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Kapitel 13
ОглавлениеHarry rückte einen Stapel Vordrucke auf seinem Schreibtisch beiseite und legte einen neuen auf die freigeräumte Stelle.
»Bist du in Ordnung, Cars?«
»Sicher, Harry. Wieso?«
»Du hast etwa drei Worte gesagt, seit du heute Morgen hier aufgetaucht bist. Wie war die große Sause von Channel 14? Tanzen und sich unter die feinen Leute mischen? Das war doch dieses Wochenende, oder?«
»Es war nett.«
Ich ahnte, dass Harrys Antenne meinen Kummer registrieren würde, wenn ich keine Einzelheiten erzählte. Also lieferte ich ihm eine kurze Zusammenfassung des Abends: schlechte Musik, großartiges Essen, erstklassige Getränke, Unmengen von Geschäftsgesprächen.
»Und außerdem konnte ich einen Blick auf die oberen Zehntausend von Mobile werfen, eine Familie namens Kincannon. Die waren so –«
Harry unterbrach mich. »Hast du Buck kennengelernt?«
Ich starrte meinen Partner an, als wäre gerade eben ein pflaumenfarbenes Hütchen auf seinem Kopf aufgetaucht.
»Wie bitte?«
»Buck Kincannon. Hattest du Gelegenheit, dich mit ihm zu unterhalten?«
»Woher, zum Teufel, kennst du Buck Kincannon?«
»Vor vier, fünf Jahren habe ich mit einer Bürgervereinigung in North Mobile zusammengearbeitet, in der Nähe von Pritchard. Erinnerst du dich noch?«
»Ich weiß noch, dass du ein paar Monate lang jeden Abend beschäftigt warst. Und auch an den Wochenenden. Hatte das nicht irgendwas mit Baseball zu tun?«
Er nickte. »Die Vereinigung hat sich dafür eingesetzt, dass Kids aus ärmeren Stadtvierteln Sport treiben, Baseball. Kinder im Alter von zehn bis vierzehn. Nach dem Motto: Rauf aufs Spielfeld, runter von der Straße. Bei dem Versuch, gebrauchte Sportsachen und so zusammenzutragen, sind wir gegen die Wand gelaufen. Wir haben auch versucht, die Stadt dazu zu bewegen, uns ein ungenutztes Spielfeld fürs Training zu überlassen, doch die Bürokraten haben nur an Haftungsfragen gedacht. Mardy Baker, der Leiter einer sozialen Einrichtung, hat Briefe an alle großen städtischen und karitativen Organisationen geschickt und versucht, Geld aufzutreiben, ohne etwas zu erreichen.«
Harry hielt inne und grinste, als erinnere er sich an einen besonders schönen Vorfall.
»Und wo kommt Kincannon ins Spiel?«
»Einer der Briefe ist an die Stiftung der Kincannon-Familie gegangen, eine philanthropische Einrichtung. Bei unserem nächsten Treffen ist Kincannon aufgetaucht und hat das Scheckbuch gezückt.«
»Sprich weiter.«
»Und auf einmal haben unsere abgerissenen Kinder teure Schläger, Handschuhe von Rawlings und super Trainingsklamotten gekriegt. Das lag nicht nur am Geld, sondern am Einfluss. Als wäre er mit einer Einkaufsliste ins Rathaus gelaufen und hätte gesagt: ›Das hier will ich.‹ Zwei Tage später waren die Genehmigungen ausgestellt und die Versicherung kein Thema mehr. Alle Probleme waren wie weggeblasen. Das alte Spielfeld kriegte einen neuen Rasen verpasst. Sand und Erde wurden angekarrt für die Grundlinien und ein Wurfmal für den Werfer gab es auf einmal auch. Und Ränge, wo die Eltern sitzen und ihre Kinder anfeuern konnten.«
»Dann warst du also dabei, als Kincannon den Zauberstab schwang?«
»Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Müttern und einer Hand voll Typen, die in der Gemeinde aktiv sind. Sie hatten mich dazu auserkoren, mit Buck zu sprechen, wo ich doch ein großer und wichtiger Cop war und so. Wir sind zusammen Mittagessen gegangen. Er hat alles geplant und ich habe nur genickt und gesagt: ›Klar doch, Buck, das klingt gut.‹«
»Und was hältst du von diesem Kincannon?« Ich versuchte betont lässig zu klingen.
