlagartig wurde er blass, doch daraufhin schoss die Farbe in seine Wangen zurück. „Willst du das etwa tun?“
Arend ging näher an ihn heran. „Ihr habt mich an diesen verfluchten Königshof gesandt, um eure Pläne zu schützen. Es war absehbar, dass mich das permanent in schwierige Situationen bringt. Ich habe vor Gott einen Eid geschworen. Ich kann ihn nicht brechen!“
„Das heißt, du kämpfst gegen Otto? Dann ist er tot, und alles ist verloren.“
„Ich halte mich von diesem Zweikampf fern. Der König kann mich nicht zwingen. Vielleicht sollte Otto ohnehin nicht erscheinen.“
„Was willst du damit sagen? Weißt du etwas?“
„Ich? Nein. Aber spricht Heinrichs Charakter nicht für sich?“
Giselher betrachtete ihn stumm. Die arge Enttäuschung lag wie ein dunkler Schatten in seinem Gesicht. „Ich schäme mich, dein Bruder zu sein. Du bist feige und ein Verräter sowohl an deiner Familie als auch an deinem Volk. Eines Tages werden sich unsere Klingen kreuzen. Und ich hoffe, dass ich es sein werde, der dich aufspießt. Doch dann habe ich keinen Bruder getötet, sondern nur einen räudigen Hund erschlagen … nur einen verdammten Köter.“ Er wandte sich mit hängenden Schultern ab. „Ich kenne dich nicht. Du bist irgendein Waldgeist, aber nicht mein Bruder!“ Betrübt ging er davon, und das Laub raschelte unter seinen Füßen.
Arend schloss die Augen, lauschte, wie sich Giselher entfernte. Sein Herz war ein schwerer Felsen in seiner Brust, und das Atmen fiel ihm schwer. Er taumelte ein wenig und lehnte sich gegen die Buche, die die eingeritzten Male ihrer Kindheit trug. Er konnte es seiner Familie nicht verdenken, dass sie ihn für einen Verräter hielten. Trotzdem war er nicht bereit, seinen Schwur zu brechen. Es gab so viele verdammte Eidbrecher. Wäre es nicht besser um die Menschheit bestellt, wenn jedermann sein Wort hielte? Dann würde Vertrauen herrschen, und es gäbe nicht überall diese üblen Ränkespiele, die die Welt zu einem undurchdringlichen Morast verkommen ließen.
Heinrich war ebenfalls ärgerlich auf ihn gewesen, da Arend ihm eine Absage erteilt hatte. Er, der König, war höchstpersönlich in sein Haus gekommen, hatte die Teilnahme am Zweikampf von Arend gefordert und nebenbei den Sohn betrachtet, hatte wohl seine eigenen, königlichen Spuren im Gesicht des Kindes gesucht.