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Kapitel 15

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Goslar, 1. August 1070

Heinrich ging im Sommersaal der Pfalz vor den Rundbogenfenstern auf und ab, blieb so manches Mal stehen, schaute hinaus an den erhabenen Gebäuden des Stiftes vorbei zu den angrenzenden bewaldeten Hügeln. Er erwartete die Ankunft von Otto.

Mit ihm in diesem Saal befanden sich seine Berater, seine Hofkapelle, einige Adlige, der Leibwächter Benno und auch Arend. Egeno I. war nicht anwesend. Er war unten auf dem Kampfplatz, bereitete sich mit Kuno auf das Zusammentreffen vor.

Es herrschte eine angespannte Stimmung, nur vereinzelt wurden leise Gespräche geführt.

Der Sommerwind hauchte seinen heißen Atem durch die unverglasten Fenster in den Saal hinein. Es war kein Wetter für einen Kampf. Jede Blume, jedes Unkraut auf dem Pfalzgelände ließ nach Wasser lechzend das Köpfchen hängen.

Arend lehnte an der Teilungssäule eines Fensters und betete, dass sich Otto nicht blicken ließe. Er hatte ein ungutes Gefühl, da der König die Andeutung eines arglistigen Lächelns auf den Lippen trug. Vermutlich würde Heinrich den Herzog nicht ziehen lassen, gleichgültig, ob er nun als Sieger aus dem Kampf hervorgehen sollte oder nicht.

Und dann erschien ein Reiter mit Ottos wehendem Banner auf dem Pfalzgelände. Ein Bote. Eine Wache sprach mit ihm, schaute hinauf zum König, und dieser nickte. Bald darauf betrat der Bote den prächtigen Sommersaal.

Der Sachse war schon älter, vielleicht Ende vierzig. Er fiel vor Heinrich auf die Knie, furchtlos und entschlossen. Ihm war anzusehen, dass ihm bewusst war, dass er die Pfalz vielleicht nicht lebend verlassen würde.

„Sprich!“, forderte Heinrich und baute sich breitbeinig vor ihm auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt.

„Gnädige Majestät, ich habe Botschaft von Otto von Northeim, dem Herzog von Bayern. Mein Herr ist gewillt, sich Euch gegenüber erneut wegen der ungerechtfertigten Anschuldigungen zu äußern und auch einen Reinigungseid zu leisten. Er, der Herzog, weigert sich aber, gegen Egeno, einen unwürdigen Mann von zweifelhaftem Ruf und niederem Adel, zu kämpfen. Dieses verbietet ihm seine Ehre. Otto, der sich mit seiner Gefolgschaft in der Nähe von Goslar aufhält, kommt erst zu Euch, wenn Ihr ihm Sicherheit und Frieden sowohl für sein Kommen als auch für seinen freien Abzug zusagt.“ Der Bote sprach mit fester Stimme, doch ein höhnischer Ton des Königs ließ ihn hart schlucken und tief Luft holen.

Heinrich ging um ihn herum, lauernd wie ein Kater, der mit der Maus spielt, ehe er sie frisst. „Die Entscheidung bei der Verhandlung in Mainz war eindeutig. Otto hatte dort Gelegenheit, sich zu verteidigen. Nun ist es nicht mehr an der Zeit für Reden, sondern sich dem Urteil Gottes zu stellen. Durch den Zweikampf kann er seine Unschuld beweisen. Da er sich diesem zu entziehen versucht, drängt sich mir der Verdacht auf, dass er befürchtet, dass Gott ihm nicht beistehen wird, weil er schwere Schuld auf sich geladen hat.“ Heinrich blieb vor dem Boten stehen, jedoch mit einem gewissen Sicherheitsabstand. „Sage dem Herzog: Wenn er sich dem Gottesurteil nicht stellt, bin ich gezwungen, dies als Eingeständnis seiner Schuld anzusehen. Dann wird er nach sächsischem Recht verurteilt werden. Und nun verschwinde!“

Der Mann erhob sich, verbeugte sich tief und verließ eiligst den Saal.

