Читать книгу Jesus und die himmlische Welt - Jan-A. Bühner - Страница 12
3. Das Ergebnis der religionsgeschichtlichen Betrachtung: Himmlischer Raum und eschatologische Zeit als Dimension des Kultes
ОглавлениеWer in Hinblick auf ein historisches Verständnis von Handlung und Botschaft Jesu nach einer religionsgeschichtlich verantworteten Aufnahme der räumlichen Kategorie ‚Himmel‘ und der durch sie bestimmten der Gegenwart – ‚das Reich Gottes ist nahe‘ – sucht, muss die Fragestellung der konsequenten Eschatologie und ihrer Nachfolger verlassen. Als forschungsgeschichtliche Alternative verbleibt der Ansatz der älteren religionsgeschichtlichen Forschung, die eine kultgeschichtliche Betrachtung des NT forderte.1
Schon in unserem ersten Hinweis auf Bousset wurde deutlich, dass kultische Frömmigkeit, mit der Bousset für die hellenistische Gemeinde rechnet, an einem grundsätzlich mehr vertikalen Weltbild ausgerichtet ist. Die Kategorien des ‚Himmlischen‘ und der aus dem Bezug zum Himmlischen qualifizierten ‚Gegenwart‘ gehören zu einer kultischen Weltdeutung.
Bousset dachte als religionsgeschichtliche Basis für den Christus-Kult des (hellenistischen) Urchristentums an die am Sterben und Auferstehen chthonischer Gottheiten orientierten Mysterien.
Andererseits partizipiert auch der Kult in Jerusalem an der Grundlage der Kult-Symbolik des Alten Orients. Im Bau des Tempels liegt eine kosmische Symbolik, so dass vom Tempel als dem Mittelpunkt des Kosmos Himmel und Erde als die beiden Sphären kultischen Weltverständnisses ineinandergreifen. Im Tempel ist gleichsam der Himmel auf Erden,2 hier ist der Zugang zu Gottes Heiligkeit.3 Entsprechend schrieb Lietzmann über den urkirchlichen Gottesdienst: „Das Herz des christlichen Lebens ist der Gottesdienst der Gemeinde. Da ist die Stätte, wo die Kräfte der jenseitigen Welt in die Christenheit einströmen und sie zu dem neuen Volk der Gotteskinder machen, das nicht mehr von dieser Welt ist, sondern schon hier in wundersamer Gemeinschaft mit den himmlischen Bürgern des Gottesreiches lebt.“4
Es ergeben sich aus dieser nur angedeuteten forschungsgeschichtlichen Konstellation für unsere Fragestellung folgende Grundprobleme:
Sind eschatologisch-geschichtliches und kultisch-räumliches Denken unvereinbar?
Steht das Kultverständnis der neutestamentlichen Gemeinde religionsgeschichtlich nur in Nähe zu den Mysterien oder kann man mit traditionsgeschichtlichem Nachwirken des Tempelkultes in Jerusalem und seiner Theologie rechnen?
Ist forschungsgeschichtlich der Versuch vorgezeichnet, die Jesusfrage von der kultgeschichtlichen Betrachtung her anzugehen?
Die kultgeschichtliche Betrachtung ging aus von einer Parallelisierung des urchristlichen Sakramentsgottesdienstes mit den hellenistischen Mysterien-Feiern. Die Mysterienkulte bildeten sich um die Verehrung chthonischer Götter. An deren den Wechsel der Jahreszeiten ausprägendem Vergehen und Wiedererstehen will der Myste Anteil bekommen. Es geht um die Befreiung von kosmischen Kräften und um die Versicherung eines Gott-gemeinschaftlichen Lebens im Jenseits. Ist schon das griechische Denken überhaupt an einem zyklischen Geschichtsbild orientiert, so verdichtet sich dieses in den Mysterien zu einer ausgesprochen individuell-soteriologischen Grenzüberschreitung. Sie ist unabhängig vom äußeren Weltlauf jederzeit möglich, sofern der Kultus mit seinem je eigenen Kairos dazu die Möglichkeit gibt.5 Das Denken der Mysterienkulte ist uneschatologisch.
Der Verweis auf die Mysterienkulte und ihre Bedeutung für die urchristliche Religion untersteht von Haus aus dem von F. Chr. Baur eingeführten Schema des doppelten Ansatzes, in dem sich die individuelle Vater-Frömmigkeit Jesu6 bzw. die eschatologische Frömmigkeit Jesu7 und der – auch in Bezug auf die Lehrbildung – geordnete Kult der hellenistischen Gemeinde gegenüberstehen. Die Spannung zwischen Juden- und Heidenchristen ermöglichte die Klarheit einer echten These-Antithese-Bildung. Diese Grundposition des klassischen ‚doppelten Ansatzes‘ wirkt bekanntlich nach bis hin zu Bultmanns Aufriss der Theologie des NT, ja seiner Eliminierung der zukünftig-eschatologischen Passagen im Johannesevangelium.
Kommt nach dieser These mit dem an den Mysterien orientierten Christus-Kult etwas Fremdes in das Christentum hinein, das ihm himmlische, uneschatologische, mystische und christologisch-dogmatische Perspektiven erschließt, so ist die kultgeschichtliche Betrachtung in einem anderen Zweig der Forschung gerade auf eine Harmonisierung von Jesus-Evangelium und Kultfrömmigkeit ausgerichtet gewesen. „Unsere heilige Urgeschichte hat in Wirklichkeit darin ihren inneren Fortschritt, dass die durch das Evangelium Jesu entstandene messianische Bewegung mit ihrer völligen praktischen Eingestelltheit auf das nahe Weltende und die nahe Zukunft des Gottesreiches sich zuletzt als Kult historisch konsolidiert, als Kult Jesu des Herrn; anders ausgedrückt: dass das Evangelium sich umsetzt in Christentum.“8 Das Christentum bildet sich nach Deissmann als Kult ‚reagierenden Typs‘, insofern der galiläische Fischer Simon durch Offenbarung am Messiasbewusstsein Jesu teilbekomme. Jesus selbst habe keinen neuen Kultus gestiftet, sondern die neue Zeit verkündet; aber durch sein gewaltiges Ich-Bewusstsein habe er gemeinschaftsbildend gewirkt und damit die Entstehung des Felsens ermöglicht, auf dem dann die Gemeinde entstand. Jesu eschatologisches Ich-Bewusstsein habe als gemeinschaftsbildendes kultinitiatorische Kraft gehabt, so dass von Anfang an, schon in der apostolischen Urkirche Palästinas, der Bezug auf Jesus den Messias kultisch ausgeprägt sei, wie es sich deutlich im palästinischen Gebetsruf „Maranatha“ zeige. Mit dieser von Deissmann als organische Entwicklung postulierten Bewegung kontrastiert nun jedoch, dass der Kultus selbst in seinen Denkformen ganz aus hellenistischer Tradition stammen soll: „Das Evangelium Jesu verbindet die Anfänge unserer Religion aufs engste mit seiner Mutterreligion, dem Judentum. Der apostolische Jesuskult wirft dann, eben mit dem Kultischen, wie es ihm eigentümlich war, ein jedenfalls dem amtlichen Judentum wesensfremdes Element in den Schmelztiegel … Durch das Kultische tritt die andere der providentiellen Kräftegruppen der praeparatio evangelica in schöpferische Tätigkeit: die antike Welt der ‚Völker‘.“9
Deissmann behält also die grundlegende religionsgeschichtliche Herleitung des Christus-Kultes aus den Mysterien bei und bleibt damit auch bei dem theoretischen Gegensatz von Kultus und Eschatologie stehen. Was nach dem klassischen ‚doppelten Ansatz‘ des Evangeliums sauber auf zwei Gemeinde-Typen und Epochen verteilt wurde, erscheint hier als bereits im palästinischen Christentum verschmolzen. Deissmann baut dabei auf zwei Voraussetzungen: Jesu messianisches Ich-Bewusstsein wirke gemeinschaftsbildend und dadurch kultinitiatorisch; ferner sei Palästina zur Zeitenwende bereits so stark hellenisiert, dass man auch hier die jenseits des Judentums stehenden, hellenistischen Kultformen gekannt habe. Kultus und Eschatologie bleiben also religionsphänomenologisch in einem Gegensatz, der im NT ausnahmsweise überwunden werde.
