Читать книгу WOLF CALL - Jara Thomas - Страница 12

2. September

Оглавление

Es war so weit. Marc hatte Charlotta und Juli absprachegemäß drei Tage zuvor abgeholt, damit Erstere mit dem Pisap Inua eine Reise in Trance unternehmen konnte. Vielleicht würden die alten Geister ihnen ja verraten, ob sie Rob dazu benutzt hatten, im scheinbar ungünstigsten Augenblick zurückzukommen, um eben einen Kampf, damit allerdings auch das Schlimmste für das Dorf, zu verhindern.

Ursprünglich wollte sie Juli bei Rob lassen. Sie hatte komplett abgestillt, es wäre also durchaus möglich gewesen, dass der Vater sich ein paar Tage alleine um sein Kind kümmerte. Juli fremdelte im Moment, und sie war sich nicht sicher, ob sie es wagen konnte, sie bei Nelly zu lassen. Charlotta wusste nicht genau, ob noch Ferien waren und Mona sich vielleicht bereiterklären würde, ihre kleine Cousine zu bespaßen.

Allerdings bekam Rob gerade jetzt einen lukrativen Auftrag, der ihn für mindestens zwei Wochen unterwegs sein ließ. Bis nach Kanada! Charlotta war total neidisch, wusste aber, dass sie ganz sicher nicht mitkonnte – vor allem nicht mit einem kleinen Kind. Sie kämpfte noch mit sich, ob sie den Besuch im Dorf vielleicht verschieben sollte, doch Rob, der nichts von ihren Plänen dort ahnte, redete ihr zu, die Zeit im Dorf zu verbringen. Also konnte sie Juli nicht bei ihm lassen, sondern nahm sie mit, nachdem sie geklärt hatte, wer sie abholen würde.


Das kleine Mädchen schien Charlottas Nervosität zu spüren. Es war unruhig und quengelig. Das wiederum machte Charlotta ungeduldig, und so war die Stimmung sehr angespannt, als Nelly kam. Sie hatten besprochen, Juli in Robs Haus zu betreuen, das Juli in den drei Tagen, die sie jetzt wieder im Dorf war, vertrauter sein dürfte. Und – die Möglichkeit, woandershin zu gehen, gab es deshalb ja immer noch.

Als Charlotta sich von ihr verabschieden wollte, schrie Juli Mord und Brand, und es sah nicht so aus, als sei das in wenigen Minuten vorbei. Es half nichts zu essen, nichts zu trinken, nichts zum Spielen … Alles Zureden, Vorsingen, Fingerspiele, Hoppe-Hoppe-Reiter … Erfolglos! Also nahm Charlotta ihre Tochter erst mit zum Pisap Inua. Nelly im Schlepptau.

Der alte Mann erfasste die Situation sofort. Eine Einjährige mit zornrotem Gesicht, auf dem die Tränen ihre Spuren hinterlassen hatten und deren braune Locken wie eine wirre Wolke um ihren Kopf zu schweben schienen. Dazu eine fahrige und gestresste Mutter. Er ging auf die beiden zu, und zu Charlottas großer Verblüffung starrte Juli den alten Mann an und vergaß augenblicklich, wie schrecklich das Leben war, und dass sie deshalb weinen musste. Der Pisap Inua streckte die Arme nach dem kleinen Mädchen aus, und Charlotta sah fassungslos zu, wie Juli sich begeistert von ihm hochnehmen ließ.

Der Schamane lachte über den Gesichtsausdruck der jungen Mutter. Dann nickte er Marc zu, und der machte sich an dem Schrank mit den vielen Schubladen zu schaffen. Schließlich hatte er fünf Tassen mit Tee zubereitet. Eine, die auch für Kinderhände geeignet war, für Juli. Er hatte ihren Tee mehrfach in andere Tassen umgefüllt, sodass er eine annehmbare Temperatur hatte und gab Charlotta die Tasse.

