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VIII
ОглавлениеAm Sonntagmorgen war Saxon viel zu früh fertig, und als sie zum zweiten Mal aus dem Fenster gesehen hatte und wieder in die Küche trat, begann Sarah einen ihrer üblichen Angriffe.
»Es ist ein Skandal, dass gewisse Leute sich immer seidene Strümpfe leisten können«, begann sie. »Sieh mich an, ich schinde mich den ganzen Tag und bekomme nie seidene Strümpfe – oder Schuhe, gleich drei Paar auf einmal. Aber es gibt einen Gott im Himmel, und gewisse Leute werden noch mächtige Überraschungen erleben, wenn am Jüngsten Tage jeder kriegt, was ihm zukommt.« Saxon machte sich daran, einem der kleinen Mädchen ein rotes Seidenband ins Haar zu flechten. Sarah rumorte in der Küche herum, wusch auf und räumte den Frühstückstisch ab. Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich von der Aufwäsche um und blickte Saxon zornig und kampfbereit an.
»Du sagst nichts – was? Und warum sagst du nichts? Weil du noch ein bisschen Scham im Leibe hast – he – mit einem Boxer zu laufen. O ja, ich habe schon gehört, was du und Bill Roberts machen. Ein schöner Kerl ist er. Aber wart nur, sage ich dir. Wart nur, bis Charley Long ihn erwischt.«
»Na, ich weiß nicht«, legte Tom sich dazwischen. »Bill Roberts ist, soviel ich weiß, ein braver Kerl.«
Saxon lächelte, und Sarah, die ihr Lächeln bemerkte, wurde zornig.
»Warum nimmst du Charley Long nicht? Er ist verrückt nach dir, und er ist ein netter, nüchterner Mann.«
»Ach, er trinkt wohl das Bier, das er haben will – und noch etwas dazu«, antwortete Saxon.
»Das tut er«, ergänzte ihr Bruder, »und ich weiß bestimmt, dass er immer ein Fass zu Hause liegen hat.«
»Dann hast du wohl geholfen, es auszutrinken«, fauchte Sarah.
»Vielleicht«, sagte Tom und wischte sich den Mund mit dem Handrücken.
»Aber er kann es sich wohl auch leisten, zu Hause ein Fass liegen zu haben, wenn er Lust dazu hat.« Hiermit wappnete Sarah sich zu einem neuen Angriff, der diesmal ebenso sehr gegen ihren Mann gerichtet war. »Er bezahlt seine Rechnungen und verdient viel Geld – mehr als gewisse andere.«
»Ja, und er braucht nicht für Frau und Kinder zu sorgen«, sagte Tom.
»Und hat auch nicht die ewigen Abgaben an die Gewerkschaften zu zahlen, von denen man doch nichts hat.«
»Nun ja«, meinte Tom gutmütig. »Er würde verflucht wenig in seiner Werkstatt und in allen anderen Werkstätten zu tun haben, wenn er sich nicht gut mit den Schmieden stellte. Du verstehst dich nicht auf Arbeiterverhältnisse, Sarah. Die Gewerkschaften müssen erhalten werden, wenn die Arbeiter nicht vor Hunger krepieren sollen.«
»Ja – selbstverständlich«, schnüffelte Sarah. »Ich verstehe nichts, nein. Ich bin ein Idiot. Sag das nur, dass die Kinder es hören.« Sie wandte sich wütend zu dem Ältesten, der erschrocken die Flucht ergriff. »Willie, deine Mutter ist verrückt. Verstehst du? Dein Vater sagt, dass ich verrückt bin – sagt es mir und euch mit reinen Worten gerade ins Gesicht.«
Der Knabe begann, von dumpfer Angst vor irgendeiner unbestimmten und unberechenbaren Katastrophe ergriffen, lautlos, mit hängender, zitternder Unterlippe zu weinen. Saxon verlor für einen Augenblick ihre Selbstbeherrschung.
