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Kapitel 11

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Und dann war Samstag, also der Tag, wo Danis Channel-14-Party stattfand. Der Franklin-Fall hatte meine geistigen Schaltkreise lahmgelegt, die für alltägliche Belange reserviert waren, und aus diesem Grund hatte ich vergessen, einen Smoking auszuleihen. Ich war gerade unterwegs, um Material für den Bau eines Kajakständers zu besorgen, als der glückliche Zufall mich an einem Geschäft für Abendkleidung in der Nähe der University of Alabama vorbeiführte und mein Gedächtnis wieder auf Vordermann brachte. Da ich mich mit Smokings in etwa so gut auskenne wie mit theoretischer Physik, ließ ich mich von einem jungen Angestellten mit stacheliger Punkfrisur beraten.

»Nichts Altes und Spießiges«, erläuterte ich, als mir wieder einfiel, wie viel der Anlass Dani bedeutete. »Lieber was Modernes, das Klasse hat.«

Um fünf warf ich mich in den geliehenen Smoking und zog auf der Fahrt zu Dani die Blicke auf mich, was bei einem Kerl in Abendkleidung, der einen acht Jahre alten, grau lackierten Pick-up mit Überrollbügel steuert, auch nicht verwunderte.

Dani wohnte am Rand des Oakleigh-Garden-Viertels mit prächtigen Anwesen aus dem 18. Jahrhundert. Es war ein hübsches altes Haus, in dem Dani lebte, und sie hatte am Weg entlang und unter den vorderen Bäumen überall Blumen gepflanzt. Vor dem bescheidenen zweistöckigen Haus wartete eine weiße Limousine am Bordstein, deren Fahrer es sich bequem gemacht hatte und die Daily Form las. Ich parkte vor der Limousine, ging den von Bäumen beschatteten und von Blumen gesäumten Weg zu ihrer Tür hoch, klopfte an und trat ein. Ihr Wohnzimmer mit der hohen Decke war lichtdurchflutet. Auf der einen Seite befand sich ein gusseiserner Kamin und auf der anderen stand eine rote Ledercouch mit passenden Sesseln. Mitten im Raum lag ein scharlachroter Teppich. Hier drinnen war es kühl und roch nach einem Badezusatz, wie ihn Frauen gern verwenden.

»Dani?«

Sie kam aus dem Esszimmer. Ihr Kleid war ein Schlauch aus glattem, glänzend rotem Stoff, der von den Schultern bis zu den Fesseln reichte und sich an ihren schlanken Körper schmiegte.

»Was für ein Kleid.« Ich grinste und ließ meine Hände über ihren Hintern gleiten.

»Wow«, sagte sie, packte meine Finger und trat einen Schritt zurück. »Ich muss aufpassen, dass es nicht schon gleich knittert.«

»Natürlich«, meinte ich. »Entschuldige.«

Inzwischen hatte sie Gelegenheit gehabt, mein verwegenes Outfit zu mustern. Ich rechnete mit Begeisterung, erntete allerdings ein Stirnrunzeln.

»Wo hast du dieses Ding denn her?«

»Von Tuxedo Junction. In der Nähe der Uni. Très chic, nicht wahr?«

»Sieht aus wie aus einem Kostümfundus.«

Ich befingerte den Kragen aus Pannesamt. »Der junge Mann im Laden hat gemeint, das wäre ein Westernschnitt. Und ziemlich angesagt.«

Dani schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Angesagt auf Abschlussbällen, Carson, aber nicht auf Abendveranstaltungen mit erwachsenen Gästen.«

Ich spürte, wie ich rot anlief. »Das wusste ich nicht. Vielleicht reicht die Zeit ja noch –«

»Ist schon gut«, antwortete sie und wandte den Blick ab. »Es geht schon.«

»Was hat das mit der Limousine da draußen auf sich?«, wechselte ich das Thema.

Sie lief zum Fenster. »Meinst du, die ist für mich? Könntest du mal nachfragen?«

Der Fahrer hatte den Auftrag zu warten, bis DeeDee Danbury aus dem Haus kam, sie abzufangen, mit dem weißen Wal zur Party zu bringen und kein Nein als Antwort zu akzeptieren.

