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B) Aspekte der Forschungsgeschichte: Von der ‚konsequenten Eschatologie‘ zur ‚kultgeschichtlichen Betrachtung‘ 1. Eschatologische Zukunft und religiöse Hochstimmung: die konsequente Eschatologie

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Der Umbruch in der modernen Jesusforschung wird gewöhnlich mit dem Buch von Johannes Weiss ‚Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes‘, 1. Aufl. 1892, (2. Aufl. 1900) verbunden.1 Weiss übernimmt die systematisch-theologische Vorentscheidung der liberalen Tradition, wonach Jesus und das Christentum letztlich nur von der Reich-Gottes-Verkündigung her zu verstehen seien.2 Gegen seine liberalen Väter betont Weiss jedoch, dass das Reich Gottes kein sittliches Gut und keine die geschichtliche Entwicklung der Menschheit betreffende Größe sei, sondern als streng endgeschichtliches, nur zu erhoffendes, aus der Zukunft her kommendes, transzendentes, geschenktes Gut zu verstehen sei.

Dieser antiliberale Ansatz, den Weiss vor allem in der 1. Auflage programmatisch betonte, bleibt nun aber an zwei Punkten der älteren aufklärerisch-liberalen Tradition verhaftet:

Er übernimmt in der Grundlage doch das Programm einer Verortung der christlichen Religion in der menschlichen Geschichte. Transzendierend ergänzt er, dass das Reich Gottes in Jesu Verkündigung zwar der unverfügbaren Zukunft, jedoch grundsätzlich als eine dem menschlichen Geschichtsempfinden qua Antizipation zuwachsende Größe angehört.3

Mit dem grundsätzlichen Verbleib auf der Ebene eines linearen Geschichtsbildes gemäß aufklärerisch-liberaler Tradition hängt zusammen, dass Weiss Jesus weiterhin in den Bahnen der heroischen Vorbildchristologie sieht. Jesus lebe aus religiösen Stimmungen; er sei – gemäß der liberalen Propheten-Anschluss-Theorie – der größte Prophet;4 Weiss stößt im letzten bei Jesus auf religionspsychologisch zu deutende Phänomene, die in ihrem subjektiven Erlebnischarakter auch die von ihnen abhängigen Momente einer Gewissheit der Nähe des Reiches tragen. Auch Jesu Berufung und seine Gewissheit, dass er den Teufel zeichenhaft überwinden kann, ist religiöse Stimmung. Nur negativ gelte: Wie das Reich Gottes eine rein zukünftige Größe sei, so sei es Jesus verwehrt, seine messianische Würde außerhalb individueller religiöser Stimmungen5 zwischen Hoffnung und Glauben festzumachen. Auch die Aussage einer Vollmacht vom Himmel her, mit der Weiss für die hinter dem Tauf- und Verklärungsbericht stehende Wirklichkeit rechnet,6 bleibe eingefangen in die Spannung zwischen einer bloß subjektiven Gewissheit und dem ontologisch allein dominierenden Element endgeschichtlicher Erfüllung, in der die Transzendenz sich dem Maßstab irdischer Geschichtsevidenz anpassen wird.7

Weiss nennt exegetische Beobachtungen, die über die Vorentscheidung hinausweisen, letztlich die irdische Geschichtslinie zum Kriterium theologischer Evidenz zu machen. Das Reich Gottes sei ursprünglich Begriff himmlisch-transzendenter, kultischer Theokratie.8 Keine Religion könne auf Dauer ohne Qualifizierung der Gegenwart auskommen.9 Jesus und die neutestamentliche Zeit seien im Grund nicht an einem linearen Geschichtsbild orientiert, sondern an einem Himmlisches und Irdisches umfassenden Orientierungsrahmen.10 Diese ergänzenden Bemerkungen, die das Programm der ‚konsequenten Eschatologie‘ eigentlich in Frage stellen, kann Weiss verständlicherweise nicht positiv aufnehmen.

Forschungsgeschichtlich aufgenommen und weitergeführt wurde der eschatologische Ansatz bei W. Bousset. Bousset übernimmt in seinem 1904 erschienenen Buch zur Jesusfrage die Grunderkenntnis, dass Jesus auf zukünftiges Gericht und zukünftiges Heil verweise und dadurch die Gegenwart seines Auftretens zur Zeit der Scheidung mache. Dabei bleibt dieser, auch bei ihm streng eschatologisch-zukünftig gedachte, Ansatz verbunden mit einem liberalen, religiös-psychologischen und bei der Aufnahme der entscheidenden Begriffe höchst zeitgebundenen Jesusbild.11 Die Ankündigung der eschatologischen Wende realisiert sich bei Jesus folgendermaßen: „und in allem die starke, königliche Natur, das Bewusstsein, die Dinge zu Ende zu führen und das letzte, entscheidende Wort zu reden, diese Zuversicht der allernächsten Nähe seines himmlischen Vaters, die starke königliche Kraft, mit der er die Seelen der Seinen zwang und das Höchste von ihnen forderte …“12. Es ist auffällig, dass antiliberaler Impetus in der Darstellung des Reiches Gottes und ein betont religionsgeschichtlich-kritischer Ansatz sich mit einem für heutige Betrachtung äußerst unkritischen, zeitgebundenen Jesusbild verbinden können. In ihm scheint Jesus dem Ideal eines monarchischen Souveräns angeglichen. Sollte dies daran liegen, dass die rein zukünftige Fassung des Reiches Gottes keinen echten religionsgeschichtlichen und im tiefsten religiösen Bezugspunkt für die Beschreibung Jesu zulässt und deshalb die angeblich bei Jesus nicht vorhandene Kategorie der religiös gefüllten Gegenwart außerhalb exegetischer und theologischer Kontrolle eingetragen wird?