„Was? Dieser feige Mistkerl will nicht kämpfen?“, erschallte Regengars Stimme durch den Saal, und diese breitschultrige, blonde Hofschranze lachte höhnisch. Die anderen Ministerialen und Adligen fielen mit ein.

Arend lachte nicht. Der König fühlte sich seiner Sache bereits so sicher. Bestimmt hatte er schon Sachsenfürsten für dieses Gericht ausgewählt, die von Otto einst beleidigt worden waren oder die sich großzügige Geschenke von Heinrich versprachen.

Arend spielte mit dem Gedanken, doch noch für Otto gegen Egeno I. anzutreten. Aber er wollte den Alten nicht töten, denn er hatte zu oft an seiner feuchtfröhlichen Tafel gesessen und war stets gut bei ihm aufgenommen worden.

Das Unheil nahm seinen Lauf: Otto erschien natürlich nicht, da ihm keine Sicherheit garantiert worden war, und so zog sich der Northeimer wieder auf seine Güter zurück. Sogleich befahl Heinrich ausgewählte sächsische Fürsten zu sich, die sich nach ein paar Tagen bei einer uralten, mächtigen Eiche trafen und das Todesurteil wegen Hochverrats gegen Otto aussprachen. Anschließend entzog der König ihm den Herzogstitel. Egeno I. hingegen wurde von jeglicher Schuld freigesprochen.

Ein Natternnest, diese gesamte verdammte Welt! Arend wäre gern aus Sachsen entschwunden, dem allen entflohen, doch er hatte den Erzählungen der Händler gelauscht: Ähnliches spielte sich in allen anderen Ländern der Welt ab. Also gleichgültig, wohin Arend ging, Satan war schon da. Es gab kein Entrinnen, nur Anfechtungen.

So rief der König ein Heer zusammen, bestehend aus Franken, Schwaben, Thüringern und auch einigen Sachsen, die sich fette Beute versprachen, wenn Ottos Besitz zerstückelt werden würde.

Auch der Schwabe Graf Eberhard VI. von Nellenburg brachte Truppen zum König. Der drahtige Mittfünfziger verstand sich gut mit Heinrich und prahlte damit, ihm bedingungslos treu ergeben zu sein und ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dafür war Heinrich dankbar.

Doch Bertha vertraute Arend an, dass sie den Grafen kritisch betrachtete, da er während Annos und Adalberts Abwesenheit versuchte, sich eine vorrangige Position zu verschaffen. Erzbischof Adalbert hatte sich vorerst nach Bremen zurückgezogen, weil ihn heftiger Husten plagte. Er hatte näher an die Küste gewollt, da er der Meinung war, dass ihm die Seeluft schon oft Linderung bei ähnlichem Leiden gebracht hatte. Zudem wollte er dort einige Angelegenheiten klären. Und Anno war aus Rom noch nicht zurückgekehrt.

Da der Leibwächter Benno unter heftigen Durchfällen litt, bat Bertha Arend, den König an seiner statt im Heer zu bewachen. Anfangs weigerte er sich, doch als sie ihn unter Tränen ersuchte, ließ er sich erweichen. Allerdings sagte er nur zu, den König zu beschützen, nicht aber, kriegerisch gegen sein eigenes Volk vorzugehen. Folkmar blieb bei der Königin, und Erkmar sollte auf seine Familie achten.

Bald darauf befand er sich im Heerzug, ritt neben dem ihm verhassten Kuno in der Nähe des Königs und fühlte sich wie ein Verräter. Doch war er nicht bereits ein solcher? Er hätte an Ottos Seite sein müssen und nicht in diesem Heer aus ungefähr zweitausend Kämpfern. Es waren die falschen Fahnen, die hier im Wind flatterten.

Sie ritten entlang der alten Heeresstraßen durch den Harz. Es war ein lärmender, klappernder Zug, dessen Pferdegetrappel jeden Vogel verscheuchte. Heinrich wollte schnell vorankommen, war getrieben vom Gedanken, Otto zu zerquetschen. Er hatte gehört, dass sich dieser auf seine Burg Hanstein an der Werra oder auf die Burg Desenberg bei Warburg zurückgezogen hatte. Heinrich beschloss, beide Burgen einzunehmen und zu zerstören, um den Herzog dieser wichtigen Stützpunkte zu berauben.

