Читать книгу WOLF CALL - Jara Thomas - Страница 17

19. September

Оглавление

Am darauffolgenden Morgen ging es Tim schon wieder besser. Nachdem er den vergangenen Tag vor allem verschlafen hatte und auch die Nacht ruhig geblieben war, richtete er sich vorsichtig auf, als Rob in sein Büro kam. „Es tut mir alles so leid“, begrüßte er seinen Gastgeber zerknirscht.

„Dafür, dass du geglaubt hast, nicht in unser Wohnzimmer zu gehören …“ Rob lachte über das betretene Gesicht seines Patienten. „Nein, alles ist gut. Wie geht’s dir heute?“

Tim zog vorsichtig und verlegen die unverletzte Schulter hoch. „Nachdem deine Frau gestern so nett war, mir ’ne Flasche zu bringen … na ja, ich würde gerne mal gucken, ob ich nicht doch irgendwie ins Bad komme. Magst du mir bitte noch mal helfen? Danach kann ich dir vermutlich besser sagen, wie’s mir geht.“

Rob grinste und half dem Verletzten aus dem Bett.

„Oh, Mann, ich kann mich nicht erinnern, wann mir das letzte Mal jemand aufs Klo helfen musste.“ Es war mehr als deutlich, dass Tim das Ganze höllisch unangenehm war.

Wieder grinste Rob. „Meine Nichte hat immer irgendwann gerufen, sie sei ‚fääääärtich’. Bei dir reicht es, wenn du einfach leise meinen Namen rufst. Wie du jetzt weißt, höre ich sehr gut. Versuch bitte nicht, alleine wieder rüberzugehen. Wenn du jetzt stürzt …“

„Ich weiß“, unterbrach der verletzte Werwolf ihn frustriert.


Tim hatte Rob um einen Waschlappen und ein Handtuch gebeten. Er wollte unbedingt die schlimmsten Spuren des Kampfes abwaschen, merkte aber sehr bald, wie ihn das erschöpfte. Dankbar ließ er sich von Rob ins Bett helfen.

Rob zog die Tür seines Büros hinter sich zu, als es klingelte. Alarmiert sahen er und Charlotta sich an. Tim zu sagen, er möge leise sein, war überflüssig – er hatte ihren Gast entsetzt tief Luft holen hören. Alle hatten denselben Gedanken.

Charlotta begab sich zu Juli ins Kinderzimmer, Rob ging zur Tür. Sie hörte zwei Männerstimmen … die Robs und eine … dann lächelte sie. „Auf Bestellung“, murmelte sie und verspürte eine so unglaubliche Erleichterung, dass es sie selbst überraschte. Fröhlich hob sie Juli aus dem Bett.

„Marc!“

Der Gehilfe des Schamanen grinste und freute sich, Charlotta und seine Nichte gleichzeitig umarmen zu können.

„Es ist sooo gut, dass du kommst. Es gibt immer mehr Probleme“, sagte sie und wies auf den Esszimmertisch. „Hast du schon gegessen? Wir wollten gerade frühstücken.“

„Eigentlich ja, aber wie du weißt, hat ein Wolf immer Hunger.“

„Wir haben übrigens Besuch“, mischte Rob sich ein. Er wollte verhindern, dass Marc vielleicht Dinge sagte, die er mit dem Wissen, dass Tim zuhörte, möglicherweise nicht gesagt hätte. Mit wenigen Worten brachte er seinen Bruder auf den aktuellen Stand.

Mit einer Mischung aus Resignation und Fatalismus schnaubte Marc durch die Nase. „Passiert hier in der Stadt eigentlich nichts mehr, ohne direkte oder indirekte Beteiligung eurerseits?“

„Wieso!“ Charlotta sah ihn befremdet an.

„In der Stadt herrscht große Aufregung. Ihr habt’s vermutlich noch nicht mitbekommen.“ Marc stockte. „Vielleicht sollte er mithören“, und wies mit dem Kopf in die Richtung von Robs Büro.

„Tut er bestimmt sowieso“, grinste Rob. „Aber lass uns lieber rübergehen.“

„Ich kann es nicht vermeiden, dass ich was mitbekomme, wenn ihr euch unterhaltet“, sagte Tim mit einer Mischung aus Trotz und Scham. Er stemmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Ellenbogen.

„Oh Mann, wie sehr ich das hasse!“, platzte Charlotta heraus. Die Brüder lachten, und auch Tim grinste. Zurückhaltend begrüßte er Marc, und die Blicke, die zwischen ihm und Rob hin- und hergingen, verrieten, dass er sofort erkannt hatte, einen Bruder Robs vor sich zu haben. Allerdings schien er sich nicht sicher zu sein, ob dieser Bruder auch so nett zu ihm sein würde.

„Also, was ist los in der Stadt?“, wollte Rob wissen.

„Als ich gerade ankam, war überall die Polizei unterwegs. Die ganze Stadt ist in heller Aufregung, jeder glaubt etwas zu wissen oder gehört zu haben. Hinterm Einkaufszentrum hat man Blut gefunden. Viel Blut. Außerdem die Spuren von riesigen Wölfen, Fellbüschel, zerfetzte Kleidung … Man sucht gerade intensiv nach der Leiche mindestens eines armen Menschen, den die Bestien zerfleischt – oder wenn es keine Leichen gibt, vielleicht sogar verspeist haben.“

Mit einem Aufstöhnen ließ Tim sich wieder in die Kissen sinken und schloss verzweifelt die Augen.