Die näherte sich vorsichtig ihrer Tochter, ängstlich, dass das Kind sofort wieder anfangen würde zu schreien. Als das nicht geschah, gab sie ihr vorsichtig die Tasse, die Juli mit beiden Händen griff. Charlotta hielt vorsichtshalber noch die Hand darunter, damit nichts passierte, doch Juli, der der Tee zu schmecken schien, hatte sehr bald alles getrunken. Erst jetzt sah Charlotta, dass Marc für sie auch einen Tee gekocht hatte. Marc und Nelly saßen bereits in den tiefen Ledersesseln und unterhielten sich leise. Charlotta setzte sich dazu – immer noch misstrauisch ihre Tochter im Blick. Während der alte Schamane mit Juli auf dem Arm durch den Raum lief, erklärte er ihr die vielen Dinge, die an den Wänden hingen. Mit einer Aufmerksamkeit, als verstünde sie alles, hing das Kind an seinen Lippen. Immer ungläubig beobachtet von seiner Mutter, die die beiden kaum eine Sekunde aus den Augen ließ.

Schließlich kam der Pisap Inua zu der Sesselgruppe. „Hier, Nelly, ich denke, ihr könnt jetzt gehen“, sagte er. Die beiden Frauen sahen sich skeptisch an, doch Nelly tat, worum der alte Mann sie gebeten hatte. Als habe sie nie mit dem Schicksal gehadert, dass ihre herzlose Mutter sie zu der fremden Frau geben wollte, ließ Juli sich von Nelly auf den Arm nehmen, und ohne große Abschiedszeremonie verließen die beiden das Haus.

„Wow! Von dem Tee hätte ich gerne einen Jahresvorrat“, seufzte Charlotta beeindruckt. „Das ist ja unglaublich!“

„Und jetzt trink du auch schön brav deinen Tee“, schmunzelte Marc, „damit du genauso wieder runterkommst. Sonst brauchen wir hier nämlich gar nicht erst anzufangen.“

Charlotta atmete tief durch. Sie nahm Marc die zweite Tasse dankbar ab und grinste. „Wenn ich überlege, wie wichtig es dir war, dass ich ohne Sorge um stinkende Kräuter und gerne ohne Frühstück und sogar ohne Kaffee zu meiner ersten Trance-Reise gehe … Du bist extra früh gekommen, um mich aus Robs Haus abzuholen. Und jetzt … da ist mal so gar nichts mit Ruhe und Entspannung. Echt, mit ’nem Kind ist irgendwie nichts mehr ruhig und entspannt.“ Sie sah den Pisap Inua an. „Wie hast du das gemacht, dass sie sofort friedlich und still war?“

Der alte Mann lächelte. „Dadurch, dass ich schon so alt bin, und durch meine Tätigkeit als Schamane, ruhe ich eher in mir als ihr jungen Leute. Kinder sind da ganz sensibel. Die reagieren schon auf geringste Schwingungen. Selbst wenn man das selber gar nicht bemerkt.“ Er schmunzelte. „Und jetzt wollen wir mal gucken, dass du es auch schaffst, in dir zu ruhen.“

„Probieren wir’s“, lachte Charlotta nervös und nippte an ihrem Tee. Dann sah sie Marc an. „Bist du auch dabei?“

„Das liegt an dir. Du kannst entweder mit dem Pisap Inua alleine auf die Reise gehen, ich kann aber auch mitkommen.“ Forschend sah er sie an.

Charlotta zögerte nur einen Augenblick. „Ich hab’s jetzt schon eine Weile nicht mehr … Das letzte Mal war ziemlich beängstigend, und da brauchten wir sogar Rob, der die Flöte spielte und mich wieder zurückzog. Ich bin mir nicht sicher … Bis gerade hab ich noch gedacht, ich würde mich sicherer fühlen, wenn wir zu dritt losgingen. Nicht, dass ich dir nicht zutraue auch mit mir alleine auf die Reise zu gehen“, beteuerte sie, an den Schamanen gewandt, „aber ich … aber jetzt hab ich das Gefühl, es ist besser, wenn Marc hierbleibt. Mit den Kräutern und … mit der Flöte …“ Verlegen verzog sie das Gesicht und sah Marc um Entschuldigung heischend an.

„Wichtig ist, dass du dich dabei wohlfühlst“, sagte der alte Schamane. Und auch Marc wirkte nicht so, als sei er beleidigt und fühle sich ausgeschlossen. „Wie sieht’s aus? Deine Tochter ist ganz friedlich und gut versorgt. Du hast deinen Tee ausgetrunken und entschieden, dass ich dich alleine mit auf die Reise nehmen soll, während Marc uns und die Flöte im Auge behält. Bist du bereit?“

Beklommen sah Charlotta ihn an. Dann nickte sie. „Ja, ich glaube schon.“ Um das zu unterstreichen stellte sie ihre Tasse auf dem Tisch ab und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Dann lächelte sie die beiden an. „Ich bin so weit!“ Ein bisschen unheimlich war ihr das Ganze allerdings immer noch. Und weil sie nicht damit aufgewachsen war, würde es ihr wohl auch immer ein wenig unheimlich bleiben.