»Hinten wartet eine Flasche kalter Champagner, Sir«, fügte er hinzu. »Gläser stehen im Seitenfach. Verschiedene Käsesorten und Shrimps sind im Kühlschrank.«

Ich holte Dani. Mit ausladender Geste öffnete der Fahrer den Wagenschlag und glitt so sanft vom Bordstein, als säßen wir in einer Monorailbahn. Ich schenkte Champagner ein und holte den Käse und die Shrimps heraus. Draußen rauschte Mobile an uns vorbei. Die Insassen anderer Fahrzeuge runzelten die Stirn, als sie versuchten, durch die verspiegelten dunklen Scheiben der Limousine zu spähen.

»Sieh doch mal, Carson«, meinte Dani und deutete mit dem Champagnerglas auf die anderen Fahrer. »Die sehen wie Affen aus.«


Die Channel-14-Party fand im Shrine Temple statt, einem barocken Exzess mit hoher Decke und Marmorboden. Unser Fahrer hielt vor dem Eingang und sprang hinaus, um uns die Wagentür zu öffnen. Wenn mich nicht alles täuschte, verneigte er sich sogar. Wir liefen Jenna Doakes über den Weg, der Wochenend-Nachrichtenmoderatorin, der meine Freundin den Spitznamen »die zickige Miss Überheblichkeit« verpasst hatte.

Doakes musterte die wegfahrende Limousine mit hochgezogener Augenbraue.

»Ist das nicht ein bisschen zu hollywoodmäßig, DeeDee?«

»Hast du etwa keinen gekriegt?«, fragte Dani.

»Wovon redest du?«

»Den Wagen hat mir der Sender geschickt«, erklärte Dani.

Doakes’ Grinsen fror ein. Verwirrung und Furcht spiegelten sich in ihrer Miene. Am Arm ihres Begleiters eilte sie davon und warf immer wieder einen Blick über die Schulter, als wäre Dani überirdisch groß und trüge einen Heiligenschein. Für die Soiree war der Ballsaal gebucht worden, zu dem ein Dutzend Marmorstufen hinunterführten, die von unten und oben mit Leuchtspots angestrahlt wurden. Das Einzige, was noch fehlte, war ein Mann mit Monokel, der die eintreffenden Gäste ankündigte.

Wir mischten uns unter die anderen Gäste. Ein riesiger Kronleuchter, der einer mit Glas verzierten Hochzeitstorte ähnelte, verbreitete angenehmes Licht. Vor den mit dunklem Samt bespannten Wänden des riesigen Raumes ragten im Abstand von etwa drei Metern hohe Säulen auf. Im hinteren Bereich wartete ein fünfzehn Meter langes Büfett mit Roastbeef, glasiertem Schinken, Shrimps, Krabbentörtchen, zahllosen Käse- und Brotsorten und Nachspeisen. Aus einer Fontäne floss Pfefferminzpunsch. Zwischen den Speisen standen drei Eisskulpturen, zwei Schwäne und das ein Meter große Channel-14-Logo.

Die drei Bars befanden sich etwas abseits. Barkeeper in schwarzen Westen arbeiteten in rasantem Tempo, um den Bestellungen Herr zu werden. Auf der Bühne begann sich eine zehnköpfige Band warmzuspielen.

Die runden Tische füllten sich schnell mit Angestellten, Kunden und Gästen. In der Nähe der Bühne erspähte ich einen freien Tisch. Wieso dort niemand Platz genommen hatte, begriff ich erst, als ich nah genug war und sah, dass auf dem Tisch ein Kärtchen mit dem Aufdruck RESERVIERT lag. Wir setzten uns zu Danis Kollegen. Von allen Anwesenden war ich der einzige, der einen Revolverheld-Smoking trug.

Als die Band loslegte, mischten wir uns unter die Leute. Dani bewegte sich wie ein Derwisch, grüßte diesen und jenen, schlenderte von einer Gruppe Feiernder zur nächsten. Irgendwann bekam ich die Gelegenheit, den Nachrichtenchef kennenzulernen, den sie sehr bewunderte. Der Mann hieß Laurel Hollings, war Mitte fünfzig und hatte einen Watschelgang. An Hollings’ Hemd fehlte ein Knopf. Er nuschelte ziemlich stark und holte immer wieder sein Handy heraus, als hoffe er auf eine Riesenkatastrophe, die es ihm erlaubte, sich zu verabschieden. Ich mochte Hollings sofort und konnte ihn gleich noch besser leiden, als er meinen Smoking bewunderte und sagte, er wünschte, er »hätte die Traute, so etwas anzuziehen«.

