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6. März

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In den vergangenen sechs Monaten seit ihrer Rückkehr in die Stadt, war Charlotta vier Mal mit Juli im Dorf gewesen. Ihre Tochter war nun genau ein halbes Jahr alt und – selbstverständlich – der ganze Stolz ihrer Eltern.

Für ihren ersten Besuch hatte Charlotta Robs Bruder Martin angerufen, damit er sie den weiten Weg bis dorthin brächte. Die nächste Chance ergab sich, als Robs Kumpel Kris unverhofft zu Besuch kam und sie sich für einen Tag in der darauffolgenden Woche verabredeten. Ein weiteres Mal hatte sie sich mit Peter abgesprochen, der immer noch das Gefühl hatte, Charlotta etwas zu schulden, weil sie bei seiner Operation geholfen und seine Schusswunden behandelt und versorgt hatte. Obschon sie es jetzt seit so vielen Monaten wusste, war es für sie noch immer ein seltsames Gefühl, Peter Coler anzusehen und zu wissen, dass er ein Werwolf war – und ihr ehemaliger Mathelehrer.

Und schließlich hatte Enno die junge Familie, bepackt mit allerlei Geschenken, besucht und beim Abschied versprochen, zwei Tage später Charlotta mit ihrer Tochter ins Dorf zu bringen. Robs Gefühle, aufgrund der nun bald schon zwei Jahre zurückliegenden Ereignisse, waren bei dem Arzt noch immer sehr zwiegespalten, er konnte aber nichts sagen, ohne Charlotta gegen sich aufzubringen. Er probierte es noch mit Argumenten wie ‚es ist zu kalt für dich und so ein kleines Kind im März’, die Charlotta aber mit dem unwiderlegbaren Hinweis abschmetterte, dass es bei ihrem Besuch im Dezember nicht wärmer gewesen sei.

Rob musste klein beigeben. Nein, er glaubte nicht wirklich, dass Enno seiner Freundin noch einmal gegen ihren Willen und mit Gewalt zu nahe kommen würde. – Und trotzdem …

Dass er an der Situation, für insgesamt vier Jahre verbannt zu sein und nicht ins Dorf laufen zu dürfen, selber schuld war, machte es für Rob nicht leichter. Und bei dem Gedanken daran, dass Charlotta und Juli von seinen Brüdern, dem Freund und auch Enno auf den Armen getragen wurden, ging es ihm ganz sicher nicht besser.


Bei ihrer Ankunft im Dorf wurde Charlotta jedes Mal begrüßt, wie vermutlich jeder andere Besucher oder jedes andere Familienmitglied auch. Sie war glücklich, dass sie sich dort von der ersten Minute an willkommen und angenommen gefühlt hatte. Beim ersten Mal nach Robs Verbannung, im Herbst, hatte sie noch Ausschau nach Anna gehalten, der sie trotz allem ungern begegnen wollte. Doch Helen, die mit Annas Mutter befreundet war, wusste, dass Anna ihre Arbeit in der Klinik in Hessen, in die sie wiederum ein Jahr verbannt gewesen war, weiterführen wollte. Sie hatte dort für sich ihre Berufung gefunden – und einen jungen Kollegen, den sie gerne mochte. Es gab also keinen Grund mehr für Anna, eifersüchtig zu sein. Perfekt, fand Charlotta!

Ihr erster Gang war grundsätzlich der zum Pisap Inua, dem Mann mit den besonderen Kräften. Der Schamane zeigte ihr auch jedes Mal unverhohlen, wie sehr er sich freute. Ein bisschen hatte sie den Verdacht, nur deshalb überall so begeistert begrüßt zu werden, weil Juli mit dabei war. Denn in schöner Regelmäßigkeit stürzten sich alle gleich ganz begeistert auf ihr Kind. Aber selbst wenn es so gewesen wäre – es erfüllte sie mit Stolz.

Nach dem ersten Tee und einem groben Überblick über die Neuigkeiten auf beiden Seiten, bat der Pisap Inua sie bei jedem Besuch, sich auf die breite Pritsche unterm Fenster zu legen, damit er sich noch mal ihren Rücken anschauen und gegebenenfalls Verspannungen lösen konnte.

Auch ihren Bauch tastete er ab. Sie habe einen Schnitt durch die Bauchdecke, aber auch durch die Gebärmutter bekommen, das könne zu Verwachsungen führen und damit auch zu Verspannungen. Das sei etwas, das die Gynäkologen bei Kaiserschnittgeburten regelmäßig vergäßen, den Müttern zu sagen, bemerkte der alte erfahrene Schamane. Ja, die Untersuchung war beim ersten Mal auch etwas schmerzhaft gewesen, aber die darauffolgenden waren in Ordnung. Allerdings benutzte sie auch die Heilsalbe, die Marc, der Nachfolger des Pisap Inua und Bruder von Rob, ihr immer wieder mitgab, regelmäßig.