Der Pisap Inua ging zu seinem Schreibtisch, auf dem bereits die mit den Kräutern gefüllte Schale stand. Obwohl Charlotta sich sicher war, gesehen zu haben, dass er lediglich die Schale genommen und sich direkt auf den Weg zur Sesselgruppe gemacht hatte, begannen die Kräuter plötzlich zu qualmen. Rob hatte ihr erzählt, er selbst habe auch noch nie sehen können, wie und woran der Schamane die Kräuter anzündete. In der Hoffnung, noch vor Rob die große Entdeckung zu machen, hatte sie gut aufgepasst – und es doch nicht erkannt.

Noch einmal atmete Charlotta tief durch, dann schloss sie die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Sie bemühte sich, nicht daran zu denken, weshalb sie hier saß und was für Rob und sie – vor allem aber für Rob – davon abhing. Sie atmete langsam. Immer tiefer und langsamer. Zum Herzen hin. Wie sie es ihr vor der ersten Trance erklärt hatten. Der süßlich-bittere Rauch verteilte sich in ihrer Lunge und schien direkt den Weg ins Gehirn zu finden.


Weiß! Alles war weiß! Und sie war alleine. Nein, der Pisap Inua kam auf sie zu. Es schien, als sei er nicht mit ihr gemeinsam in die Trance geglitten, sondern erst nach ihr. Er kam durch den weißen Nebel auf sie zu, aber er schien keinesfalls beunruhigt, weshalb auch sie fand, dass alles in Ordnung war. Er nahm sie an die Hand, wie Charlotta das schon kannte, und zunächst passierte – nichts.

Plötzlich tauchte aus dem Nichts eine Eule auf. Charlotta schrak zusammen und spürte, dass es dem Mann, der ihre Hand hielt, nicht anders ging. Die Eule landete vor ihren Füßen, schüttelte sich, und vor ihnen stand ein etwa sechs- oder siebenjähriges Mädchen. Charlotta erwartete, Mona zu sehen, doch dieses Mädchen sah sie aus blitzenden hellbraunen Augen an, die braunen Locken standen wirr um ihren Kopf. „Habe ich euch erschreckt?“, lachte das Mädchen trotz seiner Nacktheit ungeniert und schien sich darüber zu freuen.

Juli, zieh dir was an“, hörte Charlotta sich sagen. Sie schwieg verblüfft und sah sich das Kind noch einmal genauer an. Es musste Juli sein. Weshalb war sie schon so groß?

Kommt mit mir mit“, rief das Mädchen, ohne auf die Aufforderung ihrer Mutter einzugehen. Sie schüttelte sich erneut, und schon flog die kleine Eule davon. Obwohl Charlotta geglaubt hatte, ihr niemals folgen zu können, hielten sowohl der alte Schamane als auch sie selbst, gut mit ihr mit.

In der Stadt angekommen, setzte die Eule sich auf ein Brückengeländer. Die Brücke führte über die Autobahn – die Autos und LKW rauschten unter ihnen hindurch. Ein relativ gleichmäßiges Rauschen, gelegentlich unterbrochen von einem Hupen oder dem Aufheulen eines Motorrad-Motors.

Charlotta fuhr herum, als sie hinter sich ein gemeines Lachen hörte. Sie sah Mike, den Jäger, auf sich zukommen. Doch er sah sie gar nicht an. Er lief an ihr vorbei und steuerte direkt auf Juli zu. Die hatte sich wieder zurückgewandelt und trug plötzlich ein gelbes Sommerkleid mit kleinen bunten Blümchen.

Ohne zu zögern lief Mike auf Juli zu, hob sie hoch und hielt sie über das Brückengeländer.

Neiiiiin!“ Charlottas Schrei musste bis Alaska zu hören gewesen sein.

Warum hast du nicht gepustet, Mama?“, fragte Juli traurig. „Ich hätte doch wegfliegen können.“

Mit Entsetzen musste Charlotta mit ansehen, wie Mike mit einem irren Lachen ein Bein über das Brückengeländer schwang, ihr einen triumphierenden Blick zuwarf, sich schließlich zur Seite fallen ließ und mitsamt dem Kind, das er fest umklammert hielt, von der Brücke stürzte.

