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Kapitel 4
ОглавлениеWir verließen den Sender und fuhren zur Gerichtsmedizin. Als wir ins Hauptlabor marschierten, lag Wayne Hembree, stellvertretender Direktor der Spurensicherung, mit über die Schulter geworfener Krawatte auf dem weißen Fußboden. Die Brille saß schief auf seinem runden schwarzen Gesicht, ein dünner Arm lag unter seinem Kreuz, den anderen hatte er über den Kopf gelegt.
»Ich bin angeschossen worden«, stöhnte er.
»Wer hat das getan?«, fragte ich. Für derlei clevere Fragen werden Detectives schließlich bezahlt.
Hembree deutete mit dem Kinn auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wo ein älterer Mann in einem grellen Hawaiihemd eine Waffenattrappe in der Hand hielt und grinste, als hätte er gerade eben Orgasmuspillen entdeckt.
»Nicht Thaddeus da drüben«, entgegnete Hembree. »Von seinem Winkel aus hätte mich die Wucht des Treffers genau in die andere Richtung geschleudert. Mein Arm wäre dann nicht unter meinem Kreuz, sondern auf meinem Bauch.«
Ich ergriff Hembrees Hand und zog ihn hoch. Er strich seinen Laborkittel glatt, schrieb ein paar Notizen auf ein Klemmbrett und sagte dem Schützen, sie würden es in ein paar Minuten aus einem anderen Winkel probieren. Der Mann namens Thaddeus salutierte, tat so, als würde er ein paar Schüsse auf Harry und mich abfeuern, und verließ das Labor. Hembree überflog einen Bericht und erläuterte, was die Voruntersuchung ergeben hatte.
»Sieht ganz nach einem Raub aus, bei dem was schiefgelaufen ist. Der Wagen hält auf der Kreuzung, der Täter kommt aus den Büschen gerannt, schlägt das Fenster auf der Fahrerseite ein und fällt über das Opfer her.«
»Und warum foltert er es?«, wollte ich wissen.
»Motivation fällt nicht in meine Zuständigkeit«, erwiderte Hembree. »Vielleicht hat sie etwas gesagt, was ihn auf die Palme gebracht hat.«
»Muss ja ziemlich schlimm gewesen sein«, meinte ich.
Harry hatte geschwiegen und zugehört. Nun trat er näher.
»Ich habe da auch was, das mir eigenartig vorkommt. Wie lange war sie tot, als Ihre Leute dort aufgetaucht sind, Bree?«
»Weniger als eine halbe Stunde, könnte ich wetten. Euer Lastwagenfahrer hat gesehen, wie der Täter nach seinem Eintreffen aus dem Wagen gesprungen ist. Warum fragen Sie?«
»Das Fenster auf der Fahrerseite, das eingeschlagen wurde, war dem Wind zugekehrt«, sagte Harry. »Jedenfalls stand der Wagen eher zum Wind.«
Hembree runzelte die Stirn. »Ich begreife nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich habe den Boden berührt. Im Wagen stand das Regenwasser etwa fünf Zentimeter hoch. Ich meine, gestern Abend hat es ganz schön geschüttet, aber zehn Zentimeter in der Stunde?«
Hembree runzelte wieder die Stirn. »Der Regen fiel, wie bei Gewitterzellen so üblich, nicht überall gleichmäßig. Wenn eine ganze Reihe Gewitterzellen über dieses Gebiet hinweggezogen ist, sind acht, neun, zehn Zentimeter Niederschlag pro Stunde durchaus möglich. Ein Gebiet eine Meile weiter weg kriegt vielleicht nur drei, vier Zentimeter ab.«
»Macht Sinn«, fand Harry. »Eine Sache weniger, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss.«
Ich hörte meinen Klingelton und fischte das Handy aus der Tasche. Der Anruf kam vom Empfangspult im Polizeipräsidium.