Harry streckte beide Daumen hoch. »Er hat sich richtig reingehängt, hat den Typen in der Stadtverwaltung den Kopf zurechtgerückt und einen festen Zeitplan aufgestellt. Man rechnet nicht damit, dass Menschen, die so viel Macht und Einfluss haben, die Ärmel hochkrempeln und sich reinknien. Wenn du mich fragst, ist der Typ cool.«
Ich hörte nicht mehr zu, sondern nickte und grunzte nur hin und wieder, während Harry die engelsgleichen Taten des heiligen Buck aufzählte.
»… bei der Eröffnung des Spielfeldes hättest du die Augen der Kinder sehen müssen. Buck hat hinterher gesagt, es wäre einer der Höhepunkte seines …«
Nicken. Grunzen. Nicken. Grunzen.
»… die ganzen Politikerärsche kamen angekrochen und taten so, als wäre alles ihre Idee gewesen. Stellten sich neben Buck und ließen schnell noch Fotos schießen …«
Nicken. Grunzen.
»… denke mal, du kriegst alles hin, wenn du genug Kohle hast …«
Ich war gerade zwischen Nicken und Grunzen, als mir einfiel, dass ich Gefängnisleiter Malone oben in Holman anrufen und mich erkundigen wollte, wie es um Leland Harwood bestellt war. Ich ging in das kleine Besprechungszimmer, weil es dort ruhig war, doch Harry folgte mir und sang immer noch Loblieder auf Buck Kincannons glorreiche Taten.
»Sieht auch gut aus, der Mann. Muss die Mädels wahrscheinlich morgens gleich haufenweise vor die Tür schieben …«
Wir traten ins Besprechungszimmer. Ich wählte die Nummer des Gefängnisses und schaltete den Lautsprecher, einen schwarzen Plastikseestern, in der Mitte des runden Tisches ein. Kurz darauf ertönte Malones Stimme.
»Leland Harwood ist zwei Stunden, nachdem er im Besucherraum umgekippt war, gestorben. Hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt.«
»Gift«, meinte ich.
»Ein wahres Hexengebräu aus Toxinen. Organophosphate, heißt es im Bericht. Der Ausdruck ist mir noch nie zu Ohren gekommen. Pestizide, Herbizide, verschiedene Industriereiniger.« Ich hörte das Papier in Malones Hand rascheln, während er vom Blatt ablas.
»Und wo ist all das Zeug hergekommen?«, fragte Harry.
»Ist alles hier drinnen erhältlich, Detective«, antwortete Malone. »Reinigungsmittel, Rattengift, Farbverdünner. Sie werden weggeschlossen, aber …«
»Dann gibt also jemand etwas von dem Zeug auf Harwoods Rühreier, und ein paar Stunden später fällt er tot um?«
»Der Arzt hat gesagt, man muss die Bestandteile schon richtig mischen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen oder, wenn ich es mal krass ausdrücken darf, um einen richtigen Knaller für sein Geld zu kriegen.«
»Bei Harwood hat’s definitiv richtig geknallt«, lautete mein Kommentar. »Hatte er Feinde?«
»Ich habe das überprüft und die Antwort lautet: eigentlich nicht. Er war zwar ein Klugscheißer, doch es ist ihm gelungen, sich aus den derberen Auseinandersetzungen rauszuhalten. Genau die richtige Strategie, wenn man vor dem Bewährungsausschuss den Engel spielen möchte.«
»Haben Sie Giftmörder bei sich einsitzen?«, erkundigte sich Harry.
»Gleich mehrere, aber wir halten sie, um es mal so zu formulieren, von der Speisekammer fern. Laut Arzt hätte jeder mit Zugang zu den einzelnen Bestandteilen das Gebräu mixen können … mit etwas Hilfe von jemandem, der Böses im Schilde führt, die richtige Formel kennt und in der Highschool Chemie hatte.«
»Informationen, die auch von draußen gekommen sein könnten.«
Obwohl Malone lachte, schwang da kein Humor mit. »Stellen Sie sich mal ein paar Typen im Besucherraum vor. Der von draußen sagt: ›Löse zwanzig Kakerlakentabletten in Alkohol auf, lass das Gebräu zwei Tage stehen und misch dann …‹«
»Okay, wir haben kapiert«, stöhnte Harry.
Wir baten Malone, uns auf dem Laufenden zu halten. Harry schaltete den Seestern aus, schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Wenn ich das nächste Mal vor Logan am Tatort sein will, könntest du mich dann bitte vorher erwürgen.«
»Daran habe ich auch gerade gedacht. Und wie machen wir jetzt weiter?«
»Lass uns bei Harwood noch ein bisschen tiefer graben. Wir sollten die Akte von dem Typen wälzen. Und mit Leuten reden, die den Verstorbenen kannten. Vielleicht finden wir sogar raus, warum Taneesha Franklin sich für einen Kerl wie Harwood interessiert hat.«
Ich saß am Computer und verschaffte mir einen Überblick über Harwoods Fall. Harry beugte sich über meine Schulter und las, was auf dem Bildschirm auftauchte.