Auch A. Schweitzer ist um eine Versöhnung der angeblichen Gegensätze Eschatologie und kultische Mystik bemüht.10 Die Mystik des Apostels Paulus, die er zentral in der Aussage des ‚Seins in Christo‘ findet, gründe in der Eschatologie Jesu und in der der vorpaulinischen Gemeinde. „Die Eschatologie unternimmt ja die Aufhebung der Transzendenz. Sie lässt die natürliche Welt durch die übernatürliche abgelöst werden und dieses Ereignis in dem Sterben und Auferstehen Jesu seinen Anfang nehmen. Ist es da nicht denkbar, dass einer spekulativen, in eschatologischer Erwartung glühenden Betrachtungsweise die beiden Welten für den Augenblick, in dem sich die unmittelbar einsetzende Ablösung vorbereitet, ineinandergeschoben erscheinen?“11 Durch die brennende Naherwartung erscheinen also diese und die zukünftige Welt gleichsam als obere und untere auf einander zugeschoben, so dass die eschatologische Naherwartung der zukünftigen Welt sich realisiere als mystisches Eindringen in die zukünftige als obere Welt. Die Sakramentsmystik des Paulus sei also eine Zuspitzung der alten Eschatologie Jesu. Dieser Prozess, dass Mystik aus eschatologischer Erwartung entsteht, ist auch für Schweitzer etwas religionsgeschichtlich Einmaliges.12 Zwar kommt die Sakramentsmystik des Paulus in auffällige Analogie zur Mystik der hellenistischen Mysterienreligionen, doch hängt für Schweitzer an dieser religionsgeschichtlichen Analogie nicht viel, da Paulus den Symbolismus der Mysterien nicht aufnehme und eben im Gegensatz zu den Mysterien eschatologisch denke.13 Eine gewisse religionsgeschichtliche Vorläuferschaft für die paulinische Verschmelzung von Eschatologie und Mystik sieht Schweitzer in den Apokalypsen Baruch und Esra, die die prophetische Messias- und die apokalyptische Menschensohnerwartung zur Abfolge zweier Epochen ordneten.14 Paulus übernehme diese doppelte Eschatologie, die er aber im Sinne einer einmaligen Lehre der doppelten Auferstehung umforme: Auch die Teilhaber am vorübergehenden messianischen Reich seien bereits, sakramental, in der Seinsweise der Auferstehung.15 Zum Teilhaber an dem messianischen Reich Christi werde man im sakramentsmystischen Zustand des Seins in Jesus, der Lebende und Verstorbene von der übrigen Welt seinsmäßig trenne.16 „Erlöst sind für ihn die Gläubigen dadurch, dass sie in der Gemeinschaft mit Christo durch ein geheimnisvolles Sterben und Auferstehen mit ihm schon in der natürlichen Weltzeit in den übernatürlichen Zustand eingehen, in dem sie im Reich Gottes sein werden.“17
Über Deissmann und Schweitzer hinaus hat K.L. Schmidt den Versuch unternommen, Mystik und Eschatologie einheitlich zu verstehen und diese Verbindung auf Jesus zurückzuführen. Beides gehöre von Anfang an zusammen: Vom Täufer bis zur Joh. Apok. sei die neutestamentliche Gemeinde eschatologisch ausgerichtet.18 Ja, von Jesus bis zur Joh. Apok. sei zugleich eine visionäre und mystische Bezugnahme auf das Himmlische gegeben.19 Schmidt bleibt in der religionsgeschichtlichen Analyse dennoch dabei stehen, dass grundsätzlich die mystischen Elemente zum hellenistischen Charakter des Urchristentums gehörten.20 Dass beide Elemente ineinandergriffen, ja dass sogar schon Jesus jenseits von Eschatologie, Ethik und Mystik stünde, ist religionsgeschichtlich für Schmidt nicht weiter zu erhellen.
G. Bertram ist innerhalb der kultgeschichtlichen Betrachtung des NT unter geschichtsphilosophisch-methodischen Aspekten zu einer Kritik des Historismus gekommen: Eschatologische Erwartung und gegenwärtiger Heilsbesitz lägen für die urchristliche Kultgemeinde ineinander.21 Bertram konfrontiert dieses zugleich eschatologische und mystische Geschichtsempfinden mit unserem landläufigen, rationalistischen Geschichtsverständnis, das in begrifflichen Gegensätzen und in einem diachron-teleologischen Entwicklungsdenken sich bewege.22 Mit der kultgeschichtlichen Betrachtung ist aber nach Bertram durch den ihr vorgegebenen Gegenstand eine ‚Übernatürliches‘ einschließende Geschichtskonzeption gefordert, da rational-immanenter Historismus den ständigen Bezug zum Himmlischen nicht aufnehmen könne.23 Bertram scheint diese Verbindung von Eschatologie und Mystik und damit das Zusammenfallen von Aspekten, die normaler historischer Betrachtung auseinanderfallen, letztlich hermeneutisch im lebensphilosophischen Sinne zu verstehen: Es sei in dieser Verbindung enthalten ein Hinweis der Urgemeinde, ja Jesu selbst, auf die Unergründlichkeit und das Geheimnis des eigentlichen Lebensprozesses.24 Da wir auf Bertrams kultgeschichtliche Jesusdeutung unten nochmals eingehen werden, halten wir als Eigenart der Bertram’schen Betrachtung fest seinen Hinweis auf die phänomenologisch konstatierbare Eigenart, dass kultische Reflexion der Gemeinde in ihrem transzendenten, mystischen Zug die Immanenz, die diachrone Teleologie und die rationale Verkettung der Ereignisse aufbreche.25 Diesen Zusammenhang von Eschatologie und Mystik im Kultus bestimmt Bertram nicht eigentlich religionsgeschichtlich. Er will die Gegenüberstellungen in der ‚normalen‘ Forschung (Bousset, Heitmüller, Bultmann) durch einen der inneren Gesetzmäßigkeit kultischen Denkens abgelauschten Begriff höherer Einheitlichkeit überwinden. Dabei begreift er den urchristlichen Kult nicht als religionsgeschichtlich abgrenzbares Phänomen, sondern als Grund und Ausdruck der psychologischen Einstellung der Gläubigen.
Einen Ansatz zur Überwindung des Gegensatzes von eschatologischer und kultischer Frömmigkeit hat nicht zuletzt J. Weiss aufgewiesen. Schon in der 2. Aufl. von „Jesu Predigt vom Reiche Gottes“ nennt er neben der Eschatologie stehende religiöse Grundmotive, die für die Gegenwart Erfüllung vom Himmel her bedeuten.26 In seiner 1913 veröffentlichten Untersuchung zum Problem der Entstehung des Christentums deutet Weiss auf die Religion der Synagoge hin, welche in Gebeten und Schriftlesungen den Glauben an Gottes gnädige Nähe zum Ausdruck bringe und eine, in gewisser Weise, sogar mit Heil gefüllte Gegenwart für den Frommen erschließe. „Aber, wie gesagt, schon lange vor der Entstehung des Christentums hat dieser eschatologischen Stimmung eine Gegenwartsfrömmigkeit entgegengewirkt, die streng genommen zu ihr in Widerspruch steht. Denn wer schon im gegenwärtigen Leben die Hilfe und Gnade Gottes erfährt und auf sie vertrauen gelernt hat, der hat damit den metaphysischen Dualismus und die Spannung auf die Zukunft im Grunde überwunden.“27 Weiss leitet diese Beobachtung, die ihm dann auch für das Verständnis der Urgemeinde und Jesu wichtig wird, aus der Synagogenfrömmigkeit ab. Er weist damit auf einen wesentlich anderen kultgeschichtlichen Hintergrund für die Verbindung von Eschatologie und Mystik hin: Hinter der Synagoge wird die Frömmigkeit der Tempelgemeinde sichtbar.
Die kultgeschichtliche Betrachtung als ein Fundament der Formgeschichte hat offenbar in ihrer ersten Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die innere Dynamik entwickelt, den Gegensatz von Eschatologie und Mystik zu entschärfen und für die Urgemeinde und Jesus sogar als in nuce aufgehoben zu postulieren. Der eschatologische ‚Ausbruch‘ bei den ‚Konsequenten‘, den J. Weiss und A. Schweitzer selbst mit der urchristlichen Kultmystik in Einklang zu bringen suchten, hat im Wesentlichen über Bultmann die folgenden Jahrzehnte neutestamentlicher Forschung in Deutschland bestimmt. Dieser von Bousset und Bultmann gegen den Hauptteil der kultgeschichtlichen und formgeschichtlichen Betrachtung des NT durchgehaltene Gegensatz von Eschatologie und Kultmystik hatte auf seiner Seite die angeblich rein hellenistische Basis des urchristlichen Kult- und Sakramentsverständnisses und die Logik des älteren Baur-Harnack’schen Geschichtsverständnisses der dialektischen Entwicklung. Es bleibt aber festzuhalten, dass die genannte kult- und formgeschichtliche Forschung zu einem theologisch, christologisch und historisch wesentlich einheitlicheren Bild des NT tendierte, welches im Urchristentum von Anfang an ‚Mystik‘ als Umgang mit dem Himmlischen neben die eschatologische Erwartung stellte und beide in einem sich gegenseitig verstärkenden und durchdringenden Verhältnis sah.