Arend fragte sich nachts, wenn er abwechselnd mit Kuno und einigen anderen Wachen vor dem Eingang des königlichen Zeltes stand, was er hier eigentlich tat. In diesen langen Stunden überkam ihn der Gedanke, ob es für die Sachsen nicht besser wäre, wenn er in Heinrichs Zelt eindringen und den König meucheln würde. Eigentlich war es schon seltsam, dass Heinrich ihm sein Leben anvertraute und dass dieser misstrauische Mensch tatsächlich von seiner Ehre überzeugt war. Und nein … Heinrich irrte nicht. Arend würde ihm nichts tun.

Am Tage war Arend nicht sehr aufmerksam, da ihm Schlaf fehlte, und ließ sich von Widu durch die schöne, hügelige Gegend tragen. Doch er wurde schlagartig wach, als die Truppen des Königs anfingen, Ottos Ländereien zu verwüsten. Sie nahmen sich, was sie brauchten, fielen plündernd wie ein Heuschreckenschwarm in die Dörfer ein, erschlugen die Männer, die sich ihnen mit Knüppeln, Sicheln und Dreschflegeln entgegenstellten, machten sich über die kreischenden Frauen her und setzten anschließend alles in Brand. Die Flammen gleißten auf, zerfraßen in Windeseile die Gebäude, und der schwarze Rauch zog anklagend den weißen Wolken des Himmels entgegen. Dies war eine unglaublich feige Kriegsführung, die darauf aus war, die wirtschaftliche Macht des Feindes zu schmälern. Verlierer waren stets die Hilflosen, das einfache Volk. Jedoch würde all das den Hass der Sachsen nur schüren, da war sich Arend sicher.

Die Wut kochte in ihm hoch, und er war versucht, sich auf die Seite der Sachsen zu schlagen, um so manches Übel zu verhindern. Doch er tat es nicht und hasste sich dafür. Irgendwann konnte er dieses Morden, Schänden und Plündern nicht mehr ertragen. Er scherte aus und drängte sein Pferd direkt zum König. „Gebietet dem Einhalt!“, rief er aus.

Kuno, der sofort mit gezogener Waffe zur Stelle war, schaute ihn mit großer Genugtuung an, hoffte, dass der König ihn für seinen Tonfall streng bestrafte.

Heinrich sah ihn nur mit kalter Neugier an. „Es ist so üblich, das weißt du sehr wohl.“

„Wollt Ihr später treue Untertanen, so verhindert dies! Sie werden sich daran erinnern und Eure Großherzigkeit und Milde preisen!“

„Ich bedarf der Preisungen der Sachsen nicht! Ich will nur deren Gehorsam!“, bellte der König.

„Herr, bitte! Sagt Euren Leuten, dass sie die Frauen, gleich welchen Alters, verschonen sollen.“

„So wird den Männern doch der größte Spaß genommen, du bescheuerter Sachse!“, beschimpfte Kuno ihn.

„Ihr seid der Beschützer der Stämme, Herr. Was können diese armen Menschen für Ottos Handeln? Bitte, im Namen Gottes, gebietet diesem grausamen Treiben Einhalt! Und die Kinder … Sie sollen den Kindern nichts tun!“, flehte Arend.

Der König hatte die Lippen zusammengepresst, seine Augen waren nur noch drohende Schlitze und dennoch … Es zuckte in seinem Gesicht. Es schien, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er Arend aufspießen oder ihn für seinen Mut und seine Redlichkeit bewundern sollte. Schließlich nickte er säuerlich und befahl, dass während der Plünderungen die Sachsen an Leib und Leben unbehelligt bleiben sollten.

„Danke, Herr! Gott wird Euch Eure Milde vergelten!“ Erleichtert atmete Arend auf.

Heinrich fletschte die Zähne. „Mag Gott es mir vergelten, aber ich werde dafür irgendwann einen Gefallen von dir einfordern!“

Augenblicklich erstarb Arends erfreutes Lächeln. Was würde das wohl sein? Bei Heinrichs Charakter sicherlich nichts Gutes.