Dani redete mit Kollegen über die Arbeit, diskutierte Branchentrends mit Freiberuflern, plauderte mit Werbekunden des Senders – Autohändlern, Immobilienmaklern, Wohnwagenherstellern, Supermarktbesitzern – und schlug, abhängig vom Betreffenden, einen höflichen oder eher derben, lustigen Ton an. Nach einer halben Stunde hatte sie das Bedürfnis, sich kurz zu setzen.

Die nächsten freien Stühle gehörten zu dem immer noch nicht belegten, aber reservierten Tisch. Ich stellte mein Bier auf die weiße Tischdecke, nahm Platz und knabberte an einem Brötchen, während Dani die Schuhe auszog, ihre Zehen massierte und den Erfinder hoher Absätze verfluchte.

»Entschuldigen Sie, Sir«, ertönte eine Stimme hinter meinem Rücken und ein Finger tippte auf meine Schulter. Ich drehte mich zu einem Mann mit Schmollmund um, der eine Fliege und eine rote Weste mit einem Namensschild trug, auf dem EVENTMANAGER stand.

Ich legte das Brötchen auf den Tisch, griff nach meinem Bier. »Ja?«

»Es tut mir leid, aber dieser Tisch ist reserviert.« Er zeigte auf die Karte. Ich bemerkte, wie sein Blick auf meine Brötchenkrümel und den dunklen Kreis fiel, den meine Bierflasche auf dem Tischtuch hinterlassen hatte.

»Die Lady ruht nur ihre müden Füße aus. Wenn die Gäste, für die der Tisch reserviert ist, auftauchen, stehen wir sofort auf.«

»Es tut mir leid«, wiederholte er mit eisiger Stimme. »Hier darf niemand sitzen.«

»Ich möchte mich ja nicht mit Ihnen streiten, Kumpel …«, entgegnete ich und wollte anführen, dass wir ja genau das taten. Dani hörte, wie sich meine Stimme veränderte und ich den Ton anschlug, den ich mir für hochnäsige Vollidioten vorbehielt. Sie tippte mit dem Finger auf mein Handgelenk.

»Ach, lass nur, Carson. Da drüben ist ein freier Tisch. Komm mit.«

Wir erhoben uns. Der Eventmanager bedeutete einem Mitarbeiter des Personals, das Tischtuch auszuwechseln, als hätte ich es völlig versaut.

Die Band brach mitten in einer völlig unrhythmischen Version von »Smoke on the Water« ab und leitete zu »Hail, Hail, the Gang’s all here« über. Alle Köpfe drehten sich Richtung Eingang. Eine Gruppe von drei Männern und drei Frauen erschien oben auf der Marmortreppe, während die Fotografen herbeieilten, um Bilder zu schießen. Hinter den sechs warteten noch weitere Neuankömmlinge.

Vorn in der ersten Gruppe stand ein Mann in den Vierzigern, an dessen Arm eine ältere Frau hing. Sie war die einzige Person in dieser Truppe, die nicht aussah, als wäre sie geradewegs einer Vogue-Sonderausgabe zum Thema Abendkleidung entsprungen: Sie hatte weiße Haare, ein grobschlächtiges Gesicht und kohlrabenschwarze Augen. Sie war nicht dick, aber stattlich wie ein prämierter Holsteiner in einer Designertoga.

Der großgewachsene Mann führte sie zu dem freien Tisch, während Schmollmund schnell das RESERVIERT-Kärtchen wegnahm. Erst nachdem die Frau Platz genommen und genickt hatte, wagten die anderen sich zu setzen.

Diese Nummer veranlasste mich zu kichern. »Sieht aus, als hätte der Buckingham Palace Ausgang.«

»Das sind die Kincannons, Carson. Sicher hast du schon von ihnen gehört.«

An irgendetwas erinnerte mich der Name. »In der Polizeiakademie hängt eine große Tafel, auf der ein Kincannon erwähnt wird. Vielleicht sind es sogar mehrere. Sponsert die Familie irgendein Programm?«

»Ein Stipendium, könnte ich mir denken. Die Familie gibt viel für Stipendien, Spenden und Begabtenförderung aus.«

