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Kapitel 1 Jetzt
ОглавлениеEine stationäre Wetterfront brütete Gewitterzellen aus, die von New Orleans bis nach Pensacola reichten. Es regnete in Strömen und Blitze zuckten am Himmel auf. Dann, als würde ein Schalter umgelegt, versiegte die Sintflut plötzlich und die Luft wurde samtweich. Zehn Minuten später lagen Erde und Himmel wieder im Clinch. Mobile, Alabama, war im Auge des Orkans.
»Was meinst du, Carson?« Mein Partner, Detective Harry Nautilus, spähte durch die Scheibenwischer. »Ist es an der Zeit, die Tiere paarweise einzuschiffen?«
»Was hältst du davon, wenn wir diesmal die Mücken draußen lassen?«
Es war halb zehn Uhr abends. Die Straßen waren wie ausgestorben und alle vernünftigen Menschen saßen daheim in ihrer warmen Stube. Harry und ich parkten in der Nähe der innerstädtischen Bibliothek. Wir schoben Spätschicht, die wir mehrmals die Woche übernahmen, da die meisten schweren Jungs Nachteulen waren. Nicht, dass wir heute von der Sorte viel zu Gesicht bekamen. Von den fünf Stunden im Wagen hatten wir zwei am Bordstein gestanden und vor lauter Regen nichts sehen können.
Das Funkgerät schaltete sich ein, doch das Übertragungssignal wurde von den Blitzen zerhackt.
»TP … Eldredge und … LKW-Fahrer auf dem Weg zum …enhaus.«
»Haben die TP gesagt?«, fragte Harry. TP stand für tote Person. Er schnappte sich das Mikrofon.
»Nautilus hier, Zentrale. Sie sind wegen der Störungen nicht richtig zu verstehen. Bitte wiederholen.«
»TP … Ecke Industrial und Eldredge. Wurde von einem LKW-Fahrer gemeldet. Fahrer ist mit Stechen in der Brust auf dem Weg ins Krankenhaus.«
Wir waren acht Blocks entfernt.
»Nautilus und Ryder bestätigen Eingang der Meldung«, antwortete Harry. »Wir machen uns auf den Weg.«
Mit einem Ruck warf er den Gang ein und raste mit dem Crown Vic Richtung Tatort. Bei dem Tempo produzierten wir vermutlich eine Heckwelle wie ein Schnellboot. Das Funkgerät knisterte wieder. Diesmal meldete sich nicht die Zentrale, sondern ein anderes Detective-Team, das ebenfalls in der Nähe war.
»Hier sind Logan und Shuttles. Wir sind näher dran, nur fünf Blocks weg. Wir übernehmen den Fall.«
Mit leisem Grunzen schaltete Harry das Mikro ein. »Nautilus und Ryder sind am Ball.«
»Seit wann treibt sich Logan um diese Uhrzeit draußen herum?«, wunderte ich mich. »Habe ich ja noch nie erlebt, dass der faule Sack nach halb sechs noch im Dienst ist.«
Aus dem Funkgerät knatterte Pace Logans Stimme. »Zentrale, hier ist Logan. Der Fall gehört uns, wir sind gleich da.«
Ich spürte, wie der Wagen beschleunigte. Harry knurrte: »Negativ, Zentrale. Carson und ich übernehmen.«
»Verfluchter Mist, Nautilus, der Fall gehört uns«, bellte Logan direkt ins Funkgerät, ohne über die Zentrale zu gehen.
Harry ließ das Mikro fallen. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, murmelte er, schaltete Sirene und Blaulicht ein und jagte so schnell um die Kurve, dass ich beinah in seinem Schoß landete.
Er heizte um die nächste Ecke und schlitterte auf eine Reihe geparkter Autos zu, die im Regen nur schemenhaft zu erkennen waren. Mit angehaltenem Atem wappnete ich mich gegen einen Zusammenprall, der sich aus unerfindlichem Grund nicht ereignete. Als wir über eine ausgestorbene Kreuzung rauschten, blinkte in der Parallelstraße einen Block weiter drüben Blaulicht: Logan und Shuttles. Wir waren drei Straßenblocks vom Tatort entfernt.