Er ließ sich ein wenig zurückfallen und nahm wieder seinen Platz ein. Der König schaffte es immer wieder, sobald Arend in ihm etwas Gutes erkannte, dieses sogleich wieder zu zertrümmern.

Und dann kam die hölzerne Burg Hanstein im Eichsfeld, nahe des Thüringer Waldes, in Sicht. Sie lag auf einer hohen begrasten Erhebung, aus der schroffe rötliche Felsen hervorragten, und schaute trotzig ins Land. Von dort aus konnte man bestimmt hervorragend die bewaldete hügelige Umgebung überblicken. Beim Erscheinen des Königs ertönte oben auf der Burg ein weit hallendes Hornsignal, das die Bewohner in Alarmbereitschaft versetzte.

Der König ließ auf einem Hügel gegenüber der Burg ein Lager aufschlagen und alle Zugänge zur Festung von seinen Männern überwachen, um die weitere Versorgung zu unterbinden. Anschließend beauftragte er den Baumeister Bischof Benno von Osnabrück, die Schwachstellen der Burg Hanstein ausfindig zu machen.

Arend stellte sein eigenes kleines Zelt auf, das ihm der König vor einiger Zeit hatte zukommen lassen, entlud die restlichen Dinge von seinem Packpferd und brachte dann sowohl dieses Pferd als auch Widu zu den Gattern, die eiligst von Knechten errichtet worden waren. Arend würde vor dem Zelt des Königs wachen, aber ansonsten würde er keinen Finger krümmen, um bei der Eroberung dieser Burg zu helfen. Ganz gewiss nicht, denn sie gehörte Otto.

In der Nacht stand Arend zeitweise vor Heinrichs Zelt Wache und legte sich anschließend müde hin. Doch schon am frühen Morgen wurde er brutal aus dem Schlaf gerissen, als laute Hornsignale durch das Lager schallten und daraufhin das Heer donnernd und stampfend wie eine aufgescheuchte Rinderherde Richtung Burg aufbrach.

Die Neugier trieb Arend ins Freie, und er schaute zu, wie sich die Königlichen an seichteren Stellen die Hänge emporkämpften, sich der Festung mit Schutzdächern und Leitern näherten. Die Burg hatte noch nicht diese durchgängigen Steinmauern wie die neuen fortschrittlichen Harzburgen, sondern war zum größten Teil durch Gräben, Wälle und Palisaden geschützt.

Kaum näherten sich die Königlichen, ging ein Pfeil- und Speerregen auf sie hernieder. Arend konnte sich nicht dagegen wehren, aber er wünschte Heinrich eine Niederlage.

Der Sachse stand da, mit pochendem Herzen, die Hände zu Fäusten verkrampft, und es war seltsam für ihn, nur zuzuschauen. Erinnerungen an seine eigenen Schlachten züngelten in ihm empor, und alles in ihm verlangte, selbst zu kämpfen. Das Geschrei spornte ihn an, doch für Otto konnte er nicht streiten und für Heinrich wollte er es nicht.

Als dann aber die ersten Verletzten ins Lager gebracht wurden, blutüberströmt und vor Schmerz schreiend, kühlte sich sein Gemüt schlagartig ab. Und so packte er mit an und trug die Verwundeten in die Zelte, wo sich Heiler, Trossfrauen und Knechte hektisch um sie kümmerten. Manche Kämpfer hatten schreckliche Verletzungen. Speere hatten ihnen klaffende Wunden beigebracht, oder Pfeilspitzen steckten in den Männern, die teilweise überaus roh entfernt wurden. Es waren aber auch Steine geschleudert worden, und manch ein Schädel war grauenhaft zertrümmert. Einer dieser jungen Kerle erinnerte Arend an seinen Bruder Herwin. Wut und Trauer brandeten in ihm auf, und er stürzte aus dem Zelt. Arend eilte aus dem Lager, lehnte sich gegen eine mächtige Buche und rutschte dort den Stamm hinab. Er beschaute sich seine blutverschmierten Hände, an einem Finger klebte sogar ein wenig Gehirnmasse. Angewidert wischte er es am Gras ab. Er vermisste seinen Bruder Herwin so schrecklich.