»Bernard Rudolnick hieß Harwoods Opfer«, sagte Harry stirnrunzelnd. »Doktor Bernard Rudolnick.«
»Wurde in einer Bar getötet, richtig?« Ich scrollte zur entsprechenden Information hinunter, während Harry die Einzelheiten laut vortrug.
»In der Citadel Tavern, einem Schuppen, wo sich der Abschaum trifft. Zuerst gab es drinnen, an der Bar, ein Handgemenge, danach sind die Männer vor die Tür gegangen. Aus einer Waffe löst sich ein Schuss und es gibt einen lauten Knall in der Nacht. Der Schütze hat sich vom Acker gemacht, doch unsere Kollegen, das Beste, was Mobile zu bieten hat, haben ihn ein paar Stunden später aufgegriffen.«
Ich starrte eine Weile lang auf den Bildschirm. »Doktor? Mediziner?«
»Psychiater«, meinte Harry. »Könnte wetten, in der Citadel sind nicht viel Gäste Seelenklempner. Eine Schande, dass der Einzige, den sie hatten, den Abend nicht überlebt hat.«
Es war Zeit, das Ergebnis der Voruntersuchung von Taneesha Franklins Autopsie abzuholen. Ich nahm die Treppe, warf einen Blick in die zweite Etage und sah Sally Hargreaves an ihrem Schreibtisch sitzen und mit ausdrucksloser Miene die Wand anstarren. Sallys Job – sie bearbeitete Sexualdelikte – war selbst an guten Tagen ziemlich hart. Auf dem Weg nach unten dachte ich darüber nach, dass Sally eigentlich nicht der Typ war, der Wände anstierte. Ich lief wieder hoch und trat an ihren Schreibtisch.
»Was ist denn, Sal? Du siehst aus, als wäre deine Katze in den Staubsauger geraten.«
Als sie sich umdrehte, hellte sich ihre Miene auf. Sie strich eine rotbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte gekünstelt.
»Hallo, Carson.«
»Bist du okay?«
Sie warf einen Blick auf den Bericht, den sie dabei war zu schreiben, und schüttelte den Kopf.
»Bin gerade aus dem Krankenhaus zurück. Das Opfer wurde vergewaltigt. Unter anderem.«
»Harter Fall?«
»Durch und durch hässliche Geschichte. Richtig bizarr.«
Ich zog den Stuhl von einem freien Schreibtisch heran und setzte mich zu Sally. Der Schreibtisch hatte ihrem Expartner Larry Dayle gehört. Nach vier Monaten in der Abteilung Sexualdelikte hatte Dayle den Job hingeworfen, war mit seiner Familie in die Berge von Montana gezogen und hatte sein Grundstück mit Stacheldraht eingezäunt.
Auf dieser Etage, wo die Abteilungen Sexual- und Eigentumsdelikte untergebracht waren, herrschte Ruhe, da die meisten unterwegs waren. Ich nahm Sals Hand.
»Möchtest du einem Freund das Herz ausschütten? Ich kann Harry holen.«
Sie lachte, doch dann begann sie zu schluchzen. Einen Moment später riss sie sich zusammen und wischte eine Träne weg. Ihr Mitgefühl machte Sal so gut in ihrem Job. Die Kehrseite der Medaille war, dass die Fälle sie nicht losließen.
Sie sagte: »Eine Frau, fünfundzwanzig Jahre alt. Studentin. Wurde vor zwei Tagen nachts auf der Straße überfallen und gewaltsam in ein Fahrzeug gezerrt. Anschließend hat der Täter sie irgendwohin gebracht, wahrscheinlich in eine Scheune. Das hat sie aus dem Geruch geschlossen. Und hinterher hat man sie aus dem fahrenden Auto geworfen, auf den Parkplatz von einem Krankenhaus.«
»Eigenartig. Wurde sie vergewaltigt?«
»Und schwer misshandelt. Ihr Gesicht … es wird lange dauern, bis die Chirurgen es wieder so weit hergestellt haben, dass man es Gesicht nennen kann. Sie wollte Kinder. Das kann sie jetzt vergessen. Ihre Gebärmutter, ihre Scheide wurden …«
»Schhh«, machte ich.
»Der Typ, der das getan hat, er hat gelacht und gebrüllt: ›Sieh mich an, Schlampe, sieh mich an!‹, während er auf sie eingedroschen und ihr all das angetan hat. Und dann hat er sie wieder geschlagen und geschrien: ›Schau mich an und sag mir, was du siehst.‹«
»Konnte sie ihn beschreiben?«, fragte ich.