»Großer Gott, Harry. Das ist ja wie bei einem Straßenrennen.«
»Ich werde nicht noch mal hinter Logan aufräumen«, sagte er. »Das kommt überhaupt nicht in die Tüte.«
Pace Logan war ein mürrischer, hitzköpfiger alter Hase, der nur noch darauf wartete, in Rente zu gehen, einen Wohnwagen in Florida oder Branson zu kaufen und einer Reihe von einsamen Frauen, die er auf zweitklassigen Kegelbahnen auflas, das Leben zur Hölle zu machen. Logans siebenundzwanzigjähriger Partner Tyree Shuttles, der erst seit kurzem als Detective arbeitete, hatte das Pech gehabt, an einen Dinosaurier gekettet zu werden.
Vor sechs, sieben Wochen hatte Logans schluderiger Umgang mit Beweisen in einem Mordfall fast dazu geführt, dass dem Verteidiger die Einstellung des Verfahrens auf dem Silbertablett serviert wurde. Harry und ich waren in letzter, vielleicht sogar in allerletzter Minute dazugerufen worden. Wochenlang mussten wir zwölf Stunden am Tag Logans Ermittlungsschritte nachvollziehen und unsaubere Beweise durch neue Erkenntnisse ersetzen. Am Ende konnte Harry das Ruder gerade noch herumreißen, indem er mit Informationen aufwartete, die Logan in seinen eigenen Akten übersehen hatte.
Da ich den größten Teil meiner Zeit damit verbracht hatte, mich um unsere eigenen Fälle zu kümmern, von denen es wie üblich mehr als genug gab, hatte Harry die Sache eigentlich allein bearbeitet. Wir zwei schoben meistens Doppelschichten und am Ende lief es auch noch darauf hinaus, dass Harry den Besuch bei seinen Verwandten in Memphis verschieben musste. Deshalb war er immer noch auf hundert wegen des Schlamassels, den Logan angerichtet hatte.
Ich kurbelte das Fenster ein bisschen runter. Durch unser Sirenengeheul hindurch hörte ich das Martinshorn von Logan und Shuttles. Das Rennen war äußerst knapp.
»An der nächsten Ecke biegst du ab, Harry.«
An den Straßenenden stand je eine Funkstreife und versperrte eine Kreuzung am Rand des Lagerhallenbezirks. Auf einer Ecke befand sich ein Großhändler für Restauranteinrichtungen, schräg gegenüber war eine Großwäscherei.
Aus der einen Richtung rasten wir die Straße hinunter, Logan und Shuttles näherten sich aus der anderen. Mitten auf der Straße stand ein Sattelschlepper und nur ein paar Meter vor dem Kühlergrill des großen Lastwagens ein roter Mazda. Harry kam schlitternd zum Stehen und stürzte in den Regen hinaus. Er nahm sich nicht die Zeit, sich eine Jacke überzuwerfen. Ich zog meinen Plastikregenschutz an und folgte ihm.
Mit großen Schritten platschte Harry auf den Mazda zu, während Logan aus seinem Dienstwagen sprang und fast auf der Stoßstange des Mazda landete. Logan baute sich vor Harry auf, stieß mit seinem Finger in dessen Brust und brüllte wütend los. Die uniformierten Beamten, von der bevorstehenden Auseinandersetzung angezogen, rückten näher. Während ich zu der Szene hinüberlief, rann mir der Regen in die Augen.