Das Geräusch kreischender Bremsen und ineinanderkrachender Autos brannte sich in die Gehörgänge Charlottas ein, genauso wie der herzzerreißende Schrei, der aus ihrer eigenen Kehle kam.

Weder Mike noch Juli gaben einen Ton von sich.

Charlotta keuchte und wehrte sich, als der Pisap Inua sie zwang, sich einmal um die eigene Achse zu drehen.

Mama, welche Blumen möchtest du sehen?“

Charlotta traute ihren Augen nicht und starrte auf das Mädchen mit den braunen Locken, das sie anstrahlte. Ein Lächeln, das faszinierte. Dieses Mädchen war etwa zehn Jahre alt, und Charlotta erwiderte vorsichtig das Lächeln des Kindes. „Juli?“

Ja, aber sag schon!“ Ungeduldig. Erst jetzt sah Charlotta, dass sie alle im Schnee standen. Juli trug keine Schuhe.

Ähm Rosen!“

Okay!“ Juli hockte sich hin, hielt ihre Hände mit nach unten gewandten Handflächen über den Schnee. Augenblicklich konnte man sehen, wie dieser wegschmolz und darunter die satte schwarze Erde zum Vorschein kam. Doch noch immer hielt das Mädchen die Hände in derselben Stellung. Auf dem weggetauten Flecken wuchs plötzlich Gras und dann innerhalb weniger Sekunden waren Blätter zu sehen, aus denen sich ein Stängel zu entwickeln schien. Die Pflanze wuchs, und man erkannte einen mit Dornen besetzten Stiel, an dem grüne Blätter wuchsen – an der Spitze eine Knospe, die sich zu öffnen begann. In diesem Augenblick zog Juli ihre Hände zurück, steckte sie in die Hosentaschen und sah ihre Mutter fröhlich lachend an.

Das Ganze hatte keine halbe Minute gedauert. Mit vor Erstaunen offenem Mund näherte Charlotta sich der Rose. Die rote Knospe wirkte fehl am Platz in der weiß verschneiten Landschaft. Andererseits ließ sie einen Hauch von Leben und Frühling erahnen. Einem Impuls folgend hockte Charlotta sich hin und hielt die Nase über die Rose.

Du glaubst doch nicht, dass du das genauso gut riechen kannst wie Papa!“, hörte sie Juli hinter sich kichern.

Sie wusste, das Kind hatte recht. Und doch vernahm sie den zarten Duft, den die Rose verströmte.

Lächelnd erhob sie sich wieder und drehte sich um, doch dort war nur noch der Schamane, der sie erwartungsvoll, aber ernst, ansah. „Kann ich sie aufwachsen sehen?“, fragte Charlotta flehentlich, das Bild vor Augen, wie Mike sich mit ihrer kleinen Tochter von der Brücke stürzte.

Wenn du dich nicht scheust, deine Gaben einzusetzen“, sagte der Pisap Inua und wirkte zu ihrem Schrecken sehr bekümmert.

Kann ich sie damit retten?“ Flehentlich!

Ja, aber du wirst uns damit vernichten“, sagte der alte Schamane, und sein Gesicht wirkte so traurig, wie sie ihn noch nie gesehen hatte.

Noch bevor die entsetzte Charlotta etwas sagen konnte, ergriff er wieder ihre Hand und zog sie mit sich


„Heißt das“, fragte Charlotta erschüttert und nahm nervös einen kleinen Schluck des eigentlich noch viel zu heißen Tees, „dass ich vor die Wahl gestellt werde, entweder meine Tochter zu retten oder euer Geheimnis?“ Sie rieb sich mit dem Zeigefinger über die schmerzenden Lippen. Als sie mit der Zunge gegen die Zähne stieß, spürte sie, dass sie sich diese auch verbrüht hatte.

„So sah es aus“, bestätigte der Pisap Inua.

„Aber das kann doch nicht sein!“ Verzweifelt flogen ihre Augen zwischen dem Schamanen und Marc hin und her. „Es kann doch nicht sein, dass die alten Geister, der Gott in dessen Namen ich getauft wurde, oder-wer-auch-immer mich vor so eine Wahl stellt!“ Sie atmete tief durch, um nicht in Tränen auszubrechen.