Danach war ihr nächster Gang zu Robs jüngster Schwester Nelly und deren Mann Ben, wobei Letzterer gerne und immer wieder auf seine Opferbereitschaft und Leidensfähigkeit ihr zuliebe hinwies, derentwegen er nun verheiratet sei – und das nur, um Rob, trotz seiner Verbannung, zwei Wochen Aufenthalt im Dorf zu ermöglichen. Allerdings saß er bei diesem Besuch im März mit stolzgeschwellter Brust neben seiner Frau, als diese Charlotta freudestrahlend verkündete, seit ein paar Tagen zu wissen, dass sie wieder schwanger sei.

„Oh wie schön! Was sagt Mona denn dazu?“ Es war Nellys zweites Kind und sie war auch immer noch jünger als Charlotta, als diese Juli zur Welt gebracht hatte. Es dürfte also wohl keine Komplikationen geben.

„Die freut sich schon auf ein Geschwisterchen und wünscht sich eine Schwester“, lachte Nelly.

„Na, ihr müsst zumindest nicht besonders darauf achten, dass ihr um den Entbindungstermin herum im Dorf seid. Das war bei mir ja anders.“

Ben hatte nach dem Schulabschluss in der Stadt eine Tischlerlehre gemacht und ein paar Jahre später die Dorftischlerei seines Vaters übernommen. Noch an dem Abend, an dem der Pisap Inua Nelly bestätigt hatte, dass sie schwanger sei, war er in seiner Werkstatt verschwunden und suchte passendes Holz für eine Kinderkrippe heraus, um etwas zu konstruieren. Er wollte etwas bauen das sich auch schaukeln ließ und … Nelly lächelte nachsichtig und wirkte unsagbar glücklich.

Vielleicht waren die beiden auch füreinander bestimmt, überlegte Charlotta. Nur hatte sich niemand die Mühe gemacht, die alten Geister ihrer Ahnen danach zu befragen. Oder – als sie sie befragt hatten, war die Zeit noch nicht reif gewesen.

Enno, der noch am selben Abend wieder in der Stadt sein wollte, brachte Charlotta und Juli dann auch wieder nach Hause. Er blieb noch auf eine Tasse Tee und rückte schließlich mit einem Anliegen heraus. „Ich habe hier in Breidewald eine Eigentumswohnung. Ich hab sie geerbt, ich kann also nichts dafür. Die jetzigen Mieter ziehen aus, was vom Grundsatz her erst mal nicht so dramatisch ist, ich wollte sie nämlich längst einmal komplett renovieren. Die Wohnung liegt von hier aus gesehen fast am anderen Ende der Stadt. Aber wenn ihr bereit wärt, noch mal umzuziehen, würde ich sie euch gerne vermieten. Ich tu’s nicht für euch“, begegnete er Robs Protest und hob die Stimme, „ich tu’s für Juli. Ihr müsst euch auch noch nicht jetzt entscheiden, der Mieter zieht erst im April oder Mai aus, dann dauert es mit der Renovierung bestimmt noch mal sechs oder acht Wochen. Und erst dann könntet ihr rein. Also … ich schätze mal … vielleicht kurz vor Julis erstem Geburtstag.“

„Ähm … was ist das denn für eine Wohnung?“, fragte Charlotta völlig überrumpelt.

„Gut einhundert Quadratmeter. Die haben da jetzt mit zwei Kindern gewohnt, bekommen aber nun ein drittes, und dann gibt’s nicht genug Zimmer. Das wären eine einigermaßen große Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und noch zwei weitere Zimmer. Das Bad mache ich jetzt neu, da ist erheblicher Renovierungsbedarf. Küchenmöbel sind drin, die Küche ist angepasst. Die Wohnung liegt in einem recht ruhigen Wohnviertel hinter den weiterführenden Schulen. Es ist nicht weit zum Wald, zum See müsstet ihr allerdings künftig ein Stückchen weiter laufen.“

Prüfend sah Enno die beiden an. Charlotta wirkte nachdenklich, Rob hingegen eher ablehnend. Nachvollziehbar, wenn man bedachte, wie Enno mit seiner Freundin Bekanntschaft geschlossen hatte. Er konnte es dem Jüngeren nicht verdenken.

„Mhm“, begann Charlotta mit einem Seitenblick auf Rob, der mit zusammengepressten Lippen neben ihr saß. „Ich denke, wir müssten da noch ein paar mehr Informationen haben und uns die Wohnung natürlich auch mal angucken. Wenn die Wohnung größer ist, wird sie auch teurer sein …“

„Darüber können wir reden und …“

„Nein, Enno, wir möchten keine Almosen. Natürlich gibt es unterschiedlich teure und günstige Wohnungen und wenn du einen günstigeren Quadratmeterpreis verlangst, ist das eine Sache aber …“

„Ich werde sehr wohl einen realistischen Mietpreis nehmen, aber das meinte ich mit ‚wir können darüber reden’. Ich hab schon so ’ne gewisse Vorstellung, und wenn ihr mir euren jetzigen Mietpreis nennt, kann ich schon mal sagen, ob es mehr oder weniger sein wird. – Rob“, wandte er sich an denjenigen, den es insbesondere und in erster Linie zu überzeugen galt, „ich weiß, dass du zu Hause arbeitest. Ich sehe den Computer da stehen und vermute einfach mal, dass du daran schreibst und recherchierst. In meiner Wohnung hättet ihr dann ein Kinderzimmer und ein Büro für dich. Wenn spätestens in zwei Jahren mal Kindergartenfreunde kommen und hier über Tische und Bänke toben, könntest du dich dahin zurückziehen, hast Platz für deine Fotoausrüstung … und was du sonst noch so alles brauchst. Da ich hoffe, ihr befolgt meinen Rat und wollt nicht noch ein zweites Kind haben, dürfte das für viele Jahre ausreichen. Dann würde das auch auf Dauer kein Platzproblem geben.