»Carson, Jim Haskins am Apparat. Du und Harry, ihr leitet doch die Ermittlungen in dem Raubmord von gestern Abend, stimmt’s?«
»Ja. Was liegt an?«
»Hier am Empfang ist eine Frau, die ihre Mutter vorbeigebracht hat. Die Mutter ist völlig durch den Wind, faselt etwas von einem Geldbeutel, einem Geldautomaten und einem Langhaarigen in ihrem Wagen. Dachte, ihr wüsstet gern Bescheid.«
Zwölf Minuten später waren wir dank Sirene und Blaulicht im Präsidium. Die Tochter hieß Gina Lovett, war um die vierzig, plump und trug Brille. Ihre Mutter, Tessie Atkins, war Ende sechzig und nervös. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen, als wäre ihr kalt.
»Was ist passiert, Ms Atkins?«, erkundigte sich Harry, nachdem wir uns gesetzt hatten.
Sie zupfte an ihrem Ärmel herum. »Ich habe eine Freundin im Krankenhaus besucht und bin auf dem Heimweg bei der Bank vorbeigefahren. Ich musste meine Rechnungen bezahlen. Um die Zeit war das vielleicht keine schlaue Idee …«
»Wie viel Uhr war es denn, Ma’am?«, fragte ich.
»Kurz vor Mitternacht. Recht spät, doch nebenan war so ein Schnellrestaurant. Deshalb fühlte ich mich sicherer. Ich fuhr vor und entdeckte am Rand des Geländes etwas Weißes. Zuerst hielt ich es für eine Katze oder irgendein anderes armes Tier, das von einem Auto überfahren worden ist. Doch dann merkte ich, dass es ein Geldbeutel war. Ich dachte, jemandem wäre zufällig die Börse herausgefallen. Ist mir auch mal mit meiner Brieftasche auf dem Parkplatz von Bruno’s passiert. Ein netter Samariter hat sie in den Laden gebracht. Ich dachte mir …«
»Sie erwidern diesen Gefallen«, vollendete Harry den Satz.
»Ich bin hinübergefahren und stieg aus, um sie aufzuheben. Und das Nächste, was ich mitkriege, ist, wie mir jemand eine Hand auf den Mund legt und mich wieder in den Wagen schiebt. Es war ein übelriechender Mann mit einem Wust von Haaren. Er stieg auf der Beifahrerseite ein, setzte sich auf den Boden und sagte, wenn ich nicht erwartungsgemäß performe, würde er die Waffe ziehen.«
»Erwartungsgemäß performen?«, wiederholte ich.
Sie nickte mit verschränkten Armen. Mit zittrigen Fingern umklammerte sie ihre Schultern. »Er zwang mich, sechshundert Dollar von meinem Bankkonto abzuheben und dreihundert mit meinen beiden Kreditkarten. Das ist mein Limit. Ich war viel zu aufgewühlt, um zu fahren. Er steuerte den Wagen zum Bienville Square und noch ein paar Blocks weiter nach Süden und sprang dann raus. Ich bin einfach nur sitzen geblieben und habe geweint, bis meine Hände nicht mehr so gezittert haben. Keine Ahnung, wie ich heimgekommen bin.«
»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«
»Er hat meinen Führerschein genommen und gesagt, wenn ich die Polizei verständige, würde er bei mir zu Hause aufkreuzen.«
Als Ms Atkins den Blick abwandte, meldete sich ihre Tochter zu Wort.
»Ich bin heute Morgen bei meiner Mutter vorbeigefahren, um ein paar Sachen zum Nähen abzuholen. Als sie mir nicht in die Augen schauen konnte, wusste ich sofort, dass was nicht stimmt. Schließlich hat sie es mir erzählt.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile mit Ms Atkins, konzentrierten uns auf die wenigen Details, die sie trotz ihrer Angst registriert hatte. Sie willigte ein, ihr Fahrzeug von der Spurensicherung überprüfen zu lassen. Obwohl wir davon ausgingen, dass der Täter sie mit seinen Drohungen nur zum Schweigen bringen wollte, riefen wir den Leiter der Polizeidienststelle in ihrem Bezirk an und baten darum, dass seine Leute in den nächsten Tagen ein Auge auf Ms Atkins’ Haus warfen.
