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Kapitel 6
Оглавление»Lassen Sie mich ein paar Minuten mit Ms Franklin allein, Clair?«, fragte ich. »Bitte.«
Dr. Clair Peltier, Leiterin der Mobiler Abteilung des Forensischen Instituts von Alabama, starrte mich mit atemberaubend blauen Augen an. Zwischen uns lag der Leichnam von Taneesha Franklin zugedeckt auf einem Edelstahltisch. Ihr Gesicht war von den Schlägen, die man ihr verabreicht hatte, entstellt; ihre nackten Arme, die unter dem Laken hervorschauten, waren von scharf gezackten Stichwunden übersät. Ihr Kopf war zur Seite gefallen und der breite Schlitz unter ihrem Kinn wirkte wie ein aufgerissenes, hungriges Maul.
»Ryder …«
»Drei Minuten?«
Sie seufzte. »Ich gehe mal den Flur hinunter und hole mir einen Kaffee. Dauert etwa zwei Minuten.«
»Danke, Clair.«
Sie winkte nur ab und verließ den Raum. Der Saum ihres grünen OP-Kittels flatterte beim Gehen. Nicht vielen Frauen gelang es, in einem grünen Baumwollkittel gut auszusehen, doch Clair bekam das hin.
Möglicherweise war das eine Eigenart von mir, aber als Ermittler – oder vielleicht auch nur als menschliches Wesen – trachtete ich danach, ein paar Minuten mit dem oder der Verstorbenen zu verbringen, ehe der Leichnam mit einem Y-Schnitt geöffnet wurde und sich in etwas anderes verwandelte. Ich brauchte einen Moment allein mit meinem Auftraggeber, denn ich arbeitete weder für die Stadt noch für den naiven Glauben an Gerechtigkeit. In Wahrheit arbeitete ich für die Person, die durch die Hand eines Anderen zu früh und zu Unrecht ihr Leben verloren hatte. Manchmal stand ich neben den Guten und oft auch neben den Schlechten, doch die meisten Menschen gehörten – wie der Rest von uns – in die breite Grauzone zwischen diesen beiden Extremen: Füße in der Erde, Kopf hoch oben im Himmel und das Herz irgendwo dazwischen.
Nach allem, was Harry und ich in Erfahrung gebracht hatten, war Taneesha Franklins kurzes Leben von ehrenhaften Handlungen bestimmt gewesen. Sie hatte sich auf das Wichtige konzentriert und ihr Bedürfnis, anderen zu Diensten zu sein, ausgelebt. Erst vor kurzem hatte sie den Journalismus für sich entdeckt und gehofft, auf diese Weise die Welt zu verbessern.
Gut für dich, Teesh, dachte ich.
Clair kam durch die Tür. Wortlos näherte sie sich dem Leichnam, nahm ein Skalpell und machte sich an die Arbeit. Ich stand auf der anderen Seite des Tisches, sah manchmal hin und schloss gelegentlich die Augen.
Normalerweise wohnte ich den Obduktionen bei, während Harry mehr Zeit im Büro des Staatsanwaltes zubrachte. Wir machten oft Witze darüber, dass ich mich lieber mit toten Körpern als mit lebenden Anwälten abgab. Tatsächlich fühlte ich mich im Leichenschauhaus ganz wohl. Hier war es kühl und ruhig, hier hatte alles seine Ordnung.
»Wo hat man sie gefunden, Carson?«, fragte Clair, während sie die durchtrennte Kehle und die heraushängenden Muskelstränge betrachtete.
»In einem Industriegebiet bei den Docks. Zwischen Lagerhäusern und kleinen Fabriken.«
»Also keine Menschenmassen? Niemand, der in der Nähe rumhing?«
»Normalerweise stehen dort Huren, doch an jenem Abend hat der Regen sie von der Arbeit abgehalten. Wieso wollen Sie das wissen?«
»Ihre Stimmbänder sind verletzt. Schwer verletzt.«
»Ist das auf Strangulation zurückzuführen? Oder auf das Messer?«
Clair schürzte die rosafarbenen Lippen. »Wahrscheinlich rührt die Verletzung daher, dass sie geschrien hat. Und ich frage mich, warum keiner sie gehört hat.«
Die Obduktion dauerte gute zwei Stunden. Clair zog die Latexhandschuhe aus und warf sie in einen Spezialmülleimer neben dem Tisch. Als sie den Mundschutz abnahm, sah ich, dass ihr Lippenstift einen Abdruck auf dem Stoff hinterlassen hatte. Clair zog die Haube ab und schüttelte die hübschen kurzen Haare, die schwarz wie Anthrazit glänzten. Dann legte sie die Hände auf die Hüften und drückte den Rücken durch.
»Ich werde zu alt für diesen Job, Ryder.«
»Sie sind vierundvierzig. Und in besserer Verfassung als so manche, die zehn Jahre jünger sind.« »Versuchen Sie nicht, mir zu schmeicheln, Ryder«, ermahnte sie mich. »Es sei denn, es lässt sich nicht vermeiden.«
Außer Gott war ich vermutlich der Einzige, der Clair mit dem Vornamen anredete. Da ich nicht ahnte, wie viel Wert sie auf Förmlichkeiten legte, hatte ich sie bei unserer ersten Begegnung so genannt. Alle anderen, die bei diesem Treffen dabei waren, verzogen aus Furcht vor einer rüden Zurechtweisung schon das Gesicht, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund ließ sie mein Verhalten durchgehen und redete mich im Gegenzug ausschließlich mit meinem Nachnamen an.