Diese Tendenz zur Überwindung des angeblichen Gegensatzes von Kultus und Eschatologie konnte aber solange nicht zu dem gewünschten Ziel kommen, als es nicht möglich war, für die kultischen Elemente des Urchristentums eine religionsgeschichtliche Basis zu finden, die nicht von vornherein mit dem Problem des ‚doppelten Ansatzes‘ belastet war.
In dieser Situation bedeutete es einen großen Fortschritt, die eigene kultische Tradition des palästinischen Judentums und damit auch des palästinischen Urchristentums wahrzunehmen, den Tempelkult Jerusalems. Auch der jüdische Kult enthält eine ausgesprochen räumliche, himmlische Dimension, die das Leben des Kultteilnehmers mit dem im Tempel anwesenden Herrn zu verbinden verspricht.
In dieser Geschlossenheit wohl als erster untersuchte J. Jeremias die mit der Kreuzigungsstätte verbundenen und aus der Jerusalemer Tempeltheologie stammenden und teilweise bereits in der Jesustradition wirksamen Kultsymbole.28 Jeremias wies auf die Tradition, wonach Adam, der Urmensch, vom Tempel aus erschaffen, in ihm auch beerdigt sei und man nunmehr seinen Schädel unter dem Kreuz Jesu begraben denke.29 Der Kultort bilde in der Tempeltheologie die Mitte der Erde, zugleich ihren höchsten Punkt, der in den Himmel hineinrage, ja zugleich Eingang in das Erdinnere sei: Golgatha als Nachfolgegröße des Zentralheiligtums übernimmt nach Jeremias diese kosmischen Kennzeichen.30 Auf Golgatha übertragen werde auch die jüdische Tradition, wonach am Brandopferaltar des Tempels die ‚Opferung Isaaks‘ stattgefunden habe, an dem Ort, wo zuvor der Hohepriester Melchisedek amtete.31 Am heiligen Felsen als der kosmischen Mitte liege danach der Ausgangspunkt der kosmischen und geschichtlichen Entwicklung. Er ist der Punkt, von dem her die creatio continua sich vollziehe und auf den hin die Geschichte ihren eschatologischen Zielpunkt nehme.32 Es sei klar, dass von diesem einzigartig qualifizierten Ort her Offenbarung geschehe, ja, dass Aufsteigen auf den Stufen des Altars am heiligen Felsen Aufstieg in den Himmel bedeute. Dieser kosmische Punkt sei zugleich himmlischer und irdischer Ort.33 Insonderheit die Opferung im Tempel sei Offenbarungszeit.34 Beim Felsen beginne die Wohnung der Himmlischen, beginne der Thron Gottes, unter dem das Paradies liege.35 Als Offenbarungsort und Stätte der kosmischen Erhaltung sei der heilige Fels der Möglichkeit und Gefahr magischer Einwirkung ausgesetzt, war doch auf ihm der heilige Gottesname eingeschrieben.36 Nach Jeremias darf betont werden, dass dies in gewissem Sinne statische Weltbild des durch den heiligen Felsen festgemachten Kosmos, an dem Himmel und Erde sich berühren und die Gemeinde mit den Himmlischen zum Gottesdienst zusammenkommt, gerade auch die Dimension der Geschichte aufnimmt, nämlich Protologie und Eschatologie, sowie die auf beide bezogene Offenbarung einer Neuschöpfung, vermittelt.37
Jeremias sieht in Lk 20,17f. Anklänge an diese Tempelsymbolik: Jesus sei der Schlussstein im himmlischen Heiligtum;38 nach Joh 7,37-40 sei Jesus Spender des kultischen Lebenswassers, das mit dem Heiligen Geist segnet. Das Laubhüttenfest mit seinem kosmisch-magischen Wassersegen habe sich in Christus gleichsam zum himmlischen Urbild und zur eschatologischen Vollendung erhoben.39 Schließlich sei nach Mt 16,16-18 Petrus zum unzerstörbaren Felsen der neuen, ganz im Einklang mit der himmlischen Gemeinde stehenden ἐκκλησία bestimmt, deren Halacha zugleich die der Himmlischen sei.40 Jeremias deutet so bestimmte Züge der Jesustradition als himmlische und eschatologische Vollendung der Kultsymbolik des Jerusalemer Heiligtums. Das Verdienst dieser Arbeit besteht nicht so sehr im christologischen Teil, sondern im Aufweis der Wirksamkeit der Kultsymbolik des Judentums, ja der Wirksamkeit eines gefestigten, kultischen Weltbildes und damit der im Judentum liegenden Möglichkeiten einer kultischen und, in gewisser Weise, ‚mystischen‘, ‚ekstatischen‘, ‚magischen‘ Erschließung des himmlischen Hintergrundes, ja der Möglichkeit einer intensiven religiösen Qualifizierung der Gegenwart.
Für die religionsgeschichtliche Neubestimmung der kultischen und ‚mystischen‘ Phänomene des Urchristentums weniger bedeutsam, jedoch wegen ihrer Geschlossenheit hier zu nennen, ist die 1932 erschienene Arbeit von H. Wenschkewitz über die Spiritualisierung der Kultbegriffe.41 Wenschkewitz geht von einem weiteren Kultbegriff der gesamten spätantiken Welt aus, für den das 'da ut des' Grundlage des Opferverständnisses sei.42 Hier liege ein Gegensatz zum ethischen Gottesbegriff, man denke grundsätzlich an eine Wirksamkeit ex opere operato.43 Im Judentum stünde dieses Opferverständnis im Gegensatz zum sittlich-religiösen Pathos der klassischen Propheten.44 Mystik könne wohl aus dem Kult herauswachsen, aber durch ihre spiritualisierende, freiere und direktere Gottesbeziehung nähme sie eine gebrochene Stellung zum Kultus.45 Mystik verinnerliche Religion: Der Gott der Mystik wohne nicht mehr im Tempel, sondern im Herzen. Mit der spiritualisierenden Tendenz der spätantiken Zeit hinge zusammen, dass der Kultus z. Zt. des Neuen Testaments nicht mehr zentrale Institution sei; im Judentum seien ja entsprechend die Essener tempellose Fromme.46
Diese hier zusammengestellten Einzelanschauungen über die Phänomene, deren Spiritualisierung Wenschkewitz untersucht, ja deren Bedeutung für ihn weitgehend an ihrer Spiritualisierungsfähigkeit hängt, sind, zumindest in der späteren Diskussion, kontrovers47 und weisen seinen Einsatz in eine bestimmte theologische Programmatik.48 Beachtlich ist jedoch, dass Wenschkewitz für das Neue Testament nicht einfach die ‚Propheten-Anschluss-Theorie‘49 aufnimmt, sondern den Kultus als Basis von Substitutionsmöglichkeiten ernst nimmt. Schon für die Zeit vor der Tempelzerstörung, erst recht danach, entdeckt Wenschkewitz verschiedene Versuche, das Anliegen des Kultus zu verdichten: Bei den Rabbinen ersetze das Tora-Studium den Kultus und schaffe so Gnade in der Welt,50 ein Gedanke, den auch Neusner zur Grundlage des Verständnisses der rabbinischen Tradierung der Kultgesetze gemacht hat.51 Dazu treten Gebet und andere fromme Leistungen an die Stelle des Opfers. Da Wenschkewitz Opfer hauptsächlich als menschliche Leistung versteht, entsteht durch diese Art der Substituierung kein Problem: Menschliche Leistung wird durch menschliche Leistung ersetzt, wenngleich Wenschkewitz andeutet, dass in beiden Gliedern sich Entsprechung zu einer göttlichen Offenbarung zeigen müsse.52
Diese rabbinische Art der Substituierung sei zu unterscheiden von echter Spiritualisierung, da die Rabbinen ja auch mit einem wunderbaren Wiederaufbau des Tempels rechneten.53 Spiritualisierung hebt nach Wenschkewitz auf eine religiös höherstehende Ebene, während Substitution das Fundament des Substituierten, die Tora, im Grund nicht verlässt.54 Die Spiritualisierung der Kulttradition zeige sich im Neuen Testament, im Gegensatz zur Zwischenschaltung der Tora bei den Rabbinen und einer stoischen Philosophie bei Philo, darin, dass Jesus aus seiner Gottunmittelbarkeit ordnend und vermittelnd in das Gottesverhältnis des Glaubenden eingreife. Seine Gottunmittelbarkeit trage seine geläuterte, in ethischem und sittlichem Sinne vertiefte Kultusfrömmigkeit. Es geht um eine Frömmigkeit, die Motive des Kultus – Vermittlung von Gnade – aufnehme und so prinzipiell den alten Kultus überwinde.55 Diese Gottunmittelbarkeit, die ἐξουsία Jesu, sei nicht weiter bestimmbar, äußere sich aber am ursprünglichsten darin, dass Jesus sich und sein Werk in das Licht von Jes 53 stelle.56 Jesus sei im Lichte von Jes 53 zwar kein Opfertier und sein Tod geschehe nicht rituell, aber der Sühnegedanke in seiner Objektivität verbindet Jesus nach Wenschkewitz mit dem Opferkult im Jerusalemer Tempel.57
Religionsgeschichtlich bzw. im engeren Sinne historisch untermauert Wenschkewitz diese These nicht. Jesu Beziehung zum Kult bleibt einerseits etwas Singuläres, entspricht aber anderseits dem Trend der Spätantike. Es geht um das Bemühen um Sittlichkeit und um eine von äußerlicher Ritualität befreiten Geistigkeit.58
Sah Jeremias den Zweck der Rezeption von Motiven der Kulttheologie in dem Anspruch, mit der Opferstätte Jesu nun den Himmel und Erde verbindenden kosmischen Knotenpunkt zu verwalten, stützt sich Wenschkewitz auf den geistesgeschichtlichen Trend der Spätantike, den kultischen Vollzug zu spiritualisieren. Das Kultverständnis des Neuen Testaments partizipiere daran.