„Als ich hörte“, sprach Marc weiter, „dass Wölfe beteiligt gewesen sein sollen, hab ich noch einen kleinen Umweg gemacht. Am Einkaufszentrum ist alles weiträumig abgesperrt. Aber eine meiner hassenswerten Eigenschaften“, grinste er in Charlottas Richtung, „ist, dass ich auch auf größere Entfernung höre, was sich Polizei, Spurensicherung und-wer-auch-immer zu sagen haben.“

Charlotta streckte ihm die Zunge heraus, wartete aber atemlos, dass er weitersprach.

„Riesige Wölfe … Man erinnert sich an die Zeit vor etwas mehr als zwei Jahren, als schon einmal alle Leute riesige Wölfe gesehen haben wollten. Damals waren einige Jäger ausgezogen, die Wölfe zu jagen. Es wurde dann etwa ein Jahr später das erste Mal wieder irgendwo in Stadtnähe ein ungewöhnlich großer Wolf gesehen, aber das war noch nicht wieder so, dass man die Jägerschaft alarmiert hätte. Ihr erinnert euch vielleicht, wie wir uns Ende letzten Jahres ein paarmal darüber unterhalten haben. Aber die Jäger zögern, wieder loszuziehen, in der Erinnerung an das, was vor zwei Jahren passiert ist. Denn damals sind mehrere Jäger entweder nicht zurückgekehrt oder standen total unter Schock, beziehungsweise sind total abgedreht.“

„Mike“, murmelte Charlotta.

„Einer“, sagte Marc und sah jetzt Rob bedeutungsvoll an, „sei bis vor Kurzem sogar noch in der Psychiatrie gewesen …“

„Au Scheiße! Jetzt nicht mehr?“ Charlotta und Rob wechselten entsetzte Blicke, und unwillkürlich wandte Charlotta sich zu ihrer Tochter um.

Die stand vor Tim und hielt sich an der Bettkante fest. Dann hob sie eine Hand und legte sie dem fremden Mann auf die Wange. Der schloss die Augen. Plötzlich wirkte sein Gesicht so entspannt, wie sie es die ganze Zeit noch nicht gesehen hatten. Eine Weile bewegte sich niemand, und es fiel auch kein Wort – bis Juli ihre Hand von Tims Wange nahm und sich, ohne die Blicke der anderen zu beachten, auf den Weg in die Küche machte. Sie hatte offensichtlich beschlossen, es sei nun endlich Zeit fürs Frühstück.

Verblüfft sahen alle hinter dem Kind her. „Na dann“, grinste Rob und schickte sich an, seiner Tochter zu folgen. Doch im gleichen Augenblick spürte er, wie Charlotta seinen Arm festhielt und mit dem Kinn auf Tim deutete. Die Brüder wandten sich gleichzeitig zu dem Patienten um und sahen sich dann überrascht an. Der Mann in ihrem Gästebett hatte weiterhin die Augen geschlossen, doch liefen ihm Tränen aus den Augenwinkeln und rannen in seine Ohren und aufs Kissen.

„Ist bei dir alles in Ordnung, Tim?“, fragte Charlotta leise. Sie hockte sich vors Bett und umfasste mit beiden Händen seine Hand.

„Ich weiß nicht, wie dieses Kind das macht“, flüsterte er, „aber …“ Er sprach nicht weiter und drehte den Kopf zur Wand.

Die anderen drei sahen sich irritiert an. Rob zeigte erst auf Marc, dann auf Tim, ohne seine Augen von denen seines Bruders zu lösen.

Marc verstand und nickte. „Tim“, sagte er geschäftsmäßig, „ich bin bei uns im Dorf derzeit der Gehilfe des Schamanen und der zukünftige Pisap Inua.“

Der so Angesprochene riss die Augen auf. Zu Charlottas Überraschung zeigte sich Furcht in seinem Blick. Etwas, das die Brüder hingegen nicht sonderlich zu verblüffen schien. Dennoch tat Marc so, als habe er es nicht bemerkt. „Rob sagte mir gerade, dass Lotta dich schon untersucht hat. Ich würde es mit meinen Möglichkeiten und Fähigkeiten auch gerne noch mal versuchen, wenn du einverstanden bist. Innere Blutungen und-so-weiter kann ich besser erspüren als sie.“

Tim stieß die angehaltene Luft aus. Dann nickte er kaum merklich, anscheinend unfähig etwas zu sagen.

Wenngleich Charlotta Marc gerne bei seiner Arbeit beobachtet hätte, zog Rob sie sanft aus dem Zimmer. „Warum hat er Angst vor Marc?“, fragte sie leise.

„Er hat uns erzählt, was er getan hat. Er ist unter anderem verantwortlich dafür, dass sein komplettes Dorf ausgelöscht wurde – und andere auch. Nicht alle Schamanen sind vermutlich so gütig und ehrlich wie unser Pisap Inua. Mit ihrem Wissen und ihrer Macht haben sie alle Möglichkeiten, andere Menschen vielleicht zu manipulieren und dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie, hätte man sie gefragt, niemals getan hätten. Oder Dinge über sich und andere preiszugeben, die sie sonst nicht mal unter Folter verraten hätten. Oder … Lotta, du weißt selber, wie viel Macht so ein Pisap Inua hat. Er heißt nicht umsonst Pisap Inua, also jemand, der mit besonderen Kräften ausgestattet ist. Nur weil unser Pisap Inua noch lebt, kann Marc trotzdem schon dessen Fähigkeiten haben und ist genauso … genauso gefährlich.“

„Gefährlich? Marc?“ Charlotta zog spöttisch eine Augenbraue hoch.

