Читать книгу Den Wölfen zum Fraß - Jack Kerley - Страница 9
Kapitel 3
ОглавлениеAls ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte der Himmel die Farbe von ungebranntem Ton. Harry und ich hatten bis drei Uhr morgens gearbeitet und alles zusammengetragen, was wir mit dem Namen des Opfers und dem Fahrzeugbrief herausfinden konnten. Donnergrollen in der Ferne kündigte eine neue Gewitterzelle an. Gerade als ich mir Kaffee einschenkte, läutete das Telefon. Danielle Danbury, meine Freundin, war am Apparat.
»Carson, kannst du vor der Arbeit bei mir vorbeikommen?« Ihre Stimme klang belegt.
»Stimmt was nicht, Dani?«
»Bitte mach schnell.«
»Bin schon unterwegs.«
Obwohl Danis Beruf – sie war Fernsehjournalistin – uns zu natürlichen Feinden machte, hatten wir uns im vergangenen Jahr notgedrungen zusammengetan, als wir Sammler von Serienmörder-Memorabilien aufspürten. Dieser bizarre Vorfall hatte Dani und mich – ihr Spitzname DeeDee wollte mir einfach nicht über die Zunge gehen – nach Paris verschlagen, wo wir gemeinsam einen älteren Kunstprofessor befragten. Während unserer Zeit in der Stadt der Lichter hatten wir uns ineinander verliebt, woran sich bis zu diesem Tag nichts geändert hatte.
Unsere unberechenbaren und langen Arbeitszeiten führten dazu, dass unsere Treffen eher zufällig als geplant stattfanden, und wenn man die Zeit, die wir schliefen, herausrechnete, verbrachten wir gerade mal fünfzehn Stunden die Woche miteinander. Zumindest war das die Norm gewesen, bis Harry vor ein paar Monaten Logans Chaosfall übernommen und ich achtzehn Stunden täglich gearbeitet hatte, damit bei uns nicht allzu viel liegen blieb.
Ich lief die Stufen meines auf Stelzen stehenden Strandhauses hinunter, sprang in meinen alten Pick-up und schaffte es in zwanzig Minuten zu Danis Haus. Sie trug ihre Reporterkluft: schicke Jeans, weiße Seidenbluse, burgunderfarbene Leinenjacke, eine Perlenkette und passende Ohrringe. Als Zugeständnis an die Kamera hatte sie das blonde Haar mit Unmengen von Spray festzementiert. Sie drückte eine Ausgabe von Woodwards und Bernsteins Watergate-Affäre an die Brust. Ihre Augen waren rot und geschwollen.
Mit klopfendem Herzen trat ich ein. »Was ist denn, Dani? Ist alles in Ordnung?«
»Ich bin okay, Carson. Es geht um eine Freundin … Sie ist gestern Abend ums Leben gekommen. Ermordet. Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen.«
Gestern Abend war nur ein Mord geschehen.
»Taneesha Franklin«, sagte ich und schloss Dani in meine Arme. »Ich war am Tatort. Es tut mir leid. War sie eine enge Freundin?«
Dani rieb die Augen und lehnte sich zurück, um mir ins Gesicht zu schauen.
»Wir waren eher so was wie Mentor und Schützling, würde ich sagen. Aber sie war ein wunderbarer Mensch.«
»War sie Reporterin?«
»Sie hat bei einem kleinen Radiosender namens WTSJ gearbeitet. Hat dort erst vor kurzem angefangen und über Stadtratsreffen, Einweihungen und labernde Politiker berichtet … die übliche Anfängernummer eben. Ich habe ein paar Mal mit ihr zu Mittag gegessen. Sie hat mir Fachfragen gestellt und ich habe Auskunft gegeben. Sie war klug und engagiert und ganz aus dem Häuschen wegen ihres kleinen Reporterjobs. Was ist passiert, Carson? Die Zeitung hat ihr nur vier Spalten gewidmet, aber ich kann zwischen den Zeilen lesen und es klang … übel.«
»Es war schlimm. Wahrscheinlich ein Raubüberfall, bei dem der Täter durchgedreht ist.«
Dani und ich kriegen in unserem Job so viele Lügen aufgetischt, dass wir einander nichts vormachen. Nicht mal kleine Notlügen gestehen wir uns zu. Dani hielt sich immer noch an der Watergate-Affäre fest. Ich tippte mit dem Finger auf den Buchdeckel und versuchte zu lächeln.
»Was deinen Lesestoff angeht, bist du aber dreißig Jahre hinterher, Baby.«
»Das war ein Geschenk von Teesh. Ich habe ihr erzählt, dass sich meine Ausgabe in ihre Einzelteile auflöst, und da hat sie mir eine neue besorgt. Vor ein paar Wochen kam sie damit an. Lies mal die Widmung, Carson.«
Dani schlug die erste Seite des Buches auf. Dort stand in hübscher und flüssiger Handschrift geschrieben:
»Ist das nicht toll?«, fragte Dani.