Einen nochmals anderen methodischen Einsatz wählt E.O. James.59 Er arbeitet mit dem orientalischen ‚cult-pattern‘ der nordischen Schule, welches um die Figur des Königs als Mittler zwischen Gottheit und Menschheit kreist und in seinem Tod und Auferstehen rituell-magische Mitbegründung kosmischer Ordnung findet. “Thus, the dead and resurrection drama in its crudest form was a mystery play on the theme ‘Out with famine, in with health and wealth’, in which the king, or his heavenly counterpart, was the principal actor, and the story of creation was re-enacted as part of the ritual struggle.”60 Da das Judentum den unmittelbaren Hintergrund für das NT abgebe, seien die im nachexilischen Judentum mit der Figur des Königs verbundenen kultisch-kosmischen Traditionen für das Verständnis der neutestamentlichen Christologie heranzuziehen.61 Nachdem die Hoffnung auf die davidische Lösung sich mit der kultischen Restituierung nach dem Exil als unmöglich erwiesen habe, schaute man auf eine direkte Intervention vom Himmel, die sich in der makkabäischen Zeit in der Figur des Menschensohnes als des Urmenschen, darin alte Königsmythologie aufnehmend, verdichtet habe.62 Jesus setze mit dem anderen im Judentum nach dem alten cult-pattern entworfenen idealen Königsbild ein, dem deuterojesajanischen Gottesknecht.63 Er verbinde seine gegenwärtige königlich-kultische Opfer-Erniedrigung mit seiner zukünftigen himmlischen Erhöhung als Menschensohn.64 Die christliche Heidenmission stoße sofort auf andere Ausläufer des alten hero-pattern und ersetze die älteste Ebed-Menschensohn-Christologie durch den Kyrios-Begriff.65 James lenkt damit den Blick der kultgeschichtlichen Betrachtung des NT weg vom Fixpunkt der älteren Forschung in den hellenistischen Mysterien. Wie das palästinische Judenchristentum diese alte Jesustradition kultisch genutzt haben soll, kann man nur spekulativ folgern.66
Religionsgeschichtlich einen ähnlichen Weg wie James geht Arvedson.67 Die altorientalische kultische Gattung des Dankopfers (תודה) findet er auch im AT, vor allem jedoch in den hellenistischen Mysterien, die die älteren Vegetationsmythen des Ostens aufnähmen und die kultischen Ausdrucksformen des Ostens übernähmen.68 Die ältere kultisch-räumliche Dialektik von Leben und Tod schlüge in den Mysterien um in eine gnostische von himmlischer und irdischer Existenz.69 Da die Jesus-Tradition sich in Mt 11,25-30 formgeschichtlich an die Todah-Gattung anlehne, spreche Jesus im ersten Teil zwar scheinbar von seiner Würde analog der eines altorientalischen Königs; da er im Folgenden aber die Umsetzung der königlichen Inthronisation – ein angeblich klassischer Fall für die Darbringung einer Todah – in die Selbstverkündigung eines hellenistischen Mystagogen voraussetze, sei der ganze Zusammenhang Mt 11,25-30 als Liturgie eines hellenistischen Mysteriums der Inthronisation des erlösten und erlösenden Offenbarers zu verstehen.70
Den Fortschritt zu einer auch traditionsgeschichtlich abgesicherten, nicht nur religionsgeschichtlich konstruierten Einbindung des Neuen Testaments und der Jesustradition in die alttestamentlich-jüdische Kultgeschichte zeigen die Arbeiten von H. Gese. Wegen der starken Berührung mit Thesen von Arvedson fügen wir hier den Hinweis auf Geses grundlegenden Aufsatz über „Ps 22 und das Neue Testament“71 ein. Auch Gese rechnet mit einer kultgeschichtlichen Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament, insofern Jesus und der palästinischen Gemeinde Kultbräuche des zweiten Tempels selbstverständlich bekannt waren. Jesus deutete seinen ihm bevorstehenden Tod im Rahmen der Feier einer Todah, eines Dankopfers, und stiftete in diesem Rahmen das Abendmahl.
Wenn Gese das urchristliche Abendmahl kultgeschichtlich an die Todah anbindet und dann methodisch ein ‚kultätiologischer‘ Übergang zum Leben des Irdischen erschlossen wird, so ist von vornherein eine erst hellenistische Entstehung des Abendmahls und eine Deutung im Sinne der Mysterien ausgeschlossen.
Vom Alten Testament herkommend, bedarf es weder der schwer zu beweisenden ursprünglichen Identität des Herrenmahls mit dem Passa noch der Annahme, dass die vorpaulinische hellenistische Gemeinde das wesentliche, schöpferische Element der neutestamentlichen Traditionsbildung darstelle. Vielmehr musste nach alttestamentlichen Maßstäben auf die Erfahrung der Auferstehung hin notwendig die Feier der Todah vollzogen werden, ja, die Verkündigung der Auferstehung kann vollständig, d. h. als Erfahrung der Auferstehung, nur in dem Todah-Mahl vollzogen werden.72
Die Feier der Auferstehung gemeinsam mit dem Auferstandenen, die Erfahrung ihrer Wirklichkeit, vollzieht sich also nicht im Rahmen einer hellenistischen Kultmystik, sondern ist Kennzeichen alttestamentlich-jüdischen Verständnisses von kultisch vermittelter, himmlisch-irdischer Wirklichkeit. Bestimmte Psalmen, so der von Gese untersuchte 22., enthielten geradezu eine apokalyptische Theologie, die vom Einbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ als Errettung vom Tode wisse.73 Diese kult-apokalyptische Theologie einer βασιλεία-Frömmigkeit sei getragen vom Bekenntnis zur Teilhabe am Leben aus den Toten, die herrühre aus der Erfahrung des Einbruchs der βασιλεία aus dem Himmel in die vom Christus neu qualifizierte irdische Wirklichkeit der Gemeinde. Die apokalyptische Eschatologie der urchristlichen Kultgemeinschaft wurzele letztlich in alttestamentlicher Kultspiritualität, welche Jesus in seinem Tod am Kreuz an die Wirklichkeit eschatologischen Lebens aus den Toten gebunden habe. „Derjenige, der diese βασιλεία in seinem Leben verkündet hat, führt sie in seinem Tod herbei …“74
Wir stoßen auf den Versuch, Kultus und Eschatologie, ja Kultus und Apokalyptik, Erwartung eschatologischen und Erfahrung himmlischen Lebens als Einheit zu sehen. Die Differenzierungen der älteren Forschung zwischen Eschatologie und Kultus und die daraus resultierende Konstruktion eines doppelten Ansatzes werden hier grundsätzlich in Frage gestellt.