„Wir kennen Marc. Tim kennt ihn nicht. Aber er hat anscheinend auch schon andere Schamanen kennengelernt, denn uns ist allen dreien aufgefallen, dass er Angst hat.“

„Mhm … Und was hat Juli da eben …?“

„Ich hab keine Ahnung. Und ich muss gestehen, unsere Tochter ist mir gerade ein bisschen unheimlich.“

Charlotta lachte laut auf. „Das sagt der, der mit dem Wissen geboren und aufgewachsen ist, dass es Gaben und Fähigkeiten gibt, die das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen auf dieser Welt um ein Vielfaches übersteigen.“

Rob grinste schief. Dann wurde er wieder ernst. „Ich wüsste gerne, was unser Pisap Inua davon hält.“


„Lotta, was hast du mit ihm gemacht?“

Verblüfft wandte sie sich zu Marc um, während Rob seine Tochter davor zu bewahren versuchte, mitsamt dem Stuhl, auf den sie geklettert war, umzufallen. Juli schrie empört, weil sie gerade auf dem Weg zu den leckeren Sachen auf dem Tisch gewesen war. Wieso waren Väter solche niederträchtigen Spielverderber?

„Iiiich? Was soll ich mit ihm gemacht haben? Ich hab ihn untersucht und ihn nicht mehr berührt, als unbedingt notwendig. Dabei kann ich nicht noch mehr kaputt gemacht haben als …“

„Nicht kaputt“, unterbrach Marc sie und sah so ernst aus, dass Rob und Charlotta ihn überrascht ansahen. „Eine frisch geschlossene Bauchwunde ist ein Ding der Unmöglichkeit, wenn das wirklich erst vorgestern passiert ist. Aber auch die anderen Wunden …“

„Was ist damit?“

„Ja, das frage ich dich! Man sieht kaum noch etwas!“

Charlotta und Rob wandten ihre Köpfe gleichzeitig in Julis Richtung. Die merkte, dass sie im Mittelpunkt stand und unterbrach das Weinen kurzfristig. Da aber noch immer niemand auf die Idee kam, ihr was zu geben, das schmeckte und den Bauch füllte, strampelte sie zornig, bis Rob sie wieder absetzte, ihr hastig eine Scheibe Brot mit ihrer Lieblingswurst belegte und sie ihr in die Hand drückte.

„Was?“

„Marc, es ist Juli“, sagte Charlotta.

„Was ist Juli?“

Rob übernahm es zu antworten. „Wir wissen es selbst noch nicht, und es ist uns auch das erste und bislang einzige Mal in Verbindung mit Tim aufgefallen. Als wir ihn das erste Mal gemeinsam vor zwei Tagen getroffen haben, hat sie ihm, zum Abschied sozusagen, eine Hand auf die Wange gelegt. Das schien ihn ziemlich beeindruckt zu haben. Zumindest haben wir uns ein bisschen über seine Reaktion gewundert. Und als er jetzt so schwer verletzt hier ankam, hat Juli in einem unbeobachteten Augenblick eine Hand auf die Bauchwunde gelegt. Wir konnten quasi zusehen, wie sich die Wunde schloss. Wir sind fast gestorben vor Angst, denn da lag er noch als Wolf in unserer Badewanne, und sie klettert mal eben locker zu ihm rein! Vorhin hat sie, wie du selbst beobachten konntest, noch mal ihre Hand auf seine Wange gelegt. Lotta hat kurz zuvor die ganzen Verletzungen aufgezählt. Wenn du jetzt meinst, die anderen Wunden sind auch besser … Marc ich …“

„Was?!“ Diesmal war es Charlotta, die sich den Blicken der Brüder ausgesetzt sah und plötzlich das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen.

Marc grinste. „Der Pisap Inua hatte ja schon gesehen, dass du eine starke Gabe haben würdest. Auch wenn wir nicht sehen konnten, was es ist, aber wir wussten, es ist etwas Ungewöhnliches. Es würde mich ungeheuer interessieren, über welche Gen-Linie deine Gabe gekommen ist. Denn dann könnte ich vielleicht auch nachvollziehen, was du an Genen weitergibst. Ich glaube, es würde Sinn machen, wenn der Pisap Inua mit Juli …“

„Auf gar keinen Fall!“ Zornig sah Charlotta Marc an. „Ihr werdet auf gar keinen Fall so ein kleines Kind in Trance versetzen und …“

„Lotta!“ Beruhigend legte Rob seine Hand auf ihre Schulter. Das hatte jedoch nicht den gewünschten Effekt. Sie schüttelte ungeduldig seine Hand ab, als er weitersprach: „Das ist bei uns absolut üblich. Auch wenn die Kinder noch nicht richtig reden können, zeigen sie dem Pisap Inua in der Trance vieles unglaublich deutlich.“

„Nicht nur ‚obwohl sie nicht reden können’, sondern vermutlich gerade weil sie noch nicht richtig reden können. Sie können nicht reden, Lotta. Sie können alles, was sie wollen, nur über Mimik, Gestik, Emotionen und ihr Handeln deutlich machen. In der Trance zeigen sie das, was sie erleben und empfinden. Sie können sich noch nicht verstellen, es gibt nichts Ehrlicheres als kleine Kinder.“ Marc sah sie eindringlich an. Dann wandte er sich wieder zu seinem Bruder um. „Es ist gerade jetzt wirklich ganz furchtbar, dass du nicht ins Dorf kannst.“

„Aber …“ Charlotta brach ab. Es hörte ihr im Augenblick ohnehin niemand zu. Ihr stellten sich alle Haare zu Berge, wenn sie daran dachte, dass dieses kleine süße Kind in einer Trance-Reise vielleicht genauso entsetzliche Dinge sehen würde, wie es ihr passiert war. Niemals! Nicht solange sie lebte!