»Vielleicht eine Spur zu extrem.«
»Die Guten sind am Anfang immer so«, meinte Dani, während ihr eine Träne die Wange hinunterkullerte.
Harry traf ich im Präsidium. Zusammen fuhren wir ins Krankenhaus. Gestern Abend hatte man uns nicht erlaubt, den Lastwagenfahrer zu verhören, der die Tote gefunden hatte. Der Mann hatte einen Herzinfarkt erlitten, war jetzt aber wieder stabil.
Neben Arlin Dells Bett standen fünf verschiedene Apparaturen, die irgendetwas kontrollierten oder ihm tröpfchenweise eine Flüssigkeit verabreichten. Der Arzt gab uns fünf Minuten. Ich zog einen Stuhl heran. Harry lehnte sich an die Wand. Dell war blass und seine Stimme klang dünn. Er wirkte ein bisschen benommen, als hätte man ihm ein leichtes Narkotikum verabreicht.
»Ich bin gerade mit einer vollen Ladung Elektrogeräte vom Hof gerollt, die nach Memphis sollten. Ich fahre also diese Seitenstraße runter, es regnet in Strömen, und ich überlege schon, ob es die ganze Strecke bis Tennessee so gießt, als ich diesen roten Wagen mitten auf der Straße sehe. Ohne Licht. Und da latsche ich so fest auf die Bremse, dass sich der Anhänger fast quer stellt.«
»Haben Sie in der Nähe des Mazda jemanden bemerkt?«
Dell stieß einen Pfeifton aus, als würde er lachen oder husten. »Ein Affe ist aus dem Wagen gesprungen, direkt auf meine Scheinwerfer zugerannt, dann ausgewichen und im Dunkeln verschwunden.«
»Ein Affe?«, fragte Harry.
»Ich bin vom Sattelschlepper runtergestiegen«, fuhr Dell fort, »und habe einen Blick in den Wagen geworfen. Als ich sah, was da drinnen war, hatte ich das Gefühl, als würde eine Faust mein Herz zermantschen. Ich habe es gerade noch bis in die Fahrerkabine geschafft und die Polizei verständigt.«
»Sagen Sie mir, dass Sie nicht wirklich einen Affen gesehen haben.«
»Das war ein haariger Bursche.« Dell tätschelte seine Wangen. »Haare im Gesicht, Haare bis auf die Schultern. Wie ein Affe. Oder eins von diesen Dingern aus den Star-Wars-Filmen.«
»Ein Wookie?«, schlug ich vor.
Dell zuckte mit den Achseln. »Affe. Wookie. Oder vielleicht einer von diesen ZZ-Top-Typen.«
»Bärtige Täter gehen mir total gegen den Strich«, meinte Harry, als wir das Krankenhaus verließen und mit dem Crown Vic zu WTSJ, dem Arbeitgeber des Opfers, fuhren. »Der Scheißkerl muss sich nur rasieren und schon hat er ein nagelneues Gesicht.«
Ich war im Geiste gerade Dells Erinnerungen durchgegangen und hatte mir vorgestellt, hoch droben in einer Trucker-Kabine zu sitzen.
»Weißt du, was mir echt an die Nieren gegangen ist, Bruder? Der Täter ist direkt auf den Sattelschlepper zugerannt, in der letzten Sekunde ausgewichen und verschwunden. Ein paar Meter ist er schnurstracks Richtung Scheinwerfer gelaufen.«
Harry trommelte mit den Daumen aufs Lenkrand. »Scheinwerfer, laufender Motor, Fenster wie Augen … der Laster hätte einem Kerl, der gerade ein Kapitalverbrechen begangen hat, eigentlich eine Heidenangst einjagen müssen. Normalerweise läuft man dann doch in die entgegengesetzte Richtung.«
»Hat sich vielleicht eingebildet, er könnte den Laster angreifen«, gab ich zu bedenken. »War womöglich auf Crack oder PCP. Oder auch geisteskrank.«
»Das Messer hatte er schon weggeworfen. Es lag auf der anderen Seite des Fahrzeugs. Wenn er auf den Laster losgehen wollte, dann mit bloßen Fäusten.«
»Furchtloser Schweinehund«, meinte ich. »Oder völlig bekloppt.«
»Das sieht nicht gut aus«, bemerkte Harry. »Mir schmeckt keine der beiden Alternativen.«
WTSJ war in einem flachen Betongebäude in der Nähe von Pritchard untergebracht, einer Stadt im Norden von Mobile. Die Augen der Empfangsdame waren von Trauer umwölkt, doch sie rang sich ein Lächeln ab.