Ganz deutlich ist auch, dass in dieser von Gese beschriebenen kultischen βασιλεία-Verkündigung und -Erfahrung ein raum-zeitliches Konzept von Eschatologie entsteht: Sie ist himmlische Größe, deren kultische Vermittlung zugleich auf die eschatologische Totenauferstehung verweist.
Da nach Gese Jesus das Abendmahl als Erfahrungsrahmen und Vermittlung der Realität seiner Auferstehung gestiftet hat, wird von diesem kultgeschichtlichen Ansatz her ein Zugang zum Zentrum der Jesustradition sichtbar. Die βασιλεία-Verkündigung Jesu bildet gleichsam die Konstante in der Traditionsgeschichte; Jesus selbst rezipiert die kultisch-apokalyptische βασιλεία-Theologie der Psalmen und gibt sie seiner Gemeinde in der eschatologisch realisierten Form einer Feier seines Todes und seiner Auferstehung weiter.
In seiner auf akademische Vorträge in Schweden zurückgehenden Untersuchung ‚Kultus und Evangelium‘ legt E. Lohmeyer 1942 eine Programmschrift vor, die konsequent auf die Bedeutung der Kulttheologie des 2. Tempels für das Verständnis der Jesustradition hinweist.75 Lohmeyer geht aus von einem damals in Deutschland nicht häufig anzutreffenden, in der nordischen Schule entwickelten, positiven Kultusbegriff. Kultus gründe auf Offenbarung Gottes76, er sei Gnadeninstitution77, durch die sich Gott binde, eine Ordnung der Entsühnung und Neuschaffung78; wie Jeremias weist Lohmeyer dem Kultus eine Kosmos und Geschichte ordnende Funktion zu. In ihm laufen Protologie und Eschatologie zusammen;79 der Kultus als Tat Gottes am Menschen eröffne eine Spannung zur Lebenserfahrung des Einzelnen und zur Geschichtserfahrung Israels und treibe so die Geschichte in die Perspektive der eschatologischen Verwirklichung einer Befreiung von Sünde, Tod und Teufel.80 Lohmeyer stößt zu der forschungsgeschichtlich bemerkenswerten These vor, dass aus dem Kultus die Apokalyptik erwachse.81 Der Kult als Gnadenordnung und Zentrum der Geschichtsvermittlung stehe über dem Gesetz, welches ihm nur zudiene.82 Das „Spätjudentum“ sei nicht so sehr Religion des Gesetzes als vielmehr Religion des Kultes.83 Der Kultus erschließe Israel eine gegenwärtige, lebendige Beziehung zum Vater im Himmel,84 ja gewähre Gemeinschaft mit der himmlischen Gemeinde.85
Lohmeyer bringt zum Ausdruck, dass kultische Heiligkeit und sittliche Vollkommenheit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern im Kultus immer auf einander bezogen sind. Es bleibe darin aber eine Spannung, in der der Kultus auf die eschatologische Neuschöpfung weise.86 Die ältere prophetische Kultkritik habe auch nicht auf sich selbst gestanden, sondern komme aus der eschatologischen Perspektive, in der der Kultus selbst seine Vollendung schaue.87 Z. Zt. des Neuen Testaments seien alle religiösen Bewegungen aus dem Kult selbst kommende Beerbungs- und Umsetzungsversuche.88 Lohmeyer macht vor diesem Hintergrund Ernst mit der alten exegetischen Beobachtung, dass die Aussage von Gottes Königtum eine kultische Tradition sei: Der Reich-Gottes-Begriff in Jesu Verkündigung ziele auf das himmlische Haus Gottes.89 Die christlichen Sakramente seien eschatologische ‚Aufhebungen‘ der Opfer, insofern sie eschatologisch wirksam von den zuvor kultisch angegangenen Negativ-Größen Sünde, Tod und Teufel befreiten.90 Lohmeyer kommt vor diesem Hintergrund zu einem stark hochpriesterliche Züge tragenden Jesusbild,91 wie wir unten entfalten werden.
Hier bleibt festzuhalten, dass Lohmeyer eine Programmschrift vorgelegt hat, die er leider selbst nicht mehr hat ausgestalten können. Er weist den Weg für eine konsequente kultgeschichtliche Betrachtung des NT – ja bereits der Jesustradition – vor dem Hintergrund der Kulttheologie des Alten Testaments und des Judentums. Lohmeyers These vom Kultus als Grundlage für die Ausbildung spezifischer Traditionen hat durch die spätere Entdeckung der Qumran-Texte eine grundsätzliche Bestätigung erfahren.
Noch vor der beginnenden Auswertung der Qumrantexte kam G. von Rad in einer Untersuchung zu ‚Gerechtigkeit und Leben in den Psalmen‘92 im Anschluss an Mowinckels kultgeschichtlicher Betrachtung der Psalmen93 zur Erhebung einer bestimmten Kultspiritualität. Der Kultus in Israel sei eingespannt in ein vertikal ausgerichtetes Weltbild, welches von dem der grundsätzlich geschichtlich denkenden Propheten letztlich unaufhebbar verschieden sei.94 ‚Leben‘ und ‚Tod‘ treten danach im kultisch erschlossenen Dasein als gegensätzliche Mächte auf, so dass gleichsam Scheol und Himmel im Griff nach dem Menschen sich gegenüberstehen.95 Der Kultus spreche in diesem Welt- und Daseinsgefüge Leben zu und dränge Scheol-Kräfte zurück. Teilhabe am Kultus bedeute deshalb, in der Sphäre himmlischen Lebens zu stehen. Zum Kultus gehört also eine von ihm erschlossene Lebensmystik, insofern der Fromme sein Leben unter dem Blick auf die himmlische Herrlichkeit zu führen vermag.96 Gelte dies nur potentiell von jedem Kultteilnehmer,97 so jedenfalls in gesteigertem Maße von dem, der ständig im Bereich des Tempels und seiner Symbolik zu Hause sei: „Die Kenntnis der Form kultischer Rede, das Umgehen mit sakralen Überlieferungen, ihre Bearbeitung und ständige Neugestaltung – das war Sache eines Berufes, einer bestimmten Vollmacht, ja auch eines Handwerks …“98 Die Lebendigkeit des Kultus, so könnte man sagen, hängt davon ab, dass bestimmte Kreise des Kultpersonals die Kulttheologie, die Ausdrucks- und Erlebnisformen des Kultus ständig neu interpretieren und verdichten. Daraus entsteht eine Spiritualisierung, die aus dem Kultbetrieb selbst erwächst. Der Kultus ist damit nach v. Rad grundsätzlich aus sich selbst und um seines zentralen Anliegens willen, die gnädige Gegenwart Gottes und seiner Heilsgüter erfahrbar zu machen, reformierbar, erneuerungsfähig. V. Rad denkt insonderheit an die Leviten, die, vom täglichen Dienstbetrieb des Opfers etwas entfernt, aus ihrer alten Priestertradition um die vertieften Dimensionen der Kultsymbolik wissen.99 Sie kennen das Geheimnis der Gottesschau im Kultus, sie wissen, dass die kultisch gewährte Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinausreicht; die Hoffnung auf ein Entrücktwerden im Tod gehöre deshalb zur Kultanthropologie dieser levitischen Spiritualen.100
Der Einfluss der Kulttheologie mit der in ihr ermöglichten räumlich und präsentisch-eschatologisch ausgerichteten Frömmigkeit auf Bereiche des nachbiblischen Judentums wurde unübersehbar mit der Entdeckung der Qumran-Texte. Schon das 19. Jahrhundert entnahm den Darstellungen bei Josephus und Philo, dass es sich bei den Essenern um priesterliche Kreise handeln müsse.101 1955 folgerte L. Rost aus der im AT feststellbaren Gruppenbildung, dass die Gemeinschaft der am Tempel diensttuenden Priester dem inneren Kreis der Qumrangemeinde am ehesten entspreche.102 Den Einfluss der älteren Kulttheologie und ihre Übertragung auf den יחד von Qumran hat dann neben anderen J. Maier untersucht103: Die Qumrangemeinschaft, der יחד, ist der neue Tempel; der kultische Vollzug in vollkommener ritueller Reinheit ermögliche Gemeinschaft mit der himmlischen Gemeinde der Engel und eine starke Betonung der Gegenwart eschatologischen Heils in der Gemeinde.104 Religionsgeschichtlich sieht Maier eine Verbindung von kultisch-räumlich-vertikalem Denken mit dem eschatologischen Geschichtsbild prophetischer Tradition und der eschatologischen Bußbewegung der Makkabäerzeit.105 Allerdings führe die Verbindung zu einer Dominanz des räumlich-kosmologischen Denkens, einer Dominanz, die zur Gnosis hinführen könne, wie in der späteren Merkaba-Mystik des Judentums stärker sichtbar würde.106