„Du weißt hoffentlich noch, dass das, was du in deiner Trance siehst, nur ein Hinweis sein kann. Es muss nicht sein, dass das so passiert, du kannst immer noch eingreifen.“ Ein kaum merkliches Lächeln zog sich über das faltige Gesicht des alten Mannes, doch das beruhigte Charlotta gar nicht.

„Aber was kann ich denn tun?“

„Das wirst du zu gegebener Zeit wissen – oder es wird so geschehen, wie wir es gesehen haben.“

Entsetzt schwieg Charlotta und verfolgte das Bruchstück eines kleinen Kräuterstängels, das in ihrem Teebecher kreiste. Sie sah auf. „Und warum weiß ich noch immer nicht, was die alten Geister sich vielleicht Robs wegen gedacht haben?“, fragte sie traurig.

„Mir scheint“, meldete Marc sich zu Wort, und man hörte aus seiner Stimme sehr deutlich heraus, dass ihm die Freundin seines Bruders leidtat, „dass du dir gerade wünschst, nicht auf die Reise gegangen zu sein.“ Er hatte sich alles erzählen lassen und war im Bilde.

Charlotta schnaubte durch die Nase. „Da hast du aber so was von recht! Bislang habe ich den Reisen, die ich in Trance mit euch unternommen habe, immer etwas Positives abgewinnen können und auch für mich einen Gewinn daraus gezogen. Aber diesmal … So eine verstörende Trance habe ich noch nicht erlebt.“

„Deshalb habe ich dir gesagt, du sollst vorsichtig sein mit dem, um das du die alten Geister bittest. Die haben ihre eigenen Vorstellungen. Oft versteht man den eigentlichen Sinn nicht – zumindest nicht sofort –, und es ist nicht immer nur schön, was man zu sehen bekommt.“ Das Lächeln vertiefte sich, trotz der ernsten Worte. „Du glaubst gar nicht, wie viele Reisen ich unternommen habe, die mehr Entsetzen, Angst und Fragen als Lösungen für mich bereitgehalten haben.“

„Mhm … Aber trotzdem machst du’s immer wieder? Das finde ich echt mutig!“

Der Pisap Inua lachte, und Marc grinste. „Das ist ein großer Teil meiner Aufgabe hier. Ich bin als Schamane unter anderem für Dinge zwischen den Welten zuständig. Wir glauben hier, dass die alten Geister unserer Vorfahren uns führen und leiten. Dass sie die Übersicht haben und wissen, was passieren kann oder wird. Und dennoch geben sie uns die Möglichkeit, uns für oder gegen dieses oder jenes zu entscheiden. Nur – dafür muss ich wissen, was sie mir sagen. Für mich, aber auch für die Bewohner dieses Dorfes. Ich bin das Bindeglied zwischen den alten Geistern und den Menschen, die hier leben und mit diesem Wissen aufgewachsen sind.“

„Sagst du den Leuten denn immer, was du erfährst? Oder sortierst du vorher schon aus, wer das eine oder andere vielleicht gar nicht verkraftet? Vielleicht weißt du ja auch, dass jemand verantwortungslos mit dem umgeht, was du ihm sagen willst, dass er sich in deinen Augen falsch entscheidet und es vielleicht auch noch andere betreffen könnte. Negativ, meine ich!“

„Ich muss! Manchmal sind diejenigen, die Fragen an die alten Geister haben, auch mit dabei und gehen mit mir gemeinsam auf die Reise, so wie du. Aber es ist nicht an mir zu entscheiden, welchen Weg die Menschen mit dem einschlagen, was sie erfahren. Damit würde ich die Ordnung auch wieder durcheinanderbringen. Wenn ich auf einer Reise, um die mich niemand gebeten hat, etwas erfahre, überlege ich es mir durchaus. Denn in der Regel betrifft es in solchen Trancen nicht nur eine einzelne Person. Ich kann dir sagen“, lächelte er, „dass ich auch Robs und deinetwegen schon oft auf einer Reise war und euch da auch durchaus gesehen habe. Und dennoch habe ich meistens nichts dazu gesagt.“

Charlotta zog die Stirn kraus, aber sie wusste, dass er ihr auch jetzt nichts sagen würde. „Aber aufgrund deines Wissens, deiner Erfahrung … ja, auch deiner Lebenserfahrung und vor allem auch, weil du die meisten hier wohl seit ihrer Geburt kennst … ich würde vermuten, dass du das von außen viel besser beurteilen kannst.“