Rob seufzte. „Na, dann lasst uns was essen. Was ist mit Tim? Ist er nach deiner Einschätzung so fit, dass er mit dazukommen kann? Hunger wird er haben, schätze ich.“ Marc nickte, und Rob setzte grinsend und mit betont lauterer Stimme hinzu. „Oder spielt er nur den Leidenden, um bedient und gefüttert zu werden?“

Während er sprach, war Rob zu seinem Büro gegangen und hatte die Tür aufgestoßen. Er grinste den fremden Werwolf an, der dort im Gästebett lag. Der grinste zurück. „Ich glaube, ich probiere es erst mal alleine ins Bad“, sagte Tim. „Und wenn das klappt …“ Er verstummte verlegen.

„… dann kommst du rüber ins Esszimmer. Wir stellen noch einen Teller und eine Tasse dazu.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Rob sich wieder um. Doch seine feinen Ohren vernahmen Geräusche, die verrieten, dass Tim sich aus dem Bett quälte. Er schien noch immer Schmerzen zu haben, denn selbst Charlotta hörte, dass er mehrfach die Luft zischend zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch einzog.

Gerade noch rechtzeitig fiel Rob ein, dass es nicht schlecht wäre, wenn Tim zumindest einen Bademantel hätte. In Robs Wäsche würde er nicht passen, dafür war seine Statur eine ganz andere. Wenngleich die beiden sich in der Größe nicht besonders unterschieden – Rob wirkte sehniger und drahtiger, eben schlanker als der fremde Werwolf.


„Was genau ist passiert, Tim?“ Es war Marc, der das Thema darauf brachte. „Wir haben ja gerade nur das Ergebnis bewundern dürfen.“

Erleichtert zu sehen, wie Charlotta noch ein zweites Brot anschnitt und er sich nicht zurückzuhalten brauchte, atmete Tim tief durch und erzählte ihnen alles. „Sie wollen alles anders und besser machen als Gordon. Keiner von ihnen hat auch nur die Spur einer Ahnung, was und vor allem wie sie es machen wollen. Aber anders soll es sein. Nur – sie sind keine feste Gruppe. Das geht noch weniger gut als unter Gordon!“

„Was hat sie daran gehindert, die Chance, die wir ihnen gegeben haben, zu ergreifen?“, fragte Rob interessiert.

„Was waren das denn für Leute, die zu Gordon gekommen sind? Zum einen ein paar frustrierte und in ihrer Ehre gekränkte junge Männer, wie ich. Aber eben auch viele, die damit rechnen mussten, in der Stadt vor ein klassisches Gericht gestellt zu werden. Viele aus den überfallenen und eliminierten Dörfern wissen nicht wohin. Sie haben keine andere Lebensalternative. Und wir waren ja außerdem fast alles ziemlich junge Männer, bis zu den Haarspitzen voller Testosteron … Auch wenn man es im Augenblick kaum glauben mag, sind die meisten in einem Dorf aufgewachsen, in dem den Kindern entsprechende Werte vermittelt wurden. Also vor allem, wenn es darum ging, verantwortungsvoll und nie zum Schaden anderer mit ihrer Gabe umgehen, außerdem um nahezu jeden Preis das Geheimnis zu wahren und nichts zu riskieren, nur um sich zu profilieren.

Trotzdem gab es noch zu viele in Gordons Truppe, denen es wichtiger war, zu zeigen, was sie alles draufhaben. Und das sind immer noch diejenigen, die als echte Männer mit dicken Eiern in der Hose …“ Tim brach ab und sah Charlotta erschrocken an. „Sorry, aber ich glaube, ich bin zu lange nur unter Wölfen gewesen.“

„Och, die Ausdrucksweise war mir jetzt nicht so geläufig, aber das Bild, das du zeichnest, ist schon recht deutlich.“ Charlotta zog ironisch eine Augenbraue hoch. „Sprich weiter und übe dich nicht in Zurückhaltung“, grinste sie.

„Ähm … ja … Na ja, außer diesen echten Kerlen“, seine Stimme klang verächtlich, „waren dann auch noch diejenigen dabei, die Gordon gezwungen hat zu bleiben. Oder er hätte sie getötet. Das machte er eigenhändig, übrigens!“ Tim schien für einen Augenblick die Zähne zu blecken. Als Wolf hätten sich ihm vermutlich die Nackenhaare hochgestellt. Oder er hätte geknurrt.