Arend verfiel in eine seltsame Starre, die sein Fühlen auslöschte. Er hockte nur da und stierte auf einen Grashalm, auf dem die Ameisen munter herumkrabbelten. Wozu dieses ganze Kämpfen?

Heftiges zorniges Geschrei, das von der Burg herunterschallte und die gesamte Landschaft mit seinem Irrsinn beherrschte, riss ihn aus seiner Lethargie. Er erhob sich und lief zurück zu den Verwundeten ins Lager, um dort zu helfen. Und sei es nur, um jemandem beim Sterben die Hand zu halten.

Weitere vier Tage wurde die Burg bestürmt. Unerbittlich hetzte Heinrich seine Männer gegen die Anhöhe, und sie gehorchten treu, hinterfragten die Befehle kaum. Auch sie wollten die Burg erobern und geiferten der Plünderung entgegen.

Stets wurden weitere Verletzte und auch Tote ins Lager gebracht. Das Geschrei und Gestöhne der Verwundeten erfüllten die Nächte und nagten an den Gemütern der Männer. Dies war es, was die Krieger noch mehr fürchteten als den sofortigen Schlachtentod: das lange, qualvolle Dahinsiechen, vielleicht sogar am Wundstarrkrampf, einer Blutvergiftung oder am Wundbrand elendig zu verrecken.

Nachts stand Arend vor Heinrichs Zelt, und tagsüber half er bei den Verwundeten. Schlaf fand er kaum. Seine gesamte Kleidung war mit Blut verschmiert, als wäre er im schlimmsten Schlachtengetümmel gewesen – aber das war er ja eigentlich auch, denn viele der Männer fochten hier in den Zelten ihren schwersten, vielleicht letzten Kampf.

Dann befahl Heinrich einen Ablenkungsangriff in der Nähe des Tores, während er einen weniger gut gesicherten Teil der Befestigung mit Wurfhaken einreißen und die Gräben mit zusammengezimmerten Brücken überwinden ließ. Mit heftigem Beschuss wurden die Sachsen vertrieben, und es folgten stürmische, verbitterte Gefechte. Das metallische Scheppern aufeinanderprallender Schwerter, das donnernde Schlagen auf Schilde, das zornige Gebrüll, Schmerzensschreie, dies alles schallte furchterregend herüber zum Lager.

Immer mehr Königliche drangen in die Festung ein, schließlich wurde das Burgtor geöffnet, und die Kämpfer strömten wie eine unaufhaltsame Flut hinein.

Frustriert starrte Arend zur Burg hinauf. Dort wurden Sachsen abgeschlachtet! Das Lärmen des barbarischen Gemetzels brachte ihn fast um den Verstand. Er war kurz davor, seinen Eid in den Wind zu schreiben – und er hasste sich dafür, dass er es nicht tat.

Dann bat Bischof Benno von Osnabrück – für Arend völlig unerwartet –den König inbrünstig um Gnade für die Sachsen. Zähneknirschend gab Heinrich nach. Vielleicht aber ließ er die restlichen Sachsen auch nur gehen, damit sie bei den eigenen Leuten vom glorreichen Sieg des Königs berichteten.

Erleichtert atmete Arend auf, als er die ungefähr dreihundert Sachsen sah, die, von den Franken lauthals verlacht, von der Burg herunterkamen und mitsamt ihren stöhnenden Verletzten, die sie auf Wagen gelegt hatten, ihres Weges zogen.

Gleich darauf ließ Heinrich seine Männer in der Burg wüten. Wie eine entfesselte Höllenbrut verwüsteten sie die Anlage, rissen die Palisaden ein und steckten die Gebäude in Brand. Zwei weitere Tage sah Heinrich diesem Treiben zu, bis alles verheert war.

Nachdem die eigenen Toten begraben worden waren, ließ der König das Lager abbauen, um weiter zur Burg Desenberg zu ziehen.

Diese Burg stand weithin sichtbar auf einem Bergkegel und war so angelegt, dass ein Angreifer den Verteidigern lange Zeit schutzlos ausgeliefert war, ehe er überhaupt an die Festung herankam. Heinrich befahl, das Lager im Tal aufzuschlagen, und die Zelte zogen sich bis zu einer angrenzenden Anhöhe hinauf.