»Nein.«
»Hat der Täter eine Maske getragen?«
Sally schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was dann?«, wollte ich wissen.
Sally verbarg das Gesicht in den Händen.
»Ach, Carson. Sie ist blind. Das Opfer ist von Geburt an blind.«
Auf der Fahrt ins Leichenschauhaus dachte ich über die Vergewaltigung nach. Ich hatte nie in der Abteilung Sexualdelikte gearbeitet, doch als Mitglied des Psycho- und Soziopathologischen Ermittlungsteams hatte ich mich mit Sexualstraftätern beschäftigt. In dem Täter, den Sal beschrieben hatte, vereinten sich allem Anschein nach zwei Grundtypen: der auf Unterwerfung Fixierte, der sich einbildet, mit Fug und Recht zu handeln, und der sadistisch Veranlagte, der einen Kick daraus zieht, seinem Opfer Angst einzuflößen. Der erste Typus erniedrigt das Opfer zur Steigerung seines Selbstwerts und Selbstvertrauens. Der zweite ist brutal und legt meistens ein großes Maß physischer Aggression an den Tag, auch Folter.
Ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte, dass er die Frau vor dem Krankenhaus aus dem Auto geworfen hatte. Es war äußerst ungewöhnlich.
Plötzlich wurde es mir in dem Crown Vic viel zu eng. In der Hoffnung, mit frischer Luft meine düsteren Gedanken zu verscheuchen, kurbelte ich das Fenster herunter. Vor dem Leichenschauhaus parkte ich neben Clairs sportlichem kleinen BMW, der mehr kostete, als ich im Jahr verdiente. Clairs Exmann Zane Peltier, Mitglied der Mobiler Gesellschaft, gehörte zum alten Geldadel. Während der Scheidung war ein bisschen von seinem Vermögen auf sie übergegangen.
In diesem Augenblick kam ich auf die Idee, dass Clair bestimmt schon von den Kincannons gehört hatte, sie eventuell sogar persönlich kannte. Vielleicht konnte sie mir ja bei ein, zwei Fragen weiterhelfen, falls es mir gelang, sie während einer Unterhaltung beiläufig einzuflechten.
Da Clair nicht in ihrem Büro war, lief ich über den Flur und sah im Obduktionsraum nach. Sie lehnte in ihrem grünen Kittel an der Wand, während Lula Baker den Boden unter dem Obduktionstisch wischte. Lula hatte früher als Hausmeisterin in New Orleans gearbeitet und gehörte zu der großen Gruppe Heimatloser, die nach dem Hochwasser hierhergezogen waren.
»Hallo, Lula«, sagte ich.
»Morg’ Tect Ryd.« Lula war etwa dreißig Jahre alt, weiß, dürr und besaß die Begabung, die meisten Worte auf eine Silbe zu reduzieren.
»Das Ergebnis liegt da drüben, Ryder«, sagte Clair und schaute von einer Ausgabe des Morbidity and Mortality Monthly auf, eine der wichtigsten Fachzeitschriften für Pathologen, die von den Centers for Disease Control herausgegeben wurde.
»Ich wollte Sie noch etwas anderes fragen.«
»Und was?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich hab’s vergessen.«
Clair nahm ihre Lesebrille ab und musterte mich mit ihren bemerkenswert großen blauen Augen.
»Liegt möglicherweise daran, dass Sie nicht genug Schlaf kriegen. Sie haben dunkle Ringe unter den Augen.«
»Das liegt am Franklin-Fall. Da tut sich gar nichts.«
»Nehmen Sie Vitamine und achten Sie auf Ihre Ernährung. Vergessen Sie nicht zu schlafen.«
»Danke, Mom.«
Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Ich drehte mich um und tippte mir dann auf die Stirn, als wäre mir plötzlich etwas eingefallen.
»Neulich war ich auf einer Party von Channel 14, Clair. Ging dort ziemlich förmlich zu. Es waren eine Menge hohe Tiere da. Ich hatte halb damit gerechnet, dass ich Sie dort auch antreffen würde.«
»In absehbarer Zeit möchte ich nirgendwo auftauchen müssen, wo der Sekt in Strömen fließt. Sie sind da wohl nicht in Ihrem Element gewesen, was?«
»In absehbarer Zeit möchte ich keinen Smoking mehr tragen müssen. Sie kennen nicht zufällig eine Familie namens Kincannon, oder?«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Warum fragen Sie?«
»Die wurden da wie Könige behandelt. Habe noch nie miterlebt, wie sich so viele Leute verbeugen und den Kratzfuß machen.«
Clair wandte sich an die Putzfrau. »Das reicht, Lula. Sie können jetzt gehen.«
»Ist gut.«
Lula rollte den Mopp und Eimer zur Tür hinaus. Clair legte das Magazin der Centers for Disease Control auf eine Theke.