Ich musterte den großgewachsenen Mann. Er war gut gebaut und der maßgeschneiderte Smoking betonte die breiten Schultern und die schmale Taille. Sein Gesicht war lang und kantig. Hätte er sein Gesicht zur Reparatur schicken wollen, hätte es hervorragend in einen Schuhkarton gepasst. Nach den bewundernden Blicken der umstehenden Frauen zu urteilen, brauchte sein Gesicht jedoch weder repariert noch überarbeitet zu werden. Er schien sich dessen bewusst zu sein, denn er stand nicht nur einfach so da, sondern nahm nacheinander mehrere Posen ein. Beim Reden legte er die Hand ans Kinn, verschränkte die Arme, neigte den Kopf oder zog eine dunkle Augenbraue hoch, während er die Schulter eines Kollegen massierte. Er wirkte wie ein Schauspieler, der einen erfolgreichen Geschäftsmann mimte.

»Wer ist der hübsche Kerl, der sich da so mustergültig in Szene setzt?«, fragte ich. »Kommt mir vor, als hätte ich ihn schon mal gesehen.«

Dani ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. »Das ist Buck Kincannon Jr., Carson. So etwas wie der Stammhalter.«

»Und was für einer Beschäftigung gehen Stammhalter heutzutage nach?«, wollte ich wissen. »Oder zumindest der hier?«

»Der Mann sammelt Autos, Kunst und Antiquitäten. Segelt. Kriegt viele Auszeichnungen für die Rinder, die er züchtet.«

»Kein schlechter Job, so man ihn denn kriegen kann.«

»Er kümmert sich auch um die finanziellen Angelegenheiten der Familie. Die Kincannons besitzen mehr Geld als Krösus. Und Buck sorgt dafür, dass es sich vermehrt.«

Das mit dem Geld läuft gewiss gut, wenn es sich so schnell anhäuft wie die Meute, die sich hier einfindet, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, dachte ich. Ein umgekippter Bierlaster hätte die Leute auch nicht schneller zusammengetrieben. Mehrere bedeutende Persönlichkeiten schauten an dem Tisch vorbei: ein Berufungsrichter, zwei Staatsvertreter, der halbe Stadtrat.

»Welche Verbindung besteht da zum Sender?«, fragte ich.

»Die Familie ist einer der wichtigsten Investoren von Clarity und gehört zum Konsortium der Eigentümer. Buck Kincannon ist mein Boss, Carson. Viel weiter oben auf der Leiter, aber der Mann, der die wichtigen Entscheidungen fällt.«

Clarity Broadcasting gehörte Channel 14 und ein paar Dutzend weiterer Fernseh- und Radiostationen vorwiegend im Süden, doch laut dem, was die Zeitungen berichteten, strebten sie mit aller Macht eine nationale Präsenz an.

»Wer ist die ältere Dame?«, erkundigte ich mich.

Dani senkte unbewusst die Stimme und flüsterte: »Maylene Kincannon. Manche Leute nennen sie Queen Maylene, aber nur aus der Ferne. Am besten von einem anderen Kontinent aus. Buck ist mit seinen einundvierzig Jahren das älteste ihrer Kinder. Neben Buck siehst du Racine Kincannon und seine Frau Lindy. Racine ist etwa achtunddreißig. Und der Mann, der Mama am nächsten steht, ist Nelson Kincannon. Er dürfte vierunddreißig sein.«

»Wer sind die anderen, die mit ihnen gekommen sind?«

»Das rechts ist der Kongressabgeordnete Whitfield, an seiner Seite Bertram Waddley, Geschäftsführer der größten Bank im Staat, und neben Waddley steht –«

Ich hielt die Hand hoch. »Ich habe verstanden.«

Mein Blick wanderte von dem Gefolge zurück zu den Brüdern Buck, Racine und Nelson. Obwohl die kantigen Gesichter nicht feminin waren, wirkten die Männer mit ihren glänzenden, aufmerksamen Augen und den knappen, fließenden Bewegungen einfach umwerfend.

Und dann blieb mein Blick an der Mutter hängen. Obwohl ihre Haut blass und ihr Haar weiß war, hatte sie nichts Zerbrechliches an sich. Sie sah eher so aus, als hätte sie mit Harry einen Ringkampf austragen können.

»Und was ist mit Papa Kincannon passiert?«, fragte ich.