In seinem forschungsgeschichtlich bedeutenden Buch ‚Kyrios Christos‘ zieht Bousset weitere Konsequenzen. Während Jesus und die palästinische Urgemeinde für die jeweils kurze Zeitspanne ihrer Geschichte bei der brennenden und rein zukünftigen Naherwartung bleiben konnten, ‚füllt‘ die heidnisch-hellenistische Gemeinde vor Paulus die himmlische Welt mit dem Kyrios Jesus als ihrem Kultgott. Die palästinische Gemeinde lebte aus der reinen Zukunft des kommenden Menschensohnes, wobei der Himmel nur den bloß vorstellungsmäßig notwendigen Aufbewahrungsraum Jesu, jedoch keine irgendwie die Gegenwart qualifizierende Größe abgab.13

Boussets Arbeit ist damit über Weiss hinaus in mehreren Punkten interessant:

Die gegenwärtige Beziehung zur himmlischen Welt als religiös-soteriologischer Erfahrung, welche Weiss nur gegen seine Grundthese als irgendwie bei Jesus in gehobener Stimmung vorhanden bezeichnete, wird bei Bousset ganz dem (heidnisch-)kultischen Denken zugeordnet. Damit verschafft er sich die Möglichkeit, Jesus und die Urgemeinde streng eschatologisch zu deuten und sie zu befreien von solchen, die reine Zukünftigkeit der Erwartung auflösenden Motiven, wie Christologie, Wunder Jesu, Weissagungskraft Jesu und soteriologischer Deutung seines Geschickes.14 Das streng eschatologische und zugleich unchristologische Jesusbild muss offenbar in der historischen Analyse gestützt werden durch präsentische, himmlische, kultische Elemente der urchristlichen Religion.

Bousset verweist auf die Verbindung von Kultus, himmlischer Welt und präsentischer Erlösungserfahrung: auf den Gegensatz von Kultus und Eschatologie einerseits und den Gegensatz zwischen einem Bezug zum Himmlischen und eschatologischer Erwartung andererseits. Diese Gegenüberstellung hat sich in der Forschung zunehmend als einseitig erwiesen.15 Vor allem ist an Bousset die Frage zu stellen, ob ‚Kultus‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Himmel‘ vornehmlich heidnische Kategorien sind. Hat nicht auch der Jerusalemer Kult seine eigene Symbolik entwickelt, die ein Himmel und Erde umfassendes Weltbild und eine gegenwärtige Erlösungserfahrung ausdrückt? Stehen die palästinische Gemeinde und Jesus dem kultischen Denken des Tempels nicht historisch näher als den Mysterienkulten?

Wir halten fest:

Die konsequent-eschatologische Deutung der Jesus-Tradition kann die neu erkannte Bedeutung des transzendenten Charakters der Basileia nur negativ abgrenzen. Eine Pneumatologie, die geeignet wäre, auch für die Gegenwart (Jesu und der Gemeinde) eine positive Beziehung zum Reich auszusagen, ohne es in die Immanenz hinabzuziehen, fehlt im klassischen Ansatz von Weiss. Die konstatierten Phänomene religiöser Hochstimmung müssen theologisch irrelevant und unkontrolliert bleiben.

Die konsequente Eschatologie hat schon bei Weiss die Tendenz, sich auf eine endgeschichtliche Offenbarung zu beziehen, die sich schließlich doch dem Evidenzdruck immanenter geschichtlicher Erfahrung wird beugen müssen. Boussets Weiterentwicklung führt zur Konstruktion eines doppelten Ansatzes: Dadurch wird die konsequent-eschatologische Jesus-Deutung geschützt. Die religionsgeschichtlich unabweisbare Frage nach dem positiven, lebendigen Zentrum der urchristlichen Religion, welches allein sie hat zur geschichtlichen Größe werden lassen, wird beantwortet durch Hinweis auf den Kyrios-Kult der hellenistischen Gemeinde. Dadurch wird aber andererseits die palästinische Jesus-Tradition stark isoliert.

Jesus und die himmlische Welt

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