„Und dennoch ist es ihr Leben. Sie müssen sich entscheiden, was sie tun. Sie bekommen, wenn sie wollen, Hilfestellung durch mich und die alten Geister. Aber nur, wenn sie das wollen. Und es wollen nicht alle. Auch dann müssen sie, so wie du jetzt, damit rechnen und leben, dass es vielleicht zunächst mehr nach Verwirrung denn nach Hilfe aussieht.“ Der Pisap Inua nahm die Fragen Charlottas durchaus ernst. So sehr, wie sie ihm in der doch recht kurzen Zeit ans Herz gewachsen war – sie kannte Rob gerade mal etwas mehr als zwei Jahre und war mit den Sitten und Gebräuchen der Dorfbewohner auch noch nicht so vertraut – so sehr schätzte er auch ihre Fragen und die Impulse, die sie gab. Sie war eine kluge Frau, die sehr viel hinterfragte und nicht gerne etwas als gegeben hinnahm. Ihre Fragen zu beantworten bedeutete für ihn, sich selbst auch noch einmal anders mit scheinbaren Selbstverständlichkeiten auseinandersetzen zu müssen – was sogar ihm mit seinen Erfahrungen manchmal einen ganz neuen Blick auf die Dinge ermöglichte. Charlottas beharrliches Bedürfnis alles zu verstehen, was in einer Welt mit den alten Geistern allerdings nicht immer einfach war, war auch für ihn eine Bereicherung. – Allerdings oft auch eine Herausforderung.

„Mhm …“

Marc grinste. „Du wirkst nicht so, als seist du mit der Antwort zufrieden.“

„Was heißt zufrieden? Ich überlege gerade, dass es eine enorme Verantwortung ist, mit dem Wissen, das man in so einer Trance gewinnt, umzugehen. Dann ist es vermutlich manchmal einfacher, man weiß von gar nichts und geht ganz unbedarft auf die Dinge zu. Aber mit dem, was ich jetzt weiß, ist mir klar, dass entweder das Leben meiner Tochter in Gefahr ist, oder ich ein vermutlich jahrtausendealtes Geheimnis verrate, um ihr Leben zu retten.“ Verzweifelt sah sie Marc an.

„Ja, in die Situation könntest du hineinschliddern. Aber jetzt bist du gewarnt und kannst überlegen, wie du das vermeidest.“

„Marc, wie soll ich das verhindern? Was ist das überhaupt für eine Wahl, die ich da habe?“ Charlotta spürte, dass ihre Kehle eng wurde.

„Vielleicht musst du gar nicht wählen, Mädchen. Wie schon häufiger gesagt: Das sind Dinge, die können passieren, es muss aber nicht so sein. So wie du nach unserer Trance damals Angst haben musstest, dass Gordon dich zwingt, ihm zu Willen zu sein, um ein Kind für ihn auszutragen. Aber es war doch letztendlich so, dass es nicht geschehen ist.“

„… weil sich durch Robs plötzliches Auftauchen und seine Unaufmerksamkeit alles umgedreht hat!“, rief sie.

„Das stimmt nur zum Teil“, mischte Marc sich vorsichtig wieder ein, „denn durch Robs Auftauchen ist es Gordon ja erst mal überhaupt gelungen, deiner habhaft zu werden. Vielleicht hätte das ja auch anders verhindert werden können. – Allerdings ist es müßig jetzt darüber zu spekulieren, denn dazu haben die Geister uns heute nichts verraten.“

„Würdest du es wagen, deshalb noch mal mit mir auf eine Reise zu gehen?“, bat Charlotta den Pisap Inua. „Es muss ja nicht sofort schon sein.“

Der alte Mann lachte. „Ob ich es wagen würde? Würdest du es wagen?“

Charlotta biss sich auf die Lippen. „Du hast recht. Es ist nicht so, wie ich gehofft hatte … Weißt du, die ersten Male wusste ich gar nicht, was auf mich zukommt und ich bin mit keiner bestimmten Frage auf die Reise gegangen. Vor allem nicht so konkret wie dieses Mal. Und die Antwort, die ich bekommen habe, hat mit meiner Frage mal so gar nichts zu tun und macht mir außerdem Angst. Von daher … Ich weiß tatsächlich nicht, ob ich es noch mal wagen würde.“ Sie verzog das Gesicht zu einem verlegenen Lächeln.