»Buck senior? Über den hört man nicht viel. Er leidet an irgendeiner Krankheit, womöglich Alzheimer im Frühstadium oder so, jedenfalls irgendetwas mit dem Kopf. Er ist noch am Leben, doch seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetaucht.«

»Und er hat den Grundstock für das Vermögen gelegt?«

»Er hatte Geschäftssinn. Instinkt oder so was Ähnliches.«

»Du weißt viel über diese Familie, Dani.«

Sie schaute in eine andere Richtung. »Ich bin Reporterin und sie sind ein Hauptinvestor der Firma, für die ich arbeite.«

»Wo ist Kincannons Frau?«

»Er ist Single. Hat sich vor Jahren scheiden lassen.«

»Bist du ihm mal begegnet?«

Dani musterte ihr Weinglas und trank es leer. »Ich habe ihn vor achtzehn Monaten auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt.«

»Und seid ihr euch seit damals noch mal über den Weg gelaufen?«

Sie reichte mir ihr Glas. »Könntest du mir bitte noch einen holen? Währenddessen steige ich wieder in diese Schuhe.«

Anstatt quer durch die Mitte des Saales zu gehen, wo ich womöglich jemandem begegnete, den ich schon wieder vergessen hatte, hielt ich auf die Wand zu und näherte mich der nächsten Bar. Mein Weg führte mich am Kincannon-Klan vorbei. Platzhirsch Buck war immer noch damit beschäftigt, Freunde und Bekannte zu begrüßen, ließ sich von Männern die Hand drücken und von Frauen auf die Wangen küssen.

Bei Mama Maylene lief es vollkommen anders: Anscheinend war es verboten, sie zu berühren, denn selbst die inbrünstigsten Handschüttler, Umarmer und Wangenküsser blieben wie angewurzelt vor ihr stehen, wechselten ein paar Worte und verschwanden dann hektisch.

War Maylene Kincannon nicht gerade damit beschäftigt, jemanden von ferne zu begrüßen, musterte sie die anderen Gäste mit ihren gefühllosen Augen, die in dem bleichen Gesicht schwarz wie Holzkohle wirkten. Fasziniert beobachtete ich, wie sie den ganzen Saal, jedes Gesicht, jede Geste und jeden Kontakt aufsaugten.

Vielleicht spürte Maylene irgendwann meinen Blick, denn sie wandte sich mir zu. Einen Moment lang starrten wir uns gegenseitig unverwandt an, bis ihre ruhelosen Augen weiterwanderten und wieder durch den Raum schweiften. Ich hatte das Gefühl, von einer Maschine begutachtet, als wertlos eingestuft und ad acta gelegt worden zu sein.

An der Bar hatte sich eine Schlange gebildet. Ich stellte mich hinten an. Aufgrund meiner Position hatte ich einen Flur und die Küchentür im Blickfeld. Zu meiner Überraschung – und Freude – zwängte sich ein weiblicher Hintern durch den Küchentürspalt. Die Besitzerin folgte kurz darauf, blies Küsschen in die Luft und bedankte sich flüsternd. Ich vermutete, dass sie zu spät gekommen war und deshalb auf die Marmorstufen und das gleißende Licht verzichten wollte.

Ich schätzte sie auf Anfang dreißig. Sie war schlank, wo sie es sein musste, doch an anderen Stellen durchaus üppig. Ihre großen veilchenblauen Augen, von zu viel Lidschatten eingerahmt, sollten wahrscheinlich die Wirkung des vollen, rot bemalten Mundes ausgleichen. Sie trug ein kobaltblaues, trägerloses Kleid, das von ein paar knackigen Brüsten gehalten wurde, deren Echtheit bezweifelt werden durfte.

»Was möchten Sie, Sir?«, fragte der Barkeeper.

Widerwillig wandte ich mich von der Frau ab. »Einen Bourbon mit viel Soda und ein Glas Weißwein.«

»Wir haben heute drei verschiedene Weißweine anzubieten, Sir. Einen Belden Farms Chardonnay, einen B & G Vouvray und einen Chenin Blanc von Isenger.«

Da ich von Wein ungefähr so viel Ahnung hatte wie von Mandarin-Chinesisch, murmelte ich mehrmals hintereinander Ah.