Überlegt es euch einfach. Ich gebe euch schon mal die Adresse, damit ihr euch das Haus und die Gegend angucken könnt. Ach ja – die Wohnung liegt im Erdgeschoss, ihr hättet also auch noch einen kleinen Garten, in dem Juli spielen kann.“ Enno erhob sich. „So, jetzt fahre ich nach Hause. – Mhm, eure Parkplatzsituation ist hier ja katastrophal! Ich hab ewig gesucht. Ich muss allerdings gestehen, ich weiß nicht, wie das um meine Wohnung herum aussieht. Ihr hättet aber zumindest einen festen Parkplatz in der Tiefgarage direkt unterm Haus, da müsste nur euer Besuch dann mal länger suchen“, schoss er, nach der Bemerkung mit dem Garten, seinen allerletzten Überzeugungspfeil ab.

Enno beugte sich über Juli, die ihn aufmerksam ansah. „Mach’s gut, du Süße“, sagte er und gab dem Kind, das er unter so widrigen Umständen zur Welt gebracht hatte, einen Nasenstüber.


Als Enno fort war, herrschte erst einmal langes Schweigen. Schließlich sah Charlotta Rob prüfend an. Wenn er absolut nicht wollte, brauchten sie sich Ennos Wohnung gar nicht erst anzusehen. „Na ja.“ Er zuckte mit den Achseln. „Wir können ja mal gucken.“ Begeisterung sah allerdings anders aus, fand Charlotta, war aber schon froh, dass er das nicht kategorisch ablehnte. Für sie hörte es sich nämlich geradezu perfekt an. Vielleicht schon fast zu perfekt.


In den Monaten, in denen Charlotta während ihrer Schwangerschaft ohne ihn im Dorf gelebt hatte, hatte er – um nicht wahnsinnig zu werden – sehr viel gearbeitet. Er hatte Reportagen auf Honorarbasis für andere Zeitschriften verfasst und war auch zum Fotografieren viel unterwegs gewesen. Einiges hatte er schon ohne Auftrag vorgearbeitet und hoffte nun, dass er das irgendwo anbieten konnte. Bei seinem Arbeitgeber, dem Verlag, der die Zeitschrift Natur und Lebensräume herausgab, hatte er, nachdem er vorher einige Monate mehr Zeit in den Beziehungsaufbau zu Charlotta gesteckt hatte als in den Job, viel nacharbeiten müssen und können. Deshalb hatte er im Moment zwar nicht unbedingt so viel mehr Geld als sonst, aber doch etwas Luft nach hinten, was das Arbeitspensum betraf. Abgesehen davon hatte er ja auch nur eine halbe Stelle dort, was allerdings bedeutete, dass er auch anderen Interessenten seine Berichte und Fotos aktiv anbieten musste. Und das war immer eine unsichere Sache, abgesehen davon, dass Akquise auch nicht gerade Robs Lieblingsbeschäftigung war.

Charlotta hatte im Krankenhaus gefragt, ob sie vielleicht als Teilzeitkraft aushelfen könnte. Da konnte ihr der neue Personalchef aber keine großen Hoffnungen machen und ließ auch recht deutlich durchblicken, dass die Mütter kleiner Kinder häufig nicht so zuverlässig seien und sich gerne mal kurzfristig abmeldeten. Sie könne gerne wieder auf ihn zukommen, wenn ihr Kind älter sei. Die freiberufliche Tätigkeit des Kindesvaters war für ihn jetzt nicht so das überzeugend schlagende Argument, um seine Meinung vielleicht zu ändern.

Und so merkten sie an allen Ecken und Enden, dass das Geld knapp war. Sie kamen über die Runden, aber es waren keine zusätzlichen Ausgaben machbar.

Und als Rob schließlich trotz strömenden kalten Märzregens angenervt die Wohnung verließ, weil Charlotta mit Juli im Wohnzimmer saß und seine Tochter sich entschlossen hatte, ihre schlechte Laune lautstark jedem im Umkreis von drei Meilen mitzuteilen, war der Zeitpunkt gekommen, an dem Charlotta Rob bei seiner Rückkehr bat, doch mal in den nächsten Tagen mit ihr in das Stadtviertel zu fahren, in dem Ennos Wohnung lag. „Falls die höchstens so teuer ist wie unsere und dann auch noch ein zusätzliches Zimmer hat …“


WOLF CALL

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