„Tja“, sagte Marc und sah sie mitleidig an. „Es ist nun mal nicht so, als ob du zu einem Rechtsanwalt gehst oder zu einem Steuerberater, dem du eine Frage stellst und auch zu dieser Frage eine Antwort bekommst. Aber auch da kann es dir passieren, dass dir die Antwort nicht gefällt. Du hast jetzt auch eine Antwort bekommen, die dir nicht gefällt und das auch noch auf eine Frage, die du gar nicht gestellt hast.“

„Mhm …“, machte Charlotta wieder.

„Was ist aus deiner Sicht denn das Positive, das du aus der Reise heute mitnimmst?“, fragte der Pisap Inua sie.

Verwirrt sah Charlotta ihn an.

„Überleg mal, was da sonst noch alles passiert ist“, schmunzelte Marc, der sofort verstand, worauf der alte Schamane hinauswollte. „Was hast du denn noch sehen können?“

„Ähm … Juli … als Eule! Als Eule! Julis Gabe ist die, sich in eine Eule wandeln zu können?!“, rief sie.

„Genauso kann es sein. Aber sie hat noch etwas getan.“

Nachdenklich sah Charlotta den Schamanen an. „Sie hat … sie stand im Schnee und hat die Kälte anscheinend gar nicht gespürt. Sie hatte keine Schuhe an. Und … sie … sie konnte den Schnee schmelzen lassen, und es wuchs eine Rose. Muss ich das jetzt irgendwie im übertragenen Sinne deuten, oder hat Juli nicht nur eine Gabe?“ Ihre überraschten Augen flogen aufgeregt zwischen den beiden Männern hin und her.

„Julis Mutter hat auch nicht nur eine Gabe“, erinnerte der Pisap Inua sie lächelnd. „Zwar hängt bei dir beides mit deinem Atem zusammen, aber du kannst einmal mit ungeheurer Kraft blasen, und einmal kannst du jemanden, der in seiner Tiergestalt gestorben ist, posthum in einen Menschen zurückwandeln.“

„Na ja, das hab ich jetzt einmal gemacht. Ob ich das noch mal …“

„Aber ganz sicher!“

Charlotta war überrascht über die absolute Zuversicht, die aus diesen drei Worten sprach. „Mhm … und Juli …? Wann entdecken die Kinder hier denn erfahrungsgemäß, dass sie eine Gabe haben? Bei mir war’s ja nun ziemlich spät, erst mit einunddreißig, aber ich bin ja auch nicht hier geboren.“

„Das ist unterschiedlich“, übernahm es der Pisap Inua ihr zu antworten und goss für alle drei noch eine weitere Tasse Tee auf. „Die Eulen und Raben können das manchmal schon, bevor sie in die Schule kommen, oder sonst bald danach. Diejenigen, die mit der Gabe der Telekinese gesegnet sind, merken oft auch im frühen Kindesalter schon, dass sie insbesondere in Momenten, in denen sie wütend sind, Gegenstände bewegen und Teller und Tassen durch die Gegend fliegen lassen können. Wenn die Eltern das merken, ist es ganz wichtig ihren Kindern beizubringen, wie sie verantwortungsvoll damit umgehen können. Zurzeit gibt es bei uns nur Erwachsene mit dieser Gabe.

Wenn Juli nun die Gabe haben sollte, tatsächlich Schnee schmelzen zu können und an der Stelle Blumen wachsen zu lassen, wird sie das beim Spielen möglicherweise auch schon früh entdecken. Aber auch das muss nicht genau so passieren.“

„Was mache ich denn, wenn sie sich auf dem Spielplatz mit anderen Kindern streitet und plötzlich beleidigt als Eule nach Hause fliegt? Ich meine, sie wird doch von der Gabe selbst überrascht werden.“ Charlotta sah gerade viele, viele Probleme auf sich zukommen. Das Beste wäre vermutlich, sie würden ins Dorf ziehen. Aber – Rob durfte nicht ins Dorf, und sie wollte wieder anfangen zu arbeiten … und die Wohnung … Mutlos ließ sie den Kopf hängen.

Die beiden Männer tauschten besorgte Blicke. Es war tatsächlich in der Regel Sache der Mütter, mit den Kindern über ihre Gaben zu sprechen, wenn erste Anzeichen darauf hindeuteten, dass diesbezüglich etwas im Anmarsch war. Ob Rob das erkennen würde? Die Männer kümmerten sich eher selten darum. Und Charlotta war zu unerfahren.

Der Pisap Inua wusste, dass Unterstützung gefragt sein würde.


WOLF CALL

Подняться наверх