»Die Kincannons haben Geld, Carson. Und das heißt Macht. Viel Geld, viel Macht. Manche Menschen reagieren instinktiv, wenn sie in die Nähe von Mächtigen kommen. Und knicken ein.«
»Es waren auch eine Menge hoher Politiker da.«
»Politiker knicken noch schneller und öfter ein. Sie war auch da, oder? Eine ältere Frau mit weißen Haaren, gedrungen, unnahbar?«
»Ja. May-bell-line?«
»Maylene. Natürlich ist sie da gewesen. Sie ist immer da, auf die eine oder andere Weise.«
Da schwang etwas in Clairs Stimme mit, vielleicht Wut oder Resignation.
»Auf die eine oder andere Weise?«, fragte ich. »Was meinen Sie damit?«
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und runzelte die Stirn.
»Zwei meiner Pathologen haben Grippe. In drei Minuten muss ich mit meiner zweiten Obduktion beginnen. Hören Sie, die Kincannons tun viel für die Gemeinde und die Region. Spenden viele hunderttausend Dollar für Parks, Gesundheitseinrichtungen, Schulen, der Polizei … Unsummen von Geld.«
»Und?«
»Die Kincannons … nun, nur wenige von den ganz Reichen geben wirklich mit vollen Händen, Ryder.«
Ihre Worte hatten etwas Kryptisches und Clair neigte eigentlich nicht dazu, sich kryptisch auszudrücken.
»Sie meinen, die Kincannons besitzen so viel Geld, dass sie die Gemeinde damit zuschütten können?«
»Denken Sie mal darüber nach, aber woanders. Ich muss jetzt arbeiten.«
Ich holte tief Luft und sagte: »Und was ist mit Buck Kincannon?«
»Wollen Sie auf etwas ganz Bestimmtes hinaus?«
»Nein«, erwiderte ich. Ich hätte da eher eine ganze Liste von Fragen.
Clair nahm den Hörer des Telefons ab, das auf der Theke stand, und bat darum, dass man ihr den Leichnam brachte. Dann drehte sie sich in meine Richtung.
»Buck Kincannon ist momentan der Goldjunge der Familie, achtundvierzig Karat astreine Kincannon-Zucht. Die Alabama Times hat ihn in der Ausgabe vom letzten Monat als einen der zehn begehrtesten Junggesellen im Staat aufgeführt.«
Das war nicht das, was ich hören wollte.
»Wieso ist er momentan der Goldjunge, Clair?«
»Maylene Kincannon führt die Familie wie ein wettbewerbsorientiertes Unternehmen. Gut möglich, dass Nelson nächsten Monat auf dem Thron sitzt. Oder Racine, es sei denn, er säuft wieder und verdrückt sich. Race mag Frauen und Alkohol, aber vermutlich nicht in dieser Reihenfolge. Nun, falls Sie mir nicht zur Hand gehen wollen, wäre es jetzt an der Zeit, Reißaus zu nehmen.«
Ich nickte, ging Richtung Tür und trat gerade in den Flur, als sie meinen Namen rief. Ich hielt inne und drehte mich um.
»Die Kincannons, Ryder. Sie haben keine Grenzen überschritten, oder? Sie oder sonst wer ermitteln doch nicht in diese Richtung?«
»Nein, mich macht nur ein Lebensstil neugierig, den ich nie kennenlernen werde.«
Wieder musterte sie mich eindringlich. »Das meiste ist Fiktion. Halten Sie sich von diesen Leuten fern, Carson. Da ist für Sie nichts zu gewinnen.«
Ich holte den Obduktionsbericht am Empfang ab und verließ das Gebäude. So wie die Hitze vom asphaltierten Parkplatz aufstieg, war das eher ein August- als ein Maitag.
Grenzen überschritten?
Auf dem Weg zum Wagen ging mir Clairs Satz durch den Kopf. Ihre Wortwahl war seltsam. Und dann dieser beiläufig dahingeworfene Ratschlag, mich von den Kincannons fernzuhalten …
War das als Warnung gemeint gewesen?
Du drehst langsam durch, dachte ich und setzte mich ans Steuer. Die einzige Warnung, die es im Augenblick zu beachten gilt, lautet, deine Phantasie im Zaum zu halten.