Die Einnahme dieser Burg würde etwas Besonderes, etwas Symbolträchtiges sein. Immerhin gab es Stimmen, die behaupteten, dass hier Bonifatius vor ungefähr dreihundert Jahren die Donareiche, ein bedeutendes Heiligtum der Sachsen, gefällt hatte. Bald nach Bonifatius’ Tat hatten die Franken auf diesem Bergkegel eine Befestigung gegen die Sachsen errichtet.

Auch hier entsandte Heinrich zuerst Truppen zur Burg Desenberg, die die Versorgungswege abschneiden sollten. Mit einem Angriff zögerte er jedoch, weil seine Mannen kaum Deckung finden konnten.

Arend fühlte sich wie ein Fremdkörper, und als diesen sahen ihn ebenfalls auch die anderen Kämpfer an – obwohl er bei den Verletzten geholfen hatte. Sein Entschluss stand fest: Auch hier würde er ganz gewiss nicht für den König streiten.

Der Himmel war schwarz wie ein Grab, kein Stern zeigte sich, noch nicht einmal ein Aufglimmen.

Im Lager brannten Hunderte von Feuern und erhellten die sie umgebenden Zelte. Es herrschte keinerlei Ordnung, jeder hatte sein Zelt dort aufgeschlagen, wo ihm danach gewesen war. Aber wenigstens hatten die Franken und Schwaben genügend Abstand eingehalten, um unnötige Konfrontationen zu vermeiden. Zwiste brandeten dennoch überall auf, wenn nicht ums Essen oder Wasser, dann über den Mut und vor allen Dingen um die Beute. Heinrich griff hart durch, hatte schon einen Mörder hinrichten und zwei Dieben eine Hand abhacken lassen. Er wollte seine Ziele keinesfalls durch innere Zwietracht bedroht sehen.

Die Männer verband nichts miteinander, außer die Aussicht auf Kampf, Ruhm und Beute. Den meisten war es dabei sicherlich gleichgültig, auf wen sie da eigentlich losgingen.

Ruhe herrschte im Lager trotz der Nacht nicht, permanent waren irgendwelche Geräusche zu hören, manche ließen sich sofort zuordnen, andere weniger.

Arend wurde von Kuno abgelöst und machte sich müde auf den Weg zu seinem Zelt. Plötzlich wurde er von einer schwer greifbaren Unruhe erfasst, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber hier war irgendetwas Böses.

Da! Ein Schatten, der an einem von innen erleuchteten Zelt vorbeihuschte. Arend folgte diesem Schatten, der sich behände im Dunkeln zwischen den Schnüren und Pflöcken der Zelte fortbewegte. Die Gestalt mied all jene Männer, die mit einer Laterne durchs Lager gingen und Wache hielten.

Doch Arend war ebenso geschickt. Seine Sinne waren hellwach. Das dort konnte nur ein Dieb oder ein Mörder sein! Hatte er seine Tat schon vollbracht, oder war er erst auf dem Weg, diese auszuführen?

Als der Dieb einen Augenblick verharrte und lauschte, zuckte Arend zurück und verbarg sich hinter einer Zeltwand. Hatte er ihn bemerkt?

Dann setzte der Gedungene seinen Weg fort, und Arend wurde schlagartig klar, wohin er wollte. Dort hinten stand das große Zelt des Königs! Der Schatten strebte auf die Rückseite des Zeltes zu. Arend zögerte nicht lange und sprang die Gestalt an, riss sie zu Boden und drückte seinen Arm gegen deren Kehle. Der Mann wehrte sich und trat Arend schmerzhaft. Heftig rang der Fremde nach Luft, zerrte beidhändig an Arends Arm, doch er konnte die eiserne Umklammerung nicht lösen. Seine Bewegungen wurden schlaffer, bis er sich schließlich kaum noch rührte. Vorsichtig nahm Arend den Arm fort und suchte den Fremden nach Waffen ab. In seinen Händen hielt er jedenfalls keine. Er fand am Gürtel zwei Dolche in ledernen Scheiden, zog diese heraus, warf einen davon fort, den anderen hielt er dem Mann an die Kehle. Der Schein eines Feuers beleuchtete sein Antlitz. Er war nicht viel älter als er selbst.