»Das ist mein Tatort, Nautilus«, meinte Logan. »Steig wieder in deine Karre und zieh Leine.«
»Das wird nicht passieren, Logan«, erwiderte Harry. »Der Fall gehört uns.«
»Ich bin länger bei der Truppe als du, Nautilus.«
»Dann geh doch zum 50-plus-Treff«, schlug Harry vor. »Noch mal rette ich deinen wertlosen Arsch nicht.«
Logan erstarrte. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Das war ein Fehler der Gerichtsmedizin und nicht meiner.«
»Du hättest den Fall fast versaut, Logan«, zischte Harry. »Hab jetzt wenigstens den Schneid, dafür einzustehen.«
Logan ballte die Hände zu Fäusten. »Nautilus, dafür, dass du so ein schlichtes Gemüt hast, bist du ein ganz schön scheinheiliger Hurensohn.«
»Und dafür, dass du ein Cop bist, hast du verdammt viel Ahnung von Strafverteidigung, Logan.«
Logan stieß einen wütenden Laut aus und wollte Harry die Faust in die Magengrube jagen. Harry blockte den Schlag ab, umklammerte Logans Handgelenk, drehte sich und kniete sich hin. Logan ging zu Boden. Harry zog Logan den Arm auf den Rücken. Der alte Detective krümmte sich auf dem nassen Gehweg, fluchte und drohte uns.
»Messer!«, rief jemand. Dieses Wort beschwor Albträume herauf. Alle erstarrten, drehten die Köpfe, tasteten nach dem Pistolenhalfter.
»Nur die Ruhe, Jungs«, sagte Tyree Shuttles, der einen Schritt hinter dem Mazda stand und auf den im Dunkeln liegenden Bordstein deutete. »Ich habe ein großes Messer gefunden. Hier im Rinnstein.«
Harry ließ Logans Handgelenk los. Logan, ein starker Raucher, richtete sich keuchend und pfeifend auf. Er lehnte sich an den Mazda, um Atem zu holen. Offenbar erregte irgendetwas am Bordstein seine Aufmerksamkeit, denn einen Moment lang stand er nur wie angewurzelt da. Ich wandte mich um und schaute in seine Richtung, entdeckte aber nur Wasser, das den Rinnstein hinunterfloss und im Gulli verschwand.
Harry und ich gingen zu Shuttles hinüber, der vor einem metallenen Gegenstand neben dem Gulli kniete. Nur ein Stück des Griffs ragte aus dem Wasser. Logan kam schnaufend näher, musterte zuerst die Waffe, dann Shuttles. Harry wich zurück, stieß einen Seufzer aus und war so höflich, aus dem Stegreif eine Vorgehensweise zu erfinden.
»Shuttles hat ein Beweisstück gefunden, Logan. Also kriegt ihr den Fall.«
Logan lehnte sich an die Fahrertür des Mazda und warf einen Blick in das Fahrzeug. Nachdem er einen Augenblick ins Wageninnere gestarrt hatte, fischte er seine Taschenlampe heraus, spähte wieder in den Wagen und schüttelte den Kopf. Und dann lachte er ohne eine Spur von Humor.
»Du willst diesen Fall, Nautilus? Er gehört dir.«
Logan machte auf dem Absatz kehrt, marschierte zu seinem Dienstfahrzeug zurück und klemmte sich auf den Beifahrersitz. Shuttles drehte sich kurz zu dem Wagen um, in dem Logan saß und schmollte. Der junge Detective schaute verlegen drein.
»Tut mir leid, wie Pace sich eben verhalten hat«, meinte Shuttles. »Er ist seit ein paar Wochen schlecht drauf.«
Harry wischte sich den Regen vom Gesicht, trat einen Schritt näher an Shuttles heran und senkte die Stimme, damit die Uniformierten ihn nicht hörten. »Ich weiß, du wirst nicht darum bitten, dass man dir einen anderen Partner gibt, Tyree. Das respektiere ich. Aber lass dich in einen anderen Bezirk versetzen. Auf die Weise kriegst du auch einen neuen Partner. Logan wird deiner Karriere nicht förderlich sein.«
»Pace geht in zwei Monaten in Rente, Harry. Dauert also nicht mehr lange, bis er weg ist.«
»Bist du sicher?«
Shuttles nickte.