Bei unserem ersten Zusammentreffen hatte ich Clair fünf Jahre älter als tatsächlich geschätzt, was ihrer ernsten Miene und einem Ehemann Mitte sechzig geschuldet war. Später begriff ich, dass ihr Gesichtsausdruck viel mit dem Gatten zu tun hatte, denn Clairs Züge wurden beträchtlich weicher, nachdem sie besagten Herrn in die Wüste geschickt hatte.
Vor zwei Jahren hatte die Ermittlung in einem Mordfall Clairs Privatleben schwer durcheinandergewirbelt. Die Ermittlungsergebnisse hatten innere Blessuren bei ihr hinterlassen, und ich war in jenem schicksalhaften Augenblick, wo sie dringend jemand zum Reden brauchte, zur Stelle gewesen. Wir standen in ihrem Garten unter einem von Rosen überwucherten Bogen, als Clair, weniger mir als sich selbst gegenüber, Details aus ihrer Vergangenheit preisgab und plötzlich begriff, welche Schatten längst vergangene Ereignisse auf ihr Leben warfen und was sie bedeuteten.
Ihre Enthüllungen waren bestürzend, und obwohl mich die mir übertragene Rolle nicht gerade begeisterte, hatte sie in mir den Auslöser für ihren Transformationsprozess gesehen.
»Wann kann ich mit dem Ergebnis der Voruntersuchung rechnen?«, fragte ich und nahm meine Jacke von der Wandgarderobe.
»Morgen früh. Aber nicht vor halb elf.«
Obwohl unsere Beziehung rein beruflich war, hatte es Augenblicke gegeben, wie jener in ihrem Garten, wo die Welt sich kurz änderte und wir für einen flüchtigen Moment in der Lage schienen, uns gegenseitig mit selten klarem Blick zu sehen. Ein Reinkarnationsanhänger hätte wahrscheinlich vermutet, wir wären uns in einem früheren Leben begegnet und hätten ein Band geknüpft, das weder Zeit noch Raum kappen konnte.
»Dann bin ich morgen um halb elf hier, Clair.«
Im Weggehen rief sie noch ein paar Worte über ihre Schulter.
»Wie wäre es, wenn Sie Harry schicken? Wäre doch lustig, mal jemanden mit Verstand zu treffen.«
Zu gewissen Zeiten jedoch schien das Band sehr dünn zu sein.
Gerade als ich in den Crown Victoria steigen wollte, klingelte mein Handy. Harry war dran. »Hembree will uns im Labor haben. Wie wäre es, wenn du kurz vorbeischaust und mich aufgabelst. Ich warte draußen.«
Eine Viertelstunde später stürmten wir in die Spurensicherung. Hembree lehnte an einem Labortisch vor seinem Büro. Der Mann war so dünn, dass der Laborkittel wie ein Zauberermantel in losen breiten Falten an ihm herunterhing.
»Schöne Augen haben Sie, Harry«, meinte er.
Harry zwinkerte. »Danke, Bree. Und Sie haben einen niedlichen Hintern. Wollen wir nach der Arbeit nicht irgendwo einen Drink nehmen?«
Hembree runzelte die Stirn. »Ich war gerade dabei, den Wasserstand auf der Bodenabdeckung zu messen. Ich habe das hiesige Büro des National Weather Service angerufen und mit dem leitenden Meteorologen gesprochen. Sie archivieren die Niederschlagswerte. Er hat sich die Aufzeichnungen von gestern Abend angeschaut und dabei Zeit, Ort und Gewitterzellenaktivität überprüft.«
»Mit welchem Ergebnis?«, erkundigte sich Harry.
»Die Gegend, in der das Fahrzeug des Opfers stand, hat insgesamt nur leichten Regen abgekriegt. Es fiel dort weniger Niederschlag als sonst wo in der Stadt, zumindest eine Stunde, bevor der Wagen entdeckt wurde. Ungefähr zweieinhalb Zentimeter, bis man ihn fand.«
»Und warum war dann so viel Wasser im Wagen, Bree? Das war fast schon ein See.«
»Vielleicht hatte die Ablaufrinne seitlich am Dach ein Leck. Das Wasser könnte sich da gesammelt haben und dann in den Wagen geleitet worden sein. Ich werde das überprüfen.«
»Hat sich sonst noch was ergeben?«
Hembree sagte: »Das Messer, das Shuttles auf der Straße aufgelesen hat? Wurde vor Jahren von der Braxton Knife Company in Denver hergestellt. Der Griff ist aus Knochen, die Klinge aus Karbonstahl, nicht rostfrei, von daher die Korrosion. Das ist ein verdammt schönes Messer.«
»Und wie steht es mit Fingerabdrücken? Gibt es da was Neues?«
»Habe einen Daumen-, einen Zeigefinger- und einen Mittelfingerabdruck und ein Stück von der Handfläche gefunden, die ich mit jeder verfügbaren Datenbank gecheckt habe. Nada. Nichts. Pustekuchen.«
»Haben Sie eigentlich auch eine Wookie-Datenbank?«, fragte Harry.
»Was?«
Wir winkten ab und gingen zur Tür hinaus.