„Weil ich euch das gestern in der Stadt und im Stadtpark schon ansatzweise so erzählt habe, hab ich natürlich ganz viel verraten. Vor allem auch, als ich auf deine Frage, was Gordon gefürchtet haben könnte, geantwortet habe. Gordon lebt zwar nicht mehr – sein Geist ist noch immer nicht tot. Der hängt nach wie vor wie ein schwarzer Schatten über uns allen. Es ist unglaublich!

Ich bin gestern noch lange durch die Stadt gelaufen. Als ich gegen Abend zum Haus meiner Tante kam, warteten sie schon auf mich. Mit denen, die mich schon den Tag über verfolgt hatten, waren es insgesamt sechs Wölfe. Sie griffen an, überwältigten mich und warfen mich in einen Bulli, den sie sich vorher besorgt hatten. Ich bin kräftig, ja, aber die anderen auch, und sie waren in der Überzahl. Anschließend sind sie dann mit mir zum Einkaufszentrum am Stadtrand gefahren. Ich bin mir sicher, dass sie ganz bewusst einen Ort gewählt haben, an dem zwar abends nichts los ist, an dem aber am nächsten Tag viele Leute rumlaufen.

Und plötzlich wusste ich, wenn ich überhaupt noch eine Chance haben will, muss ich mich wandeln. Obwohl ich genau das eigentlich nicht wollte. Unnötig zu erwähnen, dass die anderen die Gelegenheit genutzt haben, sich ebenfalls zu wandeln. Sie sind skrupelloser als ich, aber mir war klar, dass ich verzweifelt war und um mein Leben kämpfen muss.“

Gedankenverloren rührte Tim in seiner Kaffeetasse. „Ich bin mir sicher“, sagte er leise, „auch einige von ihnen verletzt zu haben. Das ist also nicht nur mein Blut, was da gefunden wurde. Die sind vermutlich davon ausgegangen, dass ich tot bin, oder es sehr bald sein werde. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Das Erste, was ich wieder weiß, ist ein brennender Schmerz in meiner Bauchwunde.“

„Ich hab ihm Schnaps zum Desinfizieren draufgegossen“, verriet Rob lachend in die Richtung seines Bruders. Der zog entsetzt die Augenbrauen hoch. „Dafür hätte er mich aber auch fast gebissen.“

„Ich hab mich schon gewundert, warum du so schnell wieder weg warst und ich dich nicht erwischt hab“, knurrte Tim, grinste aber dabei. „Ich hab nicht gewusst, dass er ein Wolf ist – wobei ich eigentlich gedacht hätte, dass ich das … merke“, setzte er hinzu, als Marc etwas verwirrt wirkte.

„Aber du hast ihn doch schon gesehen. Ich meine … du hast ihn doch angesprochen … vorgestern. Da wusstest du doch, wer er ist.“

„Ich wusste, dass er zu Charlotta gehört. Und ich wusste, dass er in euer Dorf gehört. Mehr nicht. Woher auch? Er war beim Kampf nicht dabei. Zumindest nicht direkt.“ Tim grinste wieder, doch er merkte sofort, dass das kein gutes Thema war, und sprach hastig weiter. „Na ja, in seiner Gestalt als Wolf hat ihn damals keiner von uns gesehen.“

„Ist vielleicht auch ganz gut so“, merkte Rob tonlos an.

Tim bemerkte den Stimmungsumschwung. Unsicher sah er von einem zum anderen. „Hab ich was Falsches gesagt?“, erkundigte er sich schließlich in die Stille hinein.

Die anderen drei warfen sich kurze Blicke zu. Es war Rob, der ihm antwortete. „Weil ich eben nicht dabei war und mich nicht mit den anderen auf den Kampf vorbereitet habe, aber trotzdem da im ungünstigsten Augenblick aufgetaucht bin, mich dann noch von den … wie hast du sie genannt? … von den Kröten hab aufgreifen lassen … Ich bin für …“ Rob räusperte sich, „… ich bin für vier Jahre aus dem Dorf verbannt.“

„Au Scheiße!“ Tim schien die Bedeutung der Verbannung durchaus geläufig zu sein. „Aber wieso denn?“

Rob schnaubte durch die Nase. „Hab ich doch gerade gesagt: Weil ich mich von euch hab aufgreifen lassen. Es hätte also durchaus passieren können, dass meine Leute sich alle ergeben, um mich zu retten …“

„Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Aber … wieso hätte das passieren sollen? Also, mal ehrlich! Wieso sollten die alten Geister eurem Pisap Inua das Signal geben, ein ganzes Dorf zu opfern, um einen einzelnen Mann zu retten – der das Ganze dann vermutlich ebenfalls nicht überlebt hätte? Es wäre ja nicht mal eure bewusste Entscheidung gewesen, sondern die der alten Geister, mit denen euer Pisap Inua die ganze Zeit in Kontakt stand. Gordon hätte Rob niemals am Leben gelassen. Ich bin mir sicher, die alten Geister hätten das erkannt. Die Einzige, die überlebt hätte, wäre Charlotta gewesen. Er hatte uns schon gesagt, dass wir auf sie aufpassen und sie in Sicherheit bringen sollen. Er hatte ja ihre Gabe gesehen und wollte sie … haben.“

Rob holte tief Luft, und Charlotta spürte, dass sich ein Kloß in ihrem Magen bildete. Die Erinnerung alleine war schon schrecklich genug.

„Gut, dass er nur einen Teil ihrer Gabe kannte“, sagte Marc betont munter.