»Lincoln ist der Leiter des Senders. Er ist noch zwei Minuten auf Sendung.«
Sie führte uns in einen kleinen Vorraum. Lincoln Haley, den man durch eine dicke Fensterscheibe sehen konnte, saß im angrenzenden Studio. Der Leiter war Mitte vierzig, hatte ein kantiges Kinn und einen ordentlich getrimmten Bart. Seine hohe Stirn sprang deutlich hervor, als wären sämtliche Songs dort gespeichert. Hinter seinem Rücken standen CD-Regale. Er hatte einen schwarzen Kopfhörer auf und sprach in ein Mikrofon von der Größe einer Bierdose. Als er merkte, dass wir ihn anstarrten, signalisierte er uns mit den Fingern, dass er noch zwei Minuten brauchte, und beugte sich dann über das Mikro. Aus den Lautsprechern im Vorraum schallte seine Stimme.
»… und jetzt, zur vollen Stunde, die Nachrichten. Anschließend präsentiert Ihnen unsere Queen Bee, Miss Pearlie Winston, die besten Funk- und Bluesscheiben in den ganzen Vereinigten Staaten … Und nun kommen wir zum Spitzenreiter, Marlon Saunders …«
Musik ertönte. Haley stand auf, legte den Kopfhörer auf den Tisch und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. Der Mann war vollkommen erschlagen. In der Studiotür tauchte eine große, bunt gekleidete Frau auf, die Haley die Hand reichte. Kurz darauf trat er in Khakis, Sandalen und einem Pulli in den Vorraum. Seine Hände steckten in den Hosentaschen.
»Ich werde alles tun, was hilft, um dieses Tier zu kriegen, das Teesh auf dem Gewissen hat.«
Durch die Glasscheibe sah ich, wie die Frau die Kopfhörer aufsetzte und das Mikro zu sich heranzog. Sie holte tief Luft, und ein breites aufgesetztes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
»Hier ist Pearlie Winston, die Queen der Funkszene …«
Haley tippte auf einen Schalter und drehte damit den Lautsprechern den Saft ab.
»Pearlie ist total am Ende, aber sie hört sich an, als würde sie gleich ein Liedchen trällern. Das ist hart. Taneesha war für mich, für alle hier, wie eine Tochter. Sie war … w-war …«
»Erzählen Sie mir, wie Miss Franklins Job aussah«, bat Harry. »Und lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie mögen.«
Haley nickte und sammelte sich.
»Wir sind ein kleiner Sender, Detective. Wenn Pearlie nicht auf Sendung ist, verkauft sie Werbezeit. Wenn ich nicht sende oder irgendwelche Sachen manage, spiele ich den Elektriker. Teesh war unsere Reporterin, schrieb allerdings hin und wieder auch Werbetexte.«
»Sie sind wahrscheinlich noch nicht reif für eine Übernahme durch Clarity Broadcasting«, meinte ich. Clarity gehörte Channel 14, wo Dani arbeitete.
Haleys Blick verdüsterte sich. »Alles, was Clarity anfasst, verwandelt sich in Schrott. Profitablen Schrott, aber seelenlos.«
»Wie lange hat Ms Franklin hier gearbeitet?«, wollte Harry wissen.
»Sie hat vor zwei Jahren als Praktikantin angefangen. Das Mädchen besaß grenzenlosen Enthusiasmus.«
»Wollte sie DJ werden, auf Sendung gehen oder so was in der Art?«
»Über mehrere Monate hat sie die Mitternachtsendung gemacht, doch nur zwischen den Songs zu reden reichte Teesh nicht. Ihr Traumberuf war Reporterin. Teesh besaß die nötige Aggressivität und Energie. Sie brauchte nur noch den richtigen Schliff. Ich habe sie in unsere winzige Nachrichtenabteilung verfrachtet. Man hätte denken können, ich hätte ihr einen Job bei CNN besorgt.«
»Hat sie gestern Abend an einer Story gearbeitet?«, fragte Harry.
»Einen Auftrag hatte sie nicht, aber Teesh war ständig auf der Suche nach der großen Geschichte, wollte immer herausfinden, was niemand wissen sollte, wollte etwas ans Tageslicht bringen. Ich habe ihr klargemacht, dass wir für derlei Recherche nicht das Budget haben, doch für sie war es Training, dem sie in ihrer Freizeit nachging.«
»Ziemlich viel Selbstantrieb«, sagte ich.
»Wissen Sie, wem sie nacheiferte? Dieser Journalistin auf Channel 14, ähm, ich habe kein Namensgedächtnis … blond, große Augen, unverblümt, aber auch sexy …«
»Ähm, Danbury?«, schlug ich vor.
Haley schnippte mit den Fingern. »DeeDee Danbury. Teesh hat sich ein paar Mal mit Ms Danbury unterhalten. Hat ihr eine Menge Fragen gestellt. In Teeshs Augen war sie eine knallharte Lady, die ihren eigenen Kopf hat.«
»Das ist mir auch schon zu Ohren gekommen«, murmelte ich.