Arend schlug ihm leicht ins Gesicht, damit er wieder zu sich kam. „Wer bist du?“, verlangte er zu erfahren.

Der Unbekannte schwieg. Arend drückte die Spitze des Dolches ein wenig stärker gegen seinen Hals. „Sprich, oder ich bringe dich augenblicklich zum König!“

„Ein Sachse, was sonst? Ich komme von der Burg. Und dir höre ich an, dass du ebenfalls ein Sachse bist. Was machst du in diesem Lager? Bist du ein Verräter?“

Wuchtig wie ein Axthieb waren diese Worte. „Nein.“ Aber was sonst könnte er in den Augen von Ottos Leuten sein?

„Verschwinde und versuche so etwas nie wieder!“, flüsterte Arend scharf und zog die Waffe zurück.

Ungläubig setzte sich der Sachse auf und hielt sich die Hand an die blutende Stelle seines Halses. „Du lässt mich gehen?“

„Ja! Hau ab!“

Vorsichtig und misstrauisch erhob sich der Fremde. Er entfernte sich zögernd einige Schritte und hastete dann davon.

Arend hatte seine Arbeit getan und den König behütet, doch einen Sachsen ausliefern – das würde er nicht.

Er nahm beide Dolche an sich, begab sich in sein Zelt, fand aber keinen Schlaf. Er warf sich hin und her, spürte trotz der Unterlagen aus gefettetem Leder und Fell die Kälte und Feuchtigkeit, die aus dem Boden drangen, und lauschte auf jedes Geräusch. Sein Hirn kam ihm vor wie ein Stein in einer Schleuder. Alles kreiste und ließ sein Herz rasen. Hätte er den Sachsen nicht aufgehalten, wäre Heinrich jetzt vielleicht tot, Otto außer Gefahr und Bertha frei für ihn … Doch er hatte es getan. Seine Ehre war ein großer Felsen, der ihn behinderte, ihn hinabzog in die flammende Hölle.

Nach zwei Tagen wagte Heinrich einen Angriff und jagte seine Streiter den Hügel hinauf. Tapfer erklommen sie diesen, doch es gab kaum Deckung. Die Sachsen ließen Pfeile auf die Mannen des Königs herniederregnen, eine Salve nach der anderen, die etliche Angreifer niederstreckten. Arend graute es vor den Verletzten, die bald wieder ins Lager geschleppt werden würden, und er stellte sich bereits in die Nähe der Wundheiler.

„So viele junge Leben, ausgelöscht oder für immer zerstört! Welch ein Irrsinn!“, zeterte eines der Trossweiber und fand regen Zuspruch bei den anderen Frauen.

Arend nickte zwar nicht, aber sie hatten recht. Hätten sowohl die Sachsen als auch Heinrich eine andere Politik gewählt – dies alles würde nicht geschehen.

Und schon wurden die ersten jammernden, schreienden, flehenden Verletzten ins Lager gebracht, entstellt von grässlichen Wunden. Auch hier packte Arend wieder mit an.

Ein junger Franke, vielleicht fünfzehn Jahre alt, rief nach seiner Mutter und weinte jämmerlich.

Jemand brüllte ihn an: „Hör auf zu flennen und erdulde es gefälligst wie ein Mann!“

Dies erzürnte Arend. „Schnauze!“, rief er garstig aus, kniete sich neben den Jungen, der auf einer Strohschüttung am Boden lag, und ergriff tröstend dessen Hand. Aus einer Wunde an der Seite sickerte unaufhaltsam das Blut. Arend presste ein Tuch dagegen, das sich rasch vollsog. Blass wurde der Knabe und wimmerte immer wieder nach seiner Mutter, schien auf seltsame Art und Weise dem Irdischen schon fast entrückt zu sein. Arend streichelte ihm über das Haar, vielleicht hätte dies seine Mutter jetzt getan. Der Junge wurde ruhiger, hechelte nicht mehr. Arend spürte, dass er bald stürbe, und ihm saß ein dicker Kloß im Hals. So jung, so schrecklich jung war er noch. Er streichelte weiter sein Haar, wollte ihm ein bisschen Geborgenheit während seiner letzten Atemzüge schenken. Der Brustkorb des Franken hob und senkte sich nur noch unmerklich, und ihm perlten zwei Tränen aus den Winkeln seiner geschlossenen Augen. Dann war er still. Arend wusste nicht, ob er bereits gestorben war oder nicht. Es hatte keinen Seufzer und kein hörbares Verströmen des letzten Atems gegeben. Doch es musste so sein. Er streichelte ihm nochmals über das Haar, murmelte ein leises Gebet, erhob sich schwerfällig und warf das blutige Tuch fort. Heimlich wischte sich Arend eine Träne mit dem Ärmel fort, die über seine Wange schlich.