»Nehmen Sie den Vouvray, mein Lieber«, riet mir eine Frauenstimme. »Die anderen schmecken wie Pferdepisse.«

Als ich mich umdrehte, lehnte die Frau im kobaltblauen Kleid ein, zwei Meter weiter drüben an einer Säule am Ende der Theke. Sie zwinkerte mir zu. »Bestellen Sie mir doch einen Drink, wo Sie eh schon gerade dran sind, ja? Einen doppelten Scotch.« Ihre rauchige Stimme, die mehr Jahre auf dem Buckel zu haben schien als die Frau selber, schnurrte die Befehle geradezu.

Mit drei Drinks in der Hand drehte ich mich um. Sie nahm mir den Scotch ab und machte auf dem Absatz kehrt. Ich sah zu, wie sie sich an den Gästen vorbeischob, neben einer Säule stehen blieb und ihre Umgebung studierte. Den Scotch trank sie in einem Zug aus und machte zwei Mal hintereinander eine ruckartige Bewegung mit dem Handgelenk, als wolle sie Farbe aus einem Pinsel schütteln. Sie überlegte kurz, wiederholte dann die seltsame Handbewegung, dieses Mal allerdings mit noch mehr Nachdruck, als ließe sie eine imaginäre Peitsche knallen.

Das leere Glas warf sie in einen Mülleimer, setzte ein strahlendes Lächeln auf und begab sich in den überfüllten Saal. Mein Blick folgte ihrem Hintern, bis es im Raum dunkel wurde.


Eine halbe Stunde nach dem Beginn der Channel-14-Soiree traf Lucas ein. Er hielt vor dem Shrine Temple und zwängte den gebrauchten Subaru in die dunkle Lücke zwischen zwei Straßenlaternen. Er verschlang das Müsli und spuckte die muffig riechenden Rosinen aus dem Fenster auf die Straße. Dass ein gottverdammter Bioladen Müsli mit solchen Rosinen verkaufte, machte ihn dermaßen wütend, dass er mit dem Gedanken spielte, zum Laden zurückzufahren und sich den schlappen Verkäufer mit dem Bruce-Cockburn-T-Shirt vorzuknöpfen, den Mistkerl umzunieten und zu zwingen, die Rosinen vom Boden aufzulecken.

»Findest du, dass die frisch schmecken? Du kleiner schwanzlutschender Huren…«

Er beherrschte sich. Atmete tief durch, was reinigend wirkte, und hörte, wie Dr. Rudolnick die Wolken beschrieb.

»Setzen Sie sich auf die Wolke, Lucas. Lassen Sie Ihre Wut wegtreiben …«

Während er dasaß, passierte nicht viel. Nicht, dass er groß etwas erwartet hätte, aber er hatte in der Zeitung von der Veranstaltung gelesen und beschlossen, einen Blick auf diese aufgeblasenen Typen zu werfen, wenn auch nur aus der Ferne.

Manchmal registrierte er Dinge im Zeitlupentempo. Wie beispielsweise die schwarze Stretchlimousine, die einen Block weiter unten auf dem Parkplatz mit laufendem Motor wartete, damit die Temperatur im Innenraum genau auf 25 Grad blieb, ganz so wie Maylene Kincannon es bevorzugte. Am liebsten hätte Lucas an die Limousinentür geklopft und mit dem Fahrer eine Unterhaltung angefangen. Oder den Abdruck seines warmen Hinterns auf dem Ledersitz hinterlassen wie ein Hund, der sein Territorium markierte.

Doch sein gesunder Menschenverstand siegte wieder einmal. Die Zeit war noch nicht reif.

Nachdem er noch ein paar Minuten lang gewartet und sich beruhigt hatte, kam eine Frau aus der Tür des Shrine Temple, eine sexy Frau in einem blauen Kleid mit melonengroßen Brüsten, die wippten, als sie auf ihren hohen Schuhen den Gehweg hinunterstöckelte. Sie schwankte ein wenig – wie ein Blatt im Wind. Dann lachte sie und holte weit aus wie ein Trommler, der auf ein Becken schlug. Sie räusperte sich, spuckte auf den Boden, zündete sich eine Zigarette an, überquerte die Straße und stieg in einen zerbeulten roten Corolla. Es dauerte zwei Minuten, bis der Motor ansprang und sie, eine Abgaswolke hinter sich herziehend, die Straße hinunterknatterte.

Auf einmal interessierte Lucas sich viel mehr für diese Frau als für das Gebäude, in das er eh nicht problemlos hineingelangen konnte. Seine Neugier veranlasste ihn, dieser Fremden zu folgen. Nur zum Spaß.

Den Wölfen zum Fraß

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