Dem kultgeschichtlichen Thema ‚Enderwartung und gegenwärtiges Heil‘ widmete H.-W. Kuhn 1966 eine Monographie.107 Kuhn geht aus von der kultischen Gebundenheit vor allem der Gemeindelieder und der in ihnen präsentisch verstandenen Heilsaussagen: ‚Auferstehung‘, ‚Neuschöpfung‘, ‚Engelgemeinschaft‘, ‚Himmelsaufstieg‘.108 Mit Becker109 konstatiert Kuhn den Einfluss der Kultspiritualisierung in der ‚Mystik‘ bestimmter Psalmen.110 Vermutlich gehöre ein Teil der levitischen Tempelsängerschaft zu den Gründern des יחד.111
In folgendem Zitat kommt die Grundfrage zum Ausdruck, mit der Kuhn auf diesem Hintergrund zu tun hat: „Dass man in den atl. Psalmen noch keine direkte Parallele für den Satz, dass der Fromme schon in den Himmel versetzt ist, findet, liegt daran, dass erst in der Apokalyptik der Himmel in die Spekulationen und Wünsche der Frommen stärker einbezogen wird.“112 In der Anm. zu diesem Satz verweist Kuhn auf Ps 73,24f., wo שמים und ארץ für die Zeit nach dem Tod des Frommen, aber auch für die Gegenwart, so auf einander bezogen werden, dass der Bereich des Himmlischen das Irdische in sich aufnimmt.113 Kuhn hält trotz dieser vorsichtigen Einschränkungen durchgängig und grundlegend an einer Trennung von kultisch-räumlich-präsentischen und apokalyptisch-zukünftig-geschichtlichen Traditionen fest.114 Es handle sich bei ‚Kultus‘ und ‚Apokalyptik‘ um zwei Grundpfeiler der theologischen Struktur in der Gemeindefrömmigkeit Qumrans, die nebeneinander und in Spannung zueinander stünden. Für die Apokalyptik sei die Gegenwart heilsleer, insofern sie das Heil ausschließlich aus der Zukunft erwarte; für die Kultfrömmigkeit sei andererseits die Gegenwart eschatologischen Heils das Betonte.115 Ebenso unterscheidet Kuhn im Offenbarungs- und Wissens-Begriff eine apokalyptische und eine priesterliche Tradition, die eigentlich unvereinbar seien: Während sich in der priesterlichen Tradition aus der Gemeinschaft mit den Himmlischen ein Wissen um gegenwärtig erreichbares himmlisches Heil ergebe, kenne die Apokalyptik gegenwärtige Offenbarung nur als bloßes Wissen um rein zukünftiges Heil, welches gegenwärtige Heilserfahrung keineswegs erschließe.116 Da Eschatologie nach Kuhn im Judentum sonst unter diesem rein zukünftig ausgerichteten Begriff von Apokalyptik bestimmbar werde, ist es für ihn deutlich, dass die Qumran-Eschatologie gegen alle übrige jüdische Eschatologie stehe.117
Diese Analyse Kuhns scheint uns schematisch und konstruktiv zu sein.118 Der Apokalyptik-Begriff unter dem Stichwort der ‚heilsleeren Gegenwart‘ stammt nicht aus einem religionsgeschichtlichen, sondern systematisch geforderten Ansatz, der sich stark an Bultmann anlehnt. Hier wird die Apokalyptik als strenge Gesetzesreligion verstanden, in der das Heil nur aus dem Toragehorsam stamme und die Schau zukünftiger Erlösung eine nur über den Toragehorsam mit der Gegenwart vermittelte Kraft habe.119 Apokalyptik ist dann eine Form der jüdischen Religion, welche über die Schranken eines starren Gesetzesbegriffs nicht hinausführe – eine auffällig passende Folie für einen Entwurf der Offenbarung Gottes in Jesus aus souveräner Unmittelbarkeit und jenseits aller Schranken der religionsgeschichtlichen Umwelt. Dass auch Kuhn Jesus in dieser Art versteht, werden wir unten sehen.120 Demgegenüber ist zu betonen, dass gerade in der bei den Qumranfrommen sich findenden Synthese zwischen ‚Kultus‘ und ‚Apokalyptik‘ ein deutlicher Hinweis liegt, dass beide angeblich unvereinbaren Traditionsreihen offenbar doch aufeinander verwiesen.121 Wir sind der Meinung, dass dies nur deshalb möglich war, weil beide Traditionsreihen schon vor der Ausbildung der Qumran-Theologie miteinander in Verbindung standen: Die Apokalyptik setzt den Kultus als Heilsinstitution voraus, und der Kultus hat von Haus aus eine Offenheit zur Erfassung einer der Protologie entsprechenden eschatologischen Perspektive. Apokalyptische Offenbarung führt zu einer Begegnung mit dem Gott, der die Geschichte Israels und des Kosmos in Händen hat; von ihm Offenbarung über die Erhöhung der ‚Heiligen‘ zu erhalten, bedeutet eine schon die Gegenwart bestimmende Heilsaussage. Kuhn scheint für seine Qualifizierung apokalyptischen Offenbarens und Wissens Voraussetzungen hebräischen Denkens außer Acht zu lassen, die er anderorts ausdrücklich namhaft macht122: Hebräisches Denken kenne eigentlich den modernen, linearen Zeitbegriff nicht, sondern verstehe Gegenwart als Raum der Vergegenwärtigung vergangener und zukünftiger Ereignisse. Dass Kuhn dennoch die apokalyptische Offenbarung mit einem rein linearen Zeitbegriff zu verknüpfen sucht,123 entspricht dem Versuch, kultisches Denken vom Entwurf einer eschatologischen Dimension zu trennen und die Enthüllung des Himmlischen als eigentlich nicht im Kultus beheimateten Prozess hinzustellen.124 Dabei scheint uns nach allem, was die Jerusalemer Tempelsymbolik und allgemeiner die altorientalische Kultideologie ausmacht,125 deutlich zu sein, dass ein Himmel und Erde umfassendes, kultisch geordnetes Weltbild entsteht, in dem das Himmlische Raum Gottes und des Heils ist. Da in der biblischen Traditionsbildung auch das geschichtliche Credo im Rahmen kultischer Begehung, ja der geschichtlich verankerte Bundesschluss kultisch vergegenwärtigt wird und die letztlich den Rahmen bestimmenden Sammelwerke P, DtnGW und ChrGW auf kultischer Grundlage entstehen, scheint eine Gegenüberstellung gegensätzlicher Traditionen geschichtlicher und kultischer Prägung zweifelhaft. Angesichts der genannten Verbindungen, ferner der Verwobenheit von Kultus und Eschatologie in der Johannes-Apokalypse,126 in der jüdischen Mystik127 und religionsgeschichtlich entfernteren Analogiebildungen128, stellt sich die Frage, ob nicht zumindest ein Großteil jüdischer Apokalyptik speziell ‚Kultapokalyptik‘ ist, die aus der kultisch erschlossenen Möglichkeit, in das Himmlische vorzustoßen, die Offenbarung über die im Himmel schon vorhandenen eschatologischen Heilsgüter bezieht. Der himmlische Ort, von dem her im Kultus das göttliche Heil irdisch wird, sich inkarniert, ist ja der Ort der Erlösung. Das Himmlische, auf das der Kultus sich bezieht, ist also anscheinend eo ipso Ausdrucksform des eschatologischen Geheimnisses, ja im Himmlischen ist offenbar das eschatologische Geheimnis, welches auf der irdischen Geschichtslinie in der Zukunft liegt, schon präsent.
Kuhn scheint uns den Einfluss der Tempelsymbolik auf Teile des nachbiblischen Judentums überzeugend nachgewiesen zu haben, jedoch mit einem zu engen Apokalyptik-Begriff zu arbeiten. Da Kultfrömmigkeit und apokalyptische Offenbarung auch sonst im Judentum und der weiteren Religionsgeschichte zusammenkommen, erscheint die These einer einmaligen Synthese von Haus aus völlig verschiedener Denkformen unwahrscheinlich.