„Ja, ey, wie hast du das gemacht?“

Charlotta zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab das mit dem Pusten ein einziges Mal bewusst gemacht, als ich … ich hab etwas, von dem ich mich unbedingt trennen musste, weit hinaus in den See gepustet. Die Sache mit Julian, dem toten Raben, hatte zwar auch mit meinem Atem zu tun, aber … da bedarf es offensichtlich mehr. Ich weiß nicht, ob du es gestern gemerkt hast: Als du als Wolf in unserer Badewanne lagst, hab ich versucht, dich in einen Menschen zurückzuwandeln. Etwa so, wie ich’s bei Julian gemacht habe – wobei der allerdings tot war, du glücklicherweise nicht. Aber das ging nicht. Also muss es … Bei Julian war der Pisap Inua dabei, und wegen der Beerdigung hatten sie auch die alten Geister angerufen. Das kriege ich also offensichtlich nur hin, wenn die Wege zu den alten Geistern frei und die Tore in ihre Welt geöffnet sind. Aber das andere … Wobei … Als ich Gordon weggepustet hab, da war ich ja auch in Trance.“

„Aber bei Horst nicht“, warf Rob ein. „Also, die Kraft deines Atems ist offensichtlich nicht tranceabhängig. Vielleicht hängt es von deiner Stimmung ab – in den jeweiligen Situationen warst du ja emotional sehr aufgewühlt.“

Marc schien etwas einwenden zu wollen, schwieg dann aber, während Tim Charlotta nachdenklich musterte.

„Ähm … versteht mich bitte nicht falsch … aber ihr seid schon eine … interessante Familie.“

Alle grinsten. Interessant? Sie waren sich sicher, dass Tim ursprünglich einen anderen Ausdruck auf den Lippen gehabt hatte.

Sie schwiegen, während insbesondere die Wölfe ungeniert zugriffen und Charlotta in Gedanken überschlug, wie viel Geld ihr für den Rest des Monats noch für Lebensmittel zur Verfügung stand.

„Sag mal, Tim, wie können wir deine Klamotten holen?“, erkundigte Charlotta sich. „So großzügig Rob auch Raben und Eulen gegenüber ist, aber seine Sachen passen dir einfach nicht.“

„Ich werde so bald wie möglich wieder zurück zu meiner Tante gehen“, antwortete Tim tonlos, nachdem er seinen Bissen heruntergeschluckt hatte. Der Blick war auf seine Kaffeetasse geheftet.

„In Robs Bademantel?“ Marc lachte hart auf. „Ich halte das für keine gute Idee. Meinst du nicht, dass du deinen alten Kumpeln da über den Weg oder sogar direkt in die Arme läufst?“

Tim zuckte mit den Achseln, wirkte jedoch nicht sehr sicher. „Die halten mich doch für tot. Warum sollten sie um das Haus meiner Tante herumschleichen?“

„Ich bin mir nicht sicher, inwieweit sie dich und die ganze Geschichte einfach abgeschrieben haben“, gab Marc zu bedenken. „Ich kann mir vorstellen, die werden zumindest darauf warten, dass ein rechtschaffener Bürger“, sein Blick ging zu Rob, „sich meldet, einer der gesuchten Riesenwölfe läge tot in seinem Garten. Stattdessen ist der tote Wolf verschwunden und niemand meldet sich? Ich kann mir sogar vorstellen, dass sie hier herumlaufen, und gucken, ob du noch auf der Terrasse liegst oder von Rettungskräften weggeräumt wirst. Denn, dass so ein schwacher Mensch wie Rob so ein großes Tier mal eben wegträgt und niemandem etwas erzählt, ist doch normalerweise eher unwahrscheinlich. Aber die Terrasse ist leer und weit und breit keine Polizei. Wo ist das Blut hin? Meinst du nicht, das kommt ihnen komisch vor?

Und dann musst du ja auch irgendwie hinkommen zu deiner Tante. Ich will nicht hoffen, in deiner Gestalt als Wolf, und ich will nicht glauben, dass du das nackt tun willst.“

„Ähm … nein … es ist nur so …“ Tim sah auf seinen Teller.

„Jaaa?“ Rob.

Charlotta stellte gerade fest, dass Rob nicht nur sie gerne auflaufen ließ und gezielt in Verlegenheit brachte. Er ahnte es nur zu oft ganz genau, wenn man etwas nicht sagen wollte. Dann kam sein langgezogenes ‚Jaaa?’ und zwang seinen Gegenüber geradezu damit, auch unangenehme oder peinliche Dinge laut auszusprechen Sie warf ihm einen bösen Blick zu, was er jedoch grinsend ignorierte. Schließlich trat sie ihm gegen das Schienbein, doch auch das schien Rob kaum zu bemerken und zog lediglich sein Bein weg.

Tim atmete hörbar tief ein und sah dann auf. „Ihr seid netter zu mir, als ich es verdient habe“, sagte er leise. „Ohne euch wäre ich jetzt tot. Und wenn nicht, wäre ich doch viel schwerer verletzt, als ich es jetzt bin.“

„Du wärst nicht halb tot auf unserer Terrasse gelandet, hättest du nicht versucht, uns zu warnen. Es ist vermutlich an uns, dir zu danken. Dass das mit Juli und deinen Wunden so fantastisch gelaufen ist, wussten wir ja vorher selbst noch nicht“, sagte Rob ernst und wandte sich zu seinem Bruder um. „Marc, gehst du gleich mit mir zu Tims Tante?“

Marc nickte. „Was sollen wir ihr sagen?“, fragte er den verletzten Werwolf.