»Du lieber Gott, können wir denn nicht fünf Minuten zusammen sein, ohne uns zu streiten?«
Sarah wandte sich zur Schwägerin.
»Wer streitet sich? Darf ich nicht den Mund öffnen, ohne dass ihr gleich über mich herfallt?«
Saxon zuckte resigniert die Achseln. Und Sarah wandte sich wieder zu ihrem Mann.
»Wenn du deine Schwester so viel lieber hast als mich, warum hast du mich dann geheiratet – mich, die dir Kinder geboren und sich deinetwegen bis aufs Blut abgerackert hat ohne Dank? Aber mich beleidigen in Gegenwart der Kinder, das kannst du, und sagen, dass ich verrückt bin, während sie zuhören, und was hast du je für mich getan – das möchte ich gern wissen? Wo ich dir dein Essen gekocht und dein dreckiges Zeug gewaschen und deine Strümpfe gestopft und nachts bei deinen Gören gesessen habe, wenn sie krank waren? Hier! Willst du sehen!«
Und es erschien ein unförmiger, geschwollener Fuß in einem mächtigen, ungeputzten Schuh, dessen trockenes Leder voller Risse und Beulen war.
»Willst du sehen! Ich sage nur, willst du sehen!«
Die Stimme versagte ihr, und plötzlich ließ sie sich auf einen Stuhl am Tisch fallen, wo sie, ein Bild unsagbaren Jammers, vor sich hinstarrte. Dann stand sie, steif wie ein Stock, auf, goss sich mit den stoßweisen Bewegungen eines Automaten eine Tasse kalten Kaffees ein und setzte sich ebenso automatisch wieder. Als wäre ihr der Kaffee zu heiß, goss sie die fettige, unbestimmbare Flüssigkeit in die Untertasse und starrte dann wieder vor sich hin, während ihre Brust sich in kurzen, mechanischen Stößen hob und senkte.
»Na na, Sarah, nur ruhig«, sagte Tom furchtsam.
Langsam und mit einer Überlegung, als hinge die Wohlfahrt von ganzen Völkern davon ab, mit welcher Sicherheit sie es täte, setzte sie die Untertasse umgekehrt auf den Tisch. Langsam hob sie die Hand und ließ sie in einem breiten Bogen auf der Backe des verblüfften Tom mit lautem Klatschen landen. Und fast im selben Augenblick erhob sie ihre Stimme, stieß gellende, heisere, monotone Schreie in wildester Hysterie aus und setzte sich dann plötzlich auf den Fußboden, wo sie, hin- und herwankend, in einem Abgrund von Kummer und Jammer sitzen blieb.
Das leise Weinen Willies wurde laut, und die beiden kleinen Mädchen mit den neuen Bändern im Haar stimmten ein. Toms Gesicht war blass und erschrocken, wenn auch die übel mitgenommene Backe noch flammend rot war, und Saxon wäre am liebsten zu ihm hingetreten, hätte ihm den Arm um den Hals gelegt und ihn getröstet. Aber sie wagte es nicht. Er beugte sich über seine Frau.
»Sarah, du bist nicht wohl. Darf ich dich ins Bett legen? Dann werde ich schon für alles sorgen.«
»Rühr mich nicht an! Rühr mich nicht an!« kreischte sie wie besessen.