Man hat den Eindruck, als wirke auch dort, wo die religions- und traditions-geschichtlichen Voraussetzungen für eine Neubestimmung der Größen ‚Kultus‘ und ‚Eschatologie‘ grundsätzlich vorhanden sind, immer noch die ältere Trennung in Begriffsreihen, wie jüdisch-apokalyptisch-geschichtlich und hellenistisch-kultisch-räumlich, nach. Von einem Gegensatz zwischen Theokratie und Eschatologie spricht beispielsweise auch noch O. Plöger: Während die Apokalyptik sich aus der unkultischen Eschatologie der Propheten entwickelt habe, sei die ungeschichtliche Theokratie-Konzeption der Priester in hellenistisches Denken umgeschlagen.129 Systematisch-theologisch verbindet Plöger die eschatologische Erwartung mit der Existenz im Glauben, die Theokratie mit der Existenz der Sicherheit.130
Trotz trefflicher Bemerkungen zur Forschungssituation finden sich auch im TRE-Beitrag von Karlheinz Müller131 u.E. einseitige Zuspitzungen, die so nicht haltbar sind: Das strapazierte Stichwort der ‚heilsleeren Gegenwart‘ klingt nach wie vor an, wenn es heißt, dass Heil in der Apokalyptik nicht mehr als innerweltlich abgesicherte Erinnerung an Vergangenes, sondern ausschließlich aus der Zukunft erwartet werde;132 dass die Apokalyptik „das Grundaxiom der wesentlichen Beziehungslosigkeit zwischen Geschichte und Erlösung“133 vertrete, dass die Mitte der apokalyptischen Überzeugung auf die These einer „… absoluten Übergangslosigkeit zwischen Historie und der Erlösung“134 hinauslaufe; dass die asidäischen Apokalyptiker ein irreparabel gebrochenes Verhältnis zum theokratischen Grundwissen und damit zur alten Tradition geschichtlicher Erwählung haben.135
Traditionsgeschichtlich sehr viel differenzierter und damit in der historischen Analyse überzeugender ist die Untersuchung von O.H. Steck136, der der Abfolge der in der Perserzeit entstandenen aramäischen Danielerzählung (Dan 2-6), über das aramäische Danielbuch der Ptolemäerzeit (+ Dan 2+ und 7+), bis zum makkabäischen Danielbuch (Zufügung von 1 und 8-12; Umarbeitung von 2 und 7) unter dem Aspekt der darin jeweils enthaltenen Geschichtskonzeptionen nachgeht.
Die aramäischen Erzählungen sehen Gottes Weltherrschaft in der irdischen Konkretion des persischen Großreiches: „Diese von der Erzählung repräsentierte Position ist an dem Israel konstituierenden Tempelkult des nachexilischen Jerusalem orientiert …“137. Und das bedeutet nach Steck: „Die Geschichte Israels ist in dieser ganz uneschatologischen, von einem Wiederaufleben der vorexilischen Jerusalemer Kulttradition geprägten Sicht kein konstitutiver Rahmen theologischer Wahrnehmung, weil sie in der nachexilischen Kultgemeinschaft und ihren Heilsqualifikationen schon zum Ziel gekommen ist.“138 Mit der kurzen Blüte der Alexanderzeit und dem Verfall des Großreiches in die Diadochenländer befasst sich das ptolemäische Danielbuch: Nicht ein Großreich repräsentiert irdisch Gottes Himmelsherrschaft, sondern erst am Ende der Tage wird Gottes Himmelsherrschaft sich in einem andersartigen Reich offenbaren.139 Die kultische Kategorie der vom Himmel ausgehenden Herrschaft Gottes schlägt angesichts der geschichtlich erfahrenen Zersprengung des Entsprechungsgedankens von ‚oben‘ und ‚unten‘ um in eine rein eschatologische Lösung.140 „Die Aussagen über das eschatologische Reich werden in Aufnahme der Aussagen der Erzählungen und Hymnen als deren ungeminderte Verwirklichung in der Zukunft formuliert.“141
Steck spricht bei dieser Wandlung der kultisch-weisheitlichen Position ins Eschatologische von einem Einfluss „prophetisch geprägter Strömungen der Zeit.“142 Dennoch bleibt traditionsgeschichtlich konstitutiv auch in dieser Wandlung das Bild des theokratischen Israel: Es ist das Israel der Kultgemeinde, welches in dem ewigen Reich leben wird.143 Es ist dies das Reich des Menschensohnes und der Heiligen des Höchsten.144 Diese eschatologische Erwartung scheint getragen zu sein durch das Wissen darum, dass die himmlischen Engel jetzt schon um den Thron Gottes herum eine himmlische Gemeinde bilden, zu der dann die Gerechten der Endzeit hinzugenommen werden.145 Die durch die Qumran-Schriften im Besonderen bekannt gewordene Heilsaussage der Engelgemeinschaft erwüchse dann auch hier aus einer kultischen Grundaussage.146
Sehr kompliziert werden nach Steck die geschichtlichen und traditionsgeschichtlichen Abläufe in der syrischen und frühmakkabäischen Zeit. Die Sistierung des Tempeldienstes brachte zunächst die eschatologische Ausweitung der kultisch-theokratischen Grundposition in einen entscheidenden Bruch: Die Gegenwart erscheint nur noch als Unheilszeit. Steck meint, dass der Katastropheneindruck nicht mehr kultisch-theokratisch bewältigt werden konnte. Die Deutung der Vorgänge gehe in Dan 8 zwar auf die Vernichtung des Antiochus und die Wiederaufnahme des Tempeldienstes,147 jedoch werde die nachexilische Zeit insgesamt als Zorneszeit gesehen, was prophetischer, nicht jedoch kultisch-theokratischer Position entspreche.148 Die Zorneszeit über Israel korrespondiert dem Frevel im Volk. Diese geschichtstheologische, näherhin deuteronomistische, Konzeption sei dem kultisch-theokratischen Denken von Haus aus fremd.149 Es entstehe die Blickrichtung auf einen eschatologischen Tempel, von der her Kritik am irdischen Tempel und der makkabäisch-hasmonäischen Tempel-Wiederweihe möglich werde. Steck scheint die Reserve der Daniel-Kreise gegenüber der hasmonäischen Theokratie jedoch nicht so sehr in ihrer himmlisch-eschatologischen Kultidee wurzeln zu sehen, als vielmehr in der deuteronomistischen Konzeption.150 Die nachexilische Zeit nicht als Zeit eines durch den Tempel bedeuteten Heils, sondern allein als Zeit des Zorns und der Schuld zu sehen, „… dies ist allein die der theokratischen entgegengesetzte Sicht der Strömung deuteronomistischer Prägung …“;151 dennoch steht letztlich diese „… komplexe Neuverbindung von weisheitlicher, prophetischer und deuteronomistischer Tradition auf kultisch-weisheitlichem Boden …“152 Hat sich traditionsgeschichtlich die Entwicklung der Daniel-Überlieferung über Jahrhunderte als Ausgestaltung der theokratischen Grundlage zur eschatologischen Erwartung des kommenden Reiches vollzogen, so setzt in den wenigen Jahren, die durch die Antiochus-Erfahrung geprägt sind, ein „theologischer Umbruch sondergleichen“ ein.153
Trotz mancher Bedenken gegen die Konstruktion gerade der letzten theologischen Entwicklung im Danielbuch154 können wir die Grundthese von Steck als bestätigende Ergänzung zu der im Anschluss zu erwähnenden Arbeit Hansons aufnehmen: Wesentliche Teile der langen Danielüberlieferung, einschließlich Kap. 7, sind als Wendungen der kultisch-theokratischen Position ins Eschatologische zu verstehen. Diese Wendung meint die Erwartung ungeminderter Verwirklichung des kultisch bedeuteten Heils in der Zukunft. Auch das makkabäische Danielbuch sieht die eschatologische Erlösung gerade in der Weihe des himmlisch-irdischen Zionstempels gipfeln (9,24). Das Heil des eschatologischen Umbruchs bleibt kultisch beschrieben.