„Ähm …“ Tim schien schon wieder total überrumpelt. Er hatte gerade das Gefühl, ein Teil seines Lebens schieße fremdgesteuert an ihm vorbei.

„Ist es dir recht, wenn wir deine Tante bitten, deine Sachen alle rauszurücken? So wie sich das angehört hat, hat sie dich ohnehin ziemlich widerwillig aufgenommen. Deshalb dürfte sie vielleicht sogar erleichtert sein, wenn sie dich und die Sachen los ist.“ Rob sah Tim forschend an.

Auch Charlotta beobachtete den fremden Wolf genau. Es musste schrecklich sein, erneut vor Augen geführt zu bekommen, wie unwillkommen man bei der Familie war, die vermutlich dankbar sein würde, ihn loszuwerden. Sie fand Rob gerade ziemlich unsensibel.

„Und dann?“, rief Tim verzweifelt aus.

„Ich nehme dich mit ins Dorf“, sagte Marc ruhig, und sowohl Charlotta als auch Rob sahen ihn verblüfft an. „Rob, wir haben noch einiges zu klären. Wir gehen gleich zu Tims Tante und holen die Sachen. Dann besprechen wir beide noch einiges. Heute Abend haue ich wieder ab und kläre mit dem Pisap Inua, ob das in Ordnung ist, wenn ich Tim mitbringe. Falls wir noch heute Nacht von den alten Geistern eine Antwort bekommen können, bin ich morgen wieder da, ansonsten erst übermorgen.“

Niemand widersprach.

Endlich schienen alle satt zu sein, und Charlotta räumte mit Marcs Hilfe den Frühstückstisch ab, während Tim auf seinem Stuhl sitzen blieb. „Es ist wirklich ein Unglück, dass Rob im Moment nicht ins Dorf kann“, sagte Marc. Er sagte es ohne besondere Bedeutung, doch Charlotta merkte trotzdem sofort, worauf er hinauswollte. Wütend drehte sie sich zu ihm um. „Alles ist gut, Lotta, alles ist gut. Ich will nichts von dir verlangen, was du nicht willst. Vielleicht gibt’s ja auch noch eine andere Möglichkeit in dieser besonderen Situation. Ich werde den Pisap Inua heute noch fragen. Komm, sei mir nicht böse.“

Bevor Charlotta antworten konnte, kam Rob in die Küche und spürte sofort die angespannte Stimmung. Fragend sah er von einem zum anderen, doch niemand schien ihm etwas sagen zu wollen. Schließlich zuckte er mit den Achseln. „Tim hat mir gestern gesagt, wo seine Tante wohnt. Er hat keinen Schlüssel mehr, der muss irgendwo am Supermarkt beim Kampf verloren gegangen sein oder in seiner Hosentasche stecken, und er hofft, dass ihn die Polizei gefunden hat und nicht seine Kumpel. Wir sollen es nur der Tante sagen, damit sie gegebenenfalls die Schlösser austauschen kann. Kommst du mit?“

Marc nickte und verließ die Küche, während Rob Charlotta in die Arme nahm und ihr einen Kuss gab. „Alles okay?“

Tim drehte diskret den Kopf zur Seite.

„Klar“, sie lächelte ihn so ehrlich wie möglich an. „Ich wünsche euch viel Erfolg und hoffe, dass euch nicht unterwegs jemand begegnet, dem ihr lieber nicht begegnen möchtet.“

„Das hoffe ich allerdings auch“, seufzte Rob. „Ich will übrigens auch noch mal hinterm Einkaufszentrum gucken. Der Täter kommt in Krimis immer wieder zum Tatort zurück. Ich könnte mir vorstellen, dass von den anderen Wölfen da auch noch welche rumschleichen. Sie wundern sich dann vielleicht, wenn wir da ebenfalls herumschnecken und den Fund eines toten Riesenwolfes nicht gemeldet haben; aber das würde ich riskieren. Ich sag’s dir, damit du dich nicht wunderst, wenn’s etwas länger dauert.“

„Was mache ich, wenn die hier anklingeln?“ Ein Gedanke, der Charlotta plötzlich durch den Kopf schoss. „Hier ist auch ein Tatort, an den sie zurückkehren könnten. Und Marc hat gerade noch mal gesagt, es könnte sein, dass die hier rumlaufen und uns beobachten. Wenn sie dann merken, dass hier keine aufgeregte Bergungsaktion wegen eines toten Riesenwolfs stattfindet, kommen sie vielleicht rein, um das aufzuklären.“

Rob wirkte alarmiert. Er drehte sich zu Marc um, der ihre Unterhaltung verfolgt hatte. „Das Klingeln ignorieren“, entschied der. „Wenn jemand wirklich zu euch will, dann meldet er sich noch mal.“

„Und wenn die euch weggehen sehen und versuchen mit Gewalt …?“

„Die werden kein Aufsehen erregen wollen“, meldete sich Tim zu Wort. „Wenn niemand öffnet, werden sie nicht gewaltsam hier eindringen.“

Charlotta zögerte noch einen Augenblick, entschied sich dann aber, Tim zu glauben. Schließlich kannte er die verwilderten Werwölfe besser als irgendjemand sonst von ihnen. Und wenn die Intention die war, ihr die Angst zu nehmen, war es einfach nur nett von ihm.