»Ein Köder«, meinte Harry, stellte seine Limodose auf die Motorhaube des Dienstwagens und lehnte sich an den Kotflügel. »Er hat die Geldbörse als Köder benutzt.«
»Das ist brillant«, fand ich. »Wer kann schon einem Geldbeutel widerstehen? Die Guten möchten helfen, die Bösen denken sofort an Bargeld und Kreditkarten.«
Wir parkten auf dem Damm, der den östlichen Teil der Mobile Bay mit der Stadt verband. In der Abenddämmerung glühte der Horizont vor dem indigoblauen Himmel in leuchtendem Orange. Im Osten funkelten gerade eben aufgegangene Sterne. In einiger Entfernung saßen drei ältere Männer auf Campingstühlen, fischten und griffen in regelmäßigen Abständen in die braunen Papiertüten, die neben ihnen standen.
»Er hat Ms Atkins zurück in den Wagen bugsiert und danach nicht mehr angerührt«, sagte ich. »Er hat ihr kein Haar gekrümmt.«
»Dafür hat er ihr aber mit dem Tod gedroht«, erinnerte Harry mich.
»Er hat behauptet, eine Waffe zu haben. Und zwei Stunden vorher hat er mir nichts, dir nichts eine Frau mit einem dreißig Zentimeter langen Messer abgeschlachtet. Warum hat er nicht gedroht, sie abzustechen und in dünne Scheibchen zu schneiden? Weshalb hat er ihr Auto nicht durchwühlt? Und was soll dieser Spruch mit ›erwartungsgemäß performen‹? Klingt schwer nach einem Scheiß-Aktienhändler.«
Harry schwenkte den Blick nach Süden und betrachtete den dunklen Horizont über der Mündung der Mobile Bay dreißig Meilen voraus.
»Die Nummer mit dem Geldbeutel hat er wahrscheinlich auch bei Taneesha probiert, aber sie hat wohl gehört, wie er angerannt kam. Bestimmt hat sie die Tür zugemacht und verriegelt. Vielleicht hat ihn das so auf die Palme gebracht.«
»Irgendetwas muss ihn ja sauer gemacht haben. Wie viele Stichwunden hatte Ms Franklin?«
»Über dreißig. Doch zuerst hat er ihr die Finger gebrochen. Ich kapier’ es einfach nicht. Warum bringt er eine Frau um und lässt drei Stunden später eine andere laufen?«
Ich zwang mich, im Geiste den Franklin-Tatort noch mal zu besuchen: Der Wookie bricht der jungen Frau die Finger. Ihre Schmerzen geben ihm einen Kick. Er dreht durch, sticht zu und hackt mit dem Messer auf sie ein. Dann wird er vom plötzlichen Eintreffen des Lasters unterbrochen, haut ab, rennt wie ein Wilder direkt auf die Scheinwerfer des Lasters zu, schert im letzten Moment aus und taucht in der Dunkelheit unter.
»Haben die Leute von der Spurensicherung Blut in Ms Atkins’ Wagen gefunden?«
»Kein Blut, keine Haare, nicht die geringste Spur«, antwortete Harry.
»Wenigstens haben wir das Messer.«
Harry trank die Dose leer, zerdrückte sie und spielte damit herum. »Ein Messer ohne Fingerabdrücke. Ein Irrer, der nirgendwo registriert ist.«
»Kriegt dieser Fall etwa langsam einen komischen Dreh, Bruder?«, fragte ich ihn.
»Langsam?«, entgegnete er.
Als ein Schiffshorn ertönte, drehten wir uns um und sahen zu, wie ein Frachter gemächlich aus der Mündung des Mobile River glitt. Die erleuchtete Schiffsbrücke befand sich auf dem Heck. Sonst brannte nur noch Licht am Bug. Zwischen diesen beiden Lichtpunkten lagen unsichtbar mehrere Meter Schiff. Eine Minute später schwappte das Kielwasser bei uns ans Ufer. Es hörte sich an wie Regen.