Verstört schaute er sich um. Die Schlacht, die hier drinnen geschlagen wurde, war noch weitaus erbärmlicher und gruseliger als die da draußen. Hier wurde genäht, abgehackt und gebrannt, aber zum Glück auch bei einigen nur verbunden. Es stank unerträglich nach verbranntem Fleisch, nach Blut, Kot und Urin.

Endlich rief ein Signal die Krieger zurück. Es würde nochmals ein Schwall Verwundeter folgen, aber dann für den Rest des Tages hoffentlich keine mehr.

Der König wurde ungeduldig, da er vernommen hatte, dass Otto überhaupt gar nicht mehr in der Desenburg war. Zudem hatte sich dem Northeimer nun auch noch Magnus Billung angeschlossen. Ein Kundschafter hatte berichtet, dass die beiden Sachsen mit einem Heer von über dreitausend Mann sengend und brennend durch Thüringen zogen und Königshöfe zerstörten. Arend musste schmunzeln, als er dieses vernahm. Während Heinrich Ottos Burg bestürmte, verbrannte Otto Heinrichs Güter.

Doch Heinrich wollte diese Burg unbedingt in seinen Besitz bringen. Sie sollte fallen wie einst die heidnische sächsische Eiche und Otto auf keinen Fall mehr als Rückzugsort dienen können.

Dem König verlangte es nach einem schnellen, vollständigen Sieg, ohne weitere Verluste, deshalb schickte er Unterhändler zur Burg und bot verlockend hohe Bestechungsgelder an, wenn die Sachsen die Stellung aufgaben. Drei Tage lang wurde hart verhandelt und schließlich willigten die Belagerten tatsächlich ein und zogen ab. Arend war erbost über diese Männer, die sich so schnell hatten kaufen lassen. Heinrich erlaubte seinen Leuten, die Burg zu plündern, forderte sie gar auf, sie niederzureißen.

Ein weiterer Späher berichtete, dass sich Otto ein Heer der Thüringer entgegengestellt hatte, aber dass dieses regelrecht überrannt und in die Flucht geschlagen worden sei.

Als Heinrich bald darauf zugetragen wurde, dass Otto nach Norden umgeschwenkt sei und sich angeblich Goslar als Ziel gesetzt hatte, befahl er den sofortigen Aufbruch zu seiner geliebten Pfalz, um diese zu schützen. Diesen Triumph konnte er Otto unmöglich erlauben. Und so eilte der König mit seinem Heer Richtung Goslar, und Otto, der sich der Möglichkeit beraubt sah, dem König diesen herben Schlag zu versetzen, zog bald darauf zur Burg Hasungen in Hessen und veranlasste, dass diese zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut wurde. Dort lauerte er auf den Angriff des Königs.

Heinrich ließ sich jedoch nicht locken und blieb in Goslar. Er schickte einen Teil seines Heeres in Ottos Nähe auf den gegenüberliegenden Dörnberg, wo sie innerhalb der alten germanischen Ringwälle ein Lager bauen sollten. Von dort aus konnten sie die Bewegungen der Sachsen überwachen und sie möglichst am Beschaffen von Grünfutter und Nachschub hindern. Zudem ließ er auch die Güter von Ottos Gemahlin Richenza in Westfalen verwüsten. Heinrich war zerknirscht, weil er bisher weder Otto ergriffen noch ihn besiegt hatte.

Königin im Schatten Gesamtausgabe

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