Harry verpasste dem jungen Detective einen sanften Klaps auf die Schulter und meinte: »Halt durch.«
Der schlanke schwarze Beamte schlenderte zu seinem Fahrzeug hinüber, blieb stehen und drehte sich zu Harry um. Seine Lippen formten ein »Danke«. Dann stieg er ein, schaltete den hinter dem Kühlergrill flackernden Warnblinker aus und fuhr weg. Ich beneidete ihn nicht um den Rest seiner Schicht, denn Logan würde die ganze Zeit meckern, jammern und Geschichten erfinden, wie man ihn übers Ohr gehauen hatte.
Harry sagte den Streifenpolizisten, dass die Show vorbei war und sie den Verkehr umleiten sollten für den Fall, dass ein Wagen auftauchte. Ich zog Latexhandschuhe an und öffnete die Tür des Mazda. Da sich der Darm des Opfers entleert hatte, roch es in dem Fahrzeug schwer nach Blut und Exkrementen. Die Tote lag quer über dem Schaltknüppel, ihr Kopf auf dem Beifahrersitz und die mit Perlen verzierten Zöpfchen standen wie bei einer Stoffpuppe in alle Richtungen ab. Die Nase schien gebrochen zu sein. Die Unterlippe war aufgeplatzt. Ihr Körper war von Wunden übersät. Die blutgetränkte Bluse schimmerte. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.
Ich atmete tief durch und fuhr mit meiner visuellen Bestandsaufnahme fort. Eine Hand sah eigenartig aus. Sie hing vom Beifahrersitz herunter, kaum sichtbar im Dunkeln. Als ich auf die andere Seite trat und die Tür aufmachte, bestätigten sich meine Befürchtungen. Drei Finger waren gebrochen, an den Knöcheln zurückgebogen. Dieser Anblick hatte etwas Verstörendes, so als wäre die Hand falsch zusammengesetzt worden.
Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was aus dem Fahrzeug entwendet worden war. Jemand hatte die Stereoanlage herausgerissen. Die Drähte hingen lose herunter. Das Handschuhfach stand offen, der Inhalt war im ganzen Auto verstreut. Halb aufgefaltete Karten, der Kraftfahrzeugbrief, das Handbuch und der Reifendruckmesser lagen am Boden. Die Sonnenblenden waren heruntergeklappt. Manchmal klemmten die Fahrzeughalter ein paar Dollar dahinter für gebührenpflichtige Straßen oder Parkuhren. Überall war Blut, gerade so, als wäre das Innere mit einer Arterie abgespritzt worden.
Ich wusste schon, weshalb Logan uns den Fall überlassen hatte. An diesem Tatort beschlich einen sofort ein mieses Gefühl. Ein Blick genügte, um den Gruselfaktor abschätzen zu können. Wieder musterte ich die Frau, bis mir ganz flau im Magen wurde. Als ich den Geruch nicht mehr ertragen konnte, wich ich zurück.
»Man hat sie verprügelt und hinterher aufgeschlitzt«, erklärte ich Harry. »Das hier ist richtig schlimm.«
Harry war zum Wagen gegangen, um seine Regenjacke zu holen. Nicht, dass sie ihm jetzt noch von Nutzen sein konnte. Er steckte den Kopf in den Mazda, blickte prüfend im Innenraum umher und speicherte die Bilder im Kopf ab. Hin und wieder veranlasste ihn ein Detail zu ächzen oder zu seufzen. Er inspizierte den Boden unter den Füßen der Frau, fuhr mit der Hand in das Fahrzeug, berührte den Boden und untersuchte seine Fingerspitzen. Anschließend richtete er das Licht der Taschenlampe auf eine Stelle gleich neben der Tür und wiederholte den Vorgang.
»Was ist denn, Bruder?«, drängte ich.
Harry hörte mich nicht. Er drehte das Gesicht Richtung Himmel, als suche er dort oben nach Antworten auf eine Frage.