Hanson sieht in der Apokalyptik geradezu das Produkt einer durch priesterliche Außenseiterkreise umgestalteten Kultfrömmigkeit. Nach Hanson155 ist in nachexilischer Zeit die Kultreform das zentrale Anliegen aller religiöser Gruppen des palästinischen Judentums. Hanson unterscheidet eine zadokidische und eine spätprophetisch-apokalyptische Gruppe, die vor allem an Tritojesaja und Deutero/Tritosacharja anknüpfe. Die zadokidische Gruppe scheint ihr Restaurationsprogramm eher aus P und Ez bezogen zu haben. Beide Gruppen fallen aber nicht so sehr aus Gründen einer verschiedenen traditionsgeschichtlichen Basis bei ihrer Bestimmung des wahren, gottgefälligen Kultus auseinander, sondern weil sie soziologisch immer mehr auseinanderdriften: Die levitischen156 Kreise, die vom tatsächlichen Kultbetrieb ausgeschlossen werden, können ein utopisches Bild bewahren und verstärken, während die im alltäglichen Kultbetrieb verschlissenen Priester desillusioniert zu Werke gehen; orientieren sich diese begreiflicherweise an einem mehr konservativen Kultverständnis, so radikalisieren die isolierten Außenseiterkreise nach Sektenmanier ihr Kultverständnis im utopischen, apokalyptischen und mythischen Sinne.157 Hierbei greifen die Außenseiter auf vorexilische Kulttraditionen zurück, nämlich die Gott-König-Mythologie und die Zionstheologie: “… it was a vision of a righteous and holy community restored to a glorified Zion, in which all would be priests of Yahweh possessing Israel as their inheritance and secure from the threat of enemies …”158 Diese kultische, zionstheologische Bestimmung der Endzeit ist nach Hanson geradezu die apokalyptische Grundvision.159
Religionssoziologisch arbeitet die Monographie zum Thema ‚Kultus und Eschatologie‘ von D. Aune.160 Aune geht davon aus, dass das Urchristentum von Anfang an, schon in der aramäisch sprechenden palästinischen Urgemeinde,161 für seine Christusverehrung auf kultische Ausdrucksformen gewiesen war.162 Im Gemeinde-Kult wurde Jesu eschatologische Herrschaft, die Teilhabe an seinem Reich, vorweggenommen. Im Kultus verwirklicht sich eschatologische Heilserwartung proleptisch, ohne die Erwartung einer zukünftigen Realisierung des Heils in toto aufzugeben.163 Dabei bringt nach Aune – hier liegt für ihn der wichtigste Gedanke – der kultische S.i.L. der Erfahrung eschatologischer Erfüllung einen Rückgriff auf die protologische Perspektive mit sich. Ende und Anfang entsprechen sich im kultischen Denken, so dass die Vorwegnahme des Endes ein kultisch vermitteltes Eingehen in das Paradies bedeutet.164 Da das Paradiesmotiv, die restitutio principii, Hauptmotiv der präsentischen Eschatologie in der Gemeindefrömmigkeit Qumrans und des Urchristentums sei, in diesem Motiv sich aber alte biblische Kulttradition zeigt, ist es für Aune keine Schwierigkeit, die Verbindung von Kultus und Eschatologie-Protologie schon im AT vorgeformt zu sehen.165 Allerdings arbeitet Aune nicht im engeren Sinne biblisch-traditionsgeschichtlich, sondern allgemein religionsgeschichtlich-phänomenologisch: “On the basis of this Judaeo-Christian conceptualization of the eschaton as the time for the restitutio principii, one might speak more accurately of ‚protology‘ than of eschatology. Actually, eschatology and protology function homologously, with the functionally insignificant difference that in eschatology the ideal conditions of the primal period are located not only at the beginning of time but also at its end.”166 Dabei kommt es bei Aune sogar zu einer bemerkenswerten Umkehrung: Während Kuhn die Präsentifizierungstendenz der Theologie der Qumrangemeinde von ihrem priesterlichen Selbstverständnis her, und d. h. aus dem Nachwirken bzw. der intensivierten Aufnahme der Jerusalemer Tempelsymbolik, deutet, sieht Aune in der priesterlichen Tempeltradition nicht den Grund und die historische Ermöglichung eines präsentisch-eschatologischen Heilsverständnisses, sondern nur eine Möglichkeit unter anderen, die Gegenwart der eschatologischen Erlösung auszusagen. Der Grund dafür liege woanders,167 nämlich in dem allgemein zu fassenden religionsgeschichtlichen Gesetz, Heil von der Rückkehr in den Urzustand zu erwarten und diese Rückkehr sich kultisch vermitteln zu lassen.168 Dieser Ansatz hat zur Folge, dass nach Aune jede religiöse Bewegung, die kultische Realisierung eschatologischen Heils anstrebt, zunächst sich allgemeinen religionssoziologischen Gesetzen unterwirft und erst sekundär auf dieser Grundlage ihre besonderen Traditionen ausformt. “The present study has attempted to examine select phases of early Christianity from the standpoint of the phenomenology of religions generally, and the religions movements in its environment in particular, all the while granting unique elements to the christian movement, elements, which are highlighted by a lack of continuity with the immediate religious and cultural background.”169 Dieses Ergebnis scheint methodisch präfiguriert: Vor dem Hintergrund zunächst und hauptsächlich allgemein religionsgeschichtlich-phänomenologisch erarbeiteter Gesetze zur Kulteschatologie erscheinen die einzelnen Ausprägungen des allgemeinen Gesetzes als jeweils unabhängige Realisierungen eines religionsphänomenologischen Schemas, so dass die eigentliche traditionsgeschichtliche Arbeit nur zu sekundär bedeutsamen Ergebnissen führen kann. Damit hängt wohl zusammen, dass Aune zwar mit dem Problem der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu einsetzt, jedoch mit seiner Methode zur Jesus-Frage nicht vordringen kann.
Wir fassen zwischenzeitlich zusammen:
Bevor wir uns der letzten der eingangs dieses Abschnitts 3. formulierten drei Fragen zuwenden, können wir jetzt eine Antwort geben auf die beiden ersten; wir stützen uns auf die Tendenz der Forschungsgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Die starre Trennung in zwei traditionsgeschichtliche Bereiche ‚palästinisch‘ und ‚hellenistisch‘ und ihnen entsprechende Grundaspekte eines jeweiligen Weltbildes, in der man die Kategorie des Räumlichen, Himmlischen, Kultischen ausschließlich dem Hellenismus zurechnete, hat sich zunehmend als unbrauchbar erwiesen. Die Wiederentdeckung des jüdischen Kultes hat einen traditionsgeschichtlichen Anknüpfungspunkt für das NT sichtbar werden lassen, durch den eine religiöse Orientierung sowohl in räumlichen als auch in geschichtlich-eschatologischen Kategorien als jüdisch-palästinisch vorgegeben ist. Der Kultus erschließt die himmlische Dimension der Schöpfung und mit ihr die Dimension, aus der die eschatologische Verklärung zur neuen Schöpfung anbricht. Offenbar kennt schon die Kultfrömmigkeit der Psalmen eine Spiritualität, ja eine Erfahrung des Anbruchs der Herrschaft Gottes, die man als proto-apokalyptisch bezeichnen kann. Schweitzers These von der mystischen Zuspitzung der apokalyptischen Naherwartung wird man umgekehrt auf die Füße zu stellen haben: Die „Mystik“ einer kultischen Erfahrung der Gottesherrschaft trägt eine apokalyptische Erwartung der Verklärung in der neuen Schöpfung. Die mehr motivgeschichtlich und theologisch-konstruktiven Ansätze bei Jeremias und Lohmeyer können nun an den Beobachtungen zur Theologie der Qumranschriften und einer daraus resultierenden neuen Beschäftigung mit der jüdischen Apokalyptik traditionsgeschichtlich ausgezogen werden. Wir stoßen auf eine jüdische Kultfrömmigkeit – die nicht immer identisch sein muss mit einer Zentrierung im Jerusalemer Kult-, welche die Gemeinschaft mit den Bewohnern des himmlischen Teils der traditionell kultisch verwalteten Schöpfung erfahrbar macht und daraus das Ziel der eschatologischen Erlösung ableitet.
Es besteht also offenbar kaum noch ein Grund, an dem das Himmlische, Räumliche und Kultische allein der hellenistischen Entwicklungs-Epoche des Urchristentums zuweisenden traditionsgeschichtlichen Schema der älteren Forschung festzuhalten. Dort, wo das Judentum als lebendige Kultreligion verstanden wird, begegnet man einem raum-zeitlichen Weltempfinden, in dem die aus Himmel und Erde bestehende Schöpfung in einer beide Schöpfungsräume umspannenden Geschichte zwischen Schöpfung und Neuschöpfung geschaut wird.