»Nimm die Kinder mit auf den Hof hinaus, Tom, mach einen Spaziergang mit ihnen oder was du willst – schaff sie nur fort!« sagte Saxon. Sie war ganz krank und blass und zitterte am ganzen Körper. »Geh jetzt, hörst du. Da ist dein Hut. Ich werde mich ihrer schon annehmen.«
Sobald Saxon allein war, machte sie sich mit rasendem Eifer an die Arbeit, wobei sie mit Rücksicht auf die schreiende Tollhäuslerin auf dem Boden eine Ruhe vortäuschte, die sie keineswegs besaß. Das schreckliche war, dass der Lärm wie ein Zugwind durch das dünne Holzhaus ging; Saxon wusste, dass man es nebenan, ja, auf der Straße und in den Häusern auf der anderen Seite der Straße hören konnte. Sie fürchtete nur; dass Billy unterdessen käme. Außerdem war sie empört und verletzt. Jede Fiber in ihr ekelte sich, so dass ihr fast übel wurde, und dennoch bewahrte sie ihre Selbstbeherrschung und strich Sarah leise und beruhigend über Stirn und Haar. Und wie sie, die Arme um die Schwägerin geschlungen, dasaß, glückte es ihr bald, das grässliche, schrille, unaufhörliche Schreien zu beschwichtigen. Wenige Minuten später lag Sarah laut schluchzend in ihrem Bett. Über ihrer Stirn und ihren Augen lag ein nasses Handtuch – gegen die Kopfschmerzen, die sie und Saxon stillschweigend als eine hübschere Bezeichnung für den hysterischen Anfall gelten ließen.
Als man kurz darauf Pferdehufe auf der Straße hörte, war Saxon so weit, dass sie sich an die Haustür schleichen und Bill zuwinken konnte. In der Küche fand sie Tom, der entmutigt und besorgt wartete.
»Es ist vorüber«, sagte sie. »Billy Roberts ist da, und ich muss gehen. Bleib ein bisschen bei ihr sitzen, dann schläft sie vielleicht ein. Aber reize sie nicht. Laß sie sagen, was sie will. Versuch es jedenfalls. Aber vor allem musst du als Einleitung und wie das Natürlichste von der Welt das Handtuch, das über ihren Augen liegt, nehmen und in Wasser tauchen.«
Er war ein freundlicher, umgänglicher Mann, aber wie so vielen aus dem Westen wurde es ihm nicht leicht, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Er nickte, wandte sich zur Tür und blieb dann unentschlossen stehen. Der Blick, den er Saxon sandte, erinnerte fast an den eines Hundes. So rührend dankbar war er, aber gleichzeitig tief brüderlich in seiner Liebe. Sie fühlte es, und ihr Herz flog ihm sofort entgegen.
»Es ist ja gut – es ist ja alles gut«, sagte sie schnell.
Tom schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist es nicht. Es ist eine Schande, eine verfluchte Schande!« Er zuckte die Achseln. »Ach, meinetwegen ist es mir gleich. Aber deinetwegen. Du hast das Leben vor dir, Schwesterchen. Du wirst noch früh genug alt. Aber das ist eine ekelhafte Art, einen Feiertag zu beginnen. Jetzt mach, dass du es vergisst, fahr mit deinem Freund aus und amüsiere dich gut.«
In der offenen Tür blieb er noch einmal, die Hand auf der Klinke, stehen, und sein Gesicht zuckte. »Zum Teufel! Es gab eine Zeit, da auch Sarah und ich zusammen ausfuhren. Und ich glaube fast, dass sie damals auch ihre drei Paar Schuhe hatte. Verstehst du das?«
In ihrer Kammer machte Saxon sich schnell fertig und stieg auf einen Stuhl, so dass sie in dem kleinen Wandspiegel einen letzten kritischen Überblick über den Sitz ihres fertig gekauften Leinenrockes bekommen konnte. Sowohl ihn wie die Jacke hatte sie selbst passend gemacht, sie hatte die Nähte mit doppelten Stichen umgenäht, um dem Kleid das gewünschte Tailormade-Gepräge zu geben. Was sie sah, gefiel ihr. Sie unterschätzte keineswegs die schlanken Fesseln über dem Ausschnitt des braunen Schuhs, ebenso wenig die feine und doch kräftige Rundung der Wade, die in den neuen hellbraunen Florstrümpfen so schön zum Ausdruck kam. Dann sprang sie wieder auf den Fußboden, rieb sich schnell die Backen, um ihnen die Farbe wiederzugeben, die Sarah daraus vertrieben hatte, und brauchte dann noch einen Augenblick, um sich ihre braunen Zwirnhandschuhe anzuziehen.
