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AQUA · Sven Elverfeld

Der Kuss der Maskenmännermuse

So weit kommt man mit Eigensinn: Sven Elverfeld hat aus seinem Restaurant »Aqua« in Wolfsburg ein Walhalla der neuen deutschen Küche gemacht und ist dabei ganz er selbst geblieben.

Zehn Jahre war der Junge alt, als ihn der Vater zu seinem ersten Konzert mitnahm. Die Hardrock-Band Kiss spielte in Offenbach und muss den kleinen Sven mit ihrer Eigenwilligkeit und ihrem radikalen Individualismus tief beeindruckt haben. Jedenfalls machte er sich die Charakterzüge zu eigen, auch wenn er kein Rocker, sondern Koch und Konditor werden und seine Musikleidenschaft auf eine Vinyl-Plattensammlung und gelegentliche Auftritte als Hobby-DJ beschränken sollte. Die Maskenmänner von Kiss haben mit ihrem Eigensinn hundert Millionen Platten verkauft, aber auch Sven Elverfeld ist damit nicht schlecht gefahren: Seit vielen Jahren gehört er mit seinen drei Michelin-Sternen und 19,5 Gault-Millau-Punkten nicht nur zu den besten Köchen Deutschlands, sondern der ganzen Welt.

Dass Elverfeld mit fünfzig Jahren kompromissloser denn je seinen eigenen Weg geht und auf alle Konventionen pfeift, stellt er schon mit den Amuse-Bouches unter Beweis. Sie sind kein pompöses Ouvertüren-Feuerwerk, kein brusttrommelndes Berauschen am eigenen Können, sondern eine leise Einstimmung von höchster Präzision und Raffinement. Eine karamellisierte Kalamata-Olive mit Ziegenfrischkäsefüllung als Souvenir aus seiner Zeit auf Kreta, eine Chicorée-Julienne mit Macadamia, Grapefruit und einem winzigen Sepia-Arm als Erfrischungsgruß ohne Tamtam und das pochierte Wachtelei in der Hühnereischale mit Champignon-Creme und gewürfelter Kalbszunge als Klassiker des Hauses – das reicht aus, um zu wissen, wohin die Menü-Reise geht: in die Welt eines Kochs, der seinen eigenen Kanon kreiert hat und keine Vorbilder mehr hat, weil er selbst eines geworden ist.


Sven Elverfeld hat sich dieses Universum ganz allein aufgebaut. Als er nach prägenden Jahren bei Doris-Katharina Hessler und Dieter Müller seine erste Stelle als Küchenchef im Ritz-Carlton in der Wolfsburger Autostadt antrat, stand er auf einer Baustelle. Das Hotel war noch gar nicht fertig, und sein Restaurant »Aqua« nicht mehr als die vage Idee, sich einen eigenen Michelin-Stern zu erkochen. Im Jahr 2000 legte er los, anderthalb Jahre später kam tatsächlich der Stern, und ehe er sich’s versah, hatte er 2006 den zweiten und 2009 den dritten. »Demut, Ausdauer, Ehrgeiz ohne Verbissenheit«, so erklärt sich der gebürtige Hanauer, der auch nach zwei Jahrzehnten in Niedersachsen ein echter Hessebub geblieben ist, seinen fulminanten Erfolg – und untertreibt kolossal, weil man allein mit diesen Tugenden kein Gericht wie die Gänseleber auf einer Erdnusswaffel mit Birnen-Ragout, Malzcreme und Röstzwiebeln schaffen kann, das mit kühner Kreativität Haute Cuisine und Hausmannskost vereint und dabei alle Standesunterschiede wie in einem kulinarischen Märchenbuch aufhebt: Die feine Foie verliert wundersamerweise allen Dünkel, und selbst der Malz schmeckt plötzlich hocharistokratisch.

Luxus sind für Elverfeld nicht die Säulenheiligen der Haute Cuisine, sondern eine Forelle aus der Lüneburger Heide, ein Lamm von der Müritz, ein Huhn aus Celle, sofern sie von Menschen gezüchtet werden, die genauso qualitätsversessen und produktbesessen sind wie er. Hummer habe er seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Karte, sagt der Chef, dem das Renommieren wahrlich nicht im hessischen Blut liegt. Stattdessen gibt es bei ihm Flusskrebse mit einem Röllchen aus Kalbszunge, Bratkartoffelschaum, schwarzem Senf und einer Vinaigrette aus Mixed Pickles – lauter Ingredienzien ohne kulinarischen Stammbaum, die er mit leichter Hand in den Aromenritterstand erhebt. Oder eine Bachforelle aus der Heide, die so unendlich viel zarter ist als die spröde Landschaft rund um Lüneburg und die trotzdem nicht in sanftmütiger Langeweile endet, weil sie es dank einer mephistophelischen Rauch-Brandade, einer schleierdünnen Scheibe Granny Smith und der spitzen Schärfe von Meerrettich mit lauter exakt dosierten Kontrasten zu tun bekommt.

Vielleicht gibt es keinen anderen Koch in Deutschland, dessen Virtuosität unangestrengter wirkt. Beim gebratenen Zander mit Speck, Portwein, gerolltem Schweinekinn, Périgord-Trüffeln und Feldsalatcreme versammelt Elverfeld ein halbes Dutzend lautstarker Aromen auf dem Teller und lässt sie so leicht klingen wie ein Menuett. Einen Haute-Cuisine-Klassiker wie das glasierte Kalbsbries kombiniert er mit den Allerweltszutaten Kartoffelpüree, Kapern, Rettich, Schnittlauch, und trotzdem schmeckt das alles so sehr nach Logik und Selbstverständlichkeit, als sei das Bries schon immer à la »Aqua« serviert worden. Und wenn er einmal ein bisschen robuster wird wie bei der Miéral-Taubenbrust mit Romana-Salat, Mandeln, Radieschen und Parmesankruste, einer Paraphrase des traditionellen Cesar’s Salad, wünscht man sich sofort den leisen, stillen Sven Elverfeld zurück, der von sich sagt, schon immer ein Träumer gewesen zu sein.

Und man bekommt ihn sofort zurück mit einem gebratenen Rehrücken »aus heimischen Wäldern«, der sich auf dem Teller lauter Aromentotschlägern gegenübersieht: fermentierte Schwarzwurzel, Pumpernickel-Creme mit getrockneter Sojasauce, Vogelbeere, Rosenkohl, dazu noch Grünkohl, frittiert und als Pesto – und wieder löst sich alles in einen wunderbaren Ringelpiez mit Anfassen auf, in einer großen glücklichen Gaumenharmonie. Natürlich bleibt Elverfeld auch beim Dessert seiner Wahlheimat treu und serviert Wolfsburger Honigwaben von einem Imker, der früher bei ihm Kellner war, um sie dann meisterhaft mit Mais, Mandeln und Radicchio als Eis, Marmelade und sauer eingelegten Streifen zu ungeahntem Aromenleben zu erwecken.

Bald wird sich Sven Elverfeld einen Traum erfüllen. Demnächst kommen die Rocker von Kiss nach Hannover, und der Koch hat sich eine »Meet and Greet«-Karte inklusive Backstage-Besuch und Fototermin gegönnt, obwohl er längst selbst ein Superstar ist. Doch er ist auch der Hanauer Hessebub geblieben, staunend, bescheiden, neugierig. Das ist das Beste, das ihm und allen Feinschmeckern passieren konnte.

AQUA im Hotel Ritz-Carlton

Parkstraße 1 · 38440 Wolfsburg · 05361 60 60 56

www.restaurant-aqua.com


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