Sie eilte durch das Wohnzimmer und an Sarahs Tür vorbei, aus der tiefe Seufzer und gedämpftes Schluchzen durch die Holzwand an ihr Ohr drangen, aber sie nahm sich zusammen und es glückte ihr, die Farbe in ihren Wangen und den Glanz in ihren Augen zu bewahren. Und Billy ahnte nicht, dass das strahlend frische junge Geschöpf, welches so leichtfüßig die Treppe herabtrippelte, soeben von einem aufreibenden Kampf mit Wahnsinn und Hysterie kam.
In dem hellen Sonnenschein machte Billys Blondheit einen fast verblüffenden Eindruck auf sie. Seine Wangen, die so rund wie die eines Mädchens waren, hatten eine leichte Röte angenommen. Es waren mehr Wolken in den blauen Augen als je, und das krause, weißliche Haar hatte einen stärkeren Anstrich von dem blass goldenen Ton, den sie zuvor bemerkt hatte. Noch nie hatte sie ihn so strahlend jung gesehen. Als er sie mit einem ruhigen Lächeln begrüßte, das von weißen Zähnen und roten Lippen leuchtete, war ihr das wie eine Verheißung von Frieden und Ruhe. Nach dem irrsinnigen Verhalten der Schwägerin wirkte Billys Ruhe doppelt so wohltuend, und Saxon lachte im Stillen bei dem Gedanken an das gefürchtete »schreckliche Temperament«, dessen er sich selbst bezichtigt hatte.
Sie war früher schon ausgefahren, aber immer im Einspänner mit einem Mietspferd, und es war eine der schmutzigen, schweren Kaleschen gewesen, die man wegen ihrer Festigkeit und Haltbarkeit zum Vermieten gebrauchte. Aber jetzt standen hier zwei feurige, am Gebiss zerrende Pferde, die mit jedem blitzenden Reflex auf ihrer seidenblanken Haut verkündeten, dass sie noch nie in ihrem jungen Leben vermietet worden waren. Zwischen ihnen befand sich eine unbegreiflich dünne Deichsel, und ihr Geschirr war so fein und zart wie Zwirnsfäden. Billy hielt die Zügel in einer Hand, schien aber die nervösen jungen Tiere durch eine Art Willensübertragung zu lenken.
Es war keine lange Zeit zum Überlegen. Mit ihrem schnellen, wissenden Frauenblick sah Saxon nicht nur die neugierigen Kinder der Straße, sondern auch die Erwachsenen, deren Gesichter in offenen Türen und Fenstern und hinter beiseitegezogenen Gardinen hervorguckten. Mit der freien Hand hob Billy das Schutzleder und half ihr auf den Sitz neben sich. Der bequem gepolsterte Ledersitz mit der hohen Rückenlehne verlieh ihr ein Gefühl unsagbaren Wohlbehagens. Aber noch größeres Wohlbehagen fühlte sie an dem Manne selbst, an seiner Nähe, seinem Körper.
»Wie gefallen sie dir?« fragte er, indem er die Zügel mit beiden Händen ergriff und die Pferde antrieb, die sich sofort mit einer Schnelligkeit, die ihr etwas ganz Neues war, in Bewegung setzten. »Sie gehören meinem Chef. Solche Tiere kann man nicht mieten. Er lässt mich zuweilen mit ihnen fahren, damit sie Bewegung bekommen. Sieh nur King, das kann man Feuer nennen, nicht wahr? Ja, der andere ist auch fein. Prince heißt er. Aber man muss ihn fest im Zügel halten. He! Hast du gesehen, Saxon? Das ist ein Pferd, nicht wahr? Ja, das ist ein Pferd!«
Hinter ihnen ertönte das bewundernde Hurrageschrei der Kinder. Mit einem zufriedenen Seufzer setzte Saxon sich zurecht, sich bewusst, dass der glückliche Tag endlich begonnen hatte.