„Darf ich dich was fragen?“ Tim saß noch immer in Robs Bademantel am Tisch und schien gar keine Lust zu haben, sich wieder ins Bett zu legen. Ungewöhnlich, wenn man bedachte, wie schwer verletzt er war. Doch eine weitere Untersuchung und Behandlung durch Charlotta hatte er abgelehnt.

„Fragen darfst du immer.“ Sie kam mit Juli an der einen Hand und einer Tüte mit einer frisch gefüllten Windel in der anderen Hand, aus dem Kinderzimmer.

„Bei uns gab’s so besondere Gelegenheiten, dass jemand, der verbannt war, wieder ins Dorf durfte.“

„Die gibt’s in Robs Dorf auch“, seufzte sie.

„Wieso Robs Dorf? Du kommst nicht von dort? Woher kommst du denn?“

Charlotta lachte. „Ich bin in einer ganz normalen Familie hier in Breidewald aufgewachsen. Ich bin ein Einzelkind, meine Eltern sind beide tot, auch Verwandtschaft habe ich keine mehr. Von irgendwelchen Gaben oder Wandlungen hatte ich bis vor ungefähr drei Jahren überhaupt keine Ahnung. Du glaubst nicht, was Rob sich anstrengen musste, um mir zu zeigen, dass er ein Wolf ist.“ Sie lachte wieder. „Ich kann normalerweise nichts glauben, das ich nicht anfassen kann, oder was nicht hochwissenschaftlich bewiesen ist. Und dann kommt da so ein Mann daher, der mir was von Wolfsmenschen und Werwölfen erzählt, sich schließlich vor meinen Augen wandelt und mich zu einem Schamanen schleppt, der mir erzählt, ich hätte auch eine Gabe. Ich sag’s dir ehrlich: Ich hab die erst mal alle für bekloppt erklärt.“

„Rob hat dir das gezeigt?“ Tim wirkte sehr überrascht.

„Sein Pisap Inua hatte ihm gesagt, dass ich die Frau bin, die für ihn bestimmt ist. Also, den Freundinnen, die er vor mir hatte, hat er’s nicht gesagt.“

„Ach, ihr seid füreinander bestimmt!“

„Du kennst das also auch?“ Charlotta setzte sich zu Tim an den Tisch und sah ihn interessiert an.

„Ja klar, das gibt’s … gab’s bei uns auch. Aber dann gibt es vielleicht auch ähnliche Ausnahmen, weshalb jemand trotz Verbannung noch mal ins Dorf darf. Und – vier Jahre finde ich echt viel.“

Charlotta zog eine Schulter hoch. „Das ist auch echt viel, und Rob hat erst die Hälfte um. „Was für Möglichkeiten gab’s denn bei euch?“ Sie hoffte, dass etwas dabei war, das Rob eine Chance bot.

Tim lehnte sich nachdenklich zurück, zuckte dann aber zusammen und verzog schmerzhaft das Gesicht, weil die dünne Haut auf dem Bauch spannte. „Bei Gefahr fürs Dorf, bei Kämpfen, Beerdigungen von Angehörigen, die in erster Linie mit ihm verwandt sind, Hochzeiten, wenn das eigene Kind geboren wird …“

Charlotta schnaubte durch die Nase. „Dann hätten Nelly und Ben sich nicht mal zu opfern brauchen. „Um Rob zu ermöglichen, bei Julis Geburt im Dorf zu sein“, setzte sie Tims fragenden Blicks wegen hinzu, „hat der Freund seiner Schwester ihr einen Heiratsantrag gemacht. So konnte Rob der Hochzeit wegen ins Dorf kommen. Nein, nein, ich glaube die wollten sowieso irgendwann heiraten, sie haben’s nur uns zuliebe genau um Julis Geburtstermin herum gemacht. Die Regel mit dem eigenen Kind gibt’s in seinem Dorf nicht, danach hab ich schon mal gefragt.“

„Mhm … weshalb glaubt Robs Bruder, du bist böse auf ihn, nur weil er es bedauert hat, dass Rob gerade nicht ins Dorf darf?“

Tim sah sie so arglos an, dass Charlotta die erste böse Bemerkung herunterschluckte, die ihr auf der Zunge lag. „Boah, ich werde mich wahrscheinlich nie daran gewöhnen, dass ihr nicht nur alles hört, was im Umkreis von zwei Kilometern gesprochen wird“, schimpfte sie dennoch, „sondern auch ohne Hemmungen …“

„Tut mir leid, wenn ich da was angetriggert habe …“

„Ach, ist egal. Die halten mich alle für egoistisch, weil ich Rob nicht heiraten will. Dann könnte er nämlich sogar für drei Wochen ins Dorf.“

„Ach, ihr seid gar nicht verheiratet?“

„Nein!“

„Du willst nicht?!“

„Nein!“ Schon etwas schärfer.

„Vielleicht kommt’s ja tatsächlich noch mal zu einer Gefahr für euer Dorf, auch wenn das natürlich nicht so ein schöner Grund wäre, die Verbannung für kurze Zeit aufzuheben. Das könnte passieren, wenn die anderen Schwachköpfe aus Gordons Rudel auf der Suche nach Rache und nach Sklaven in die Wälder zurückgehen.“

Erleichtert, dass Heiraten kein Thema mehr war, überlegte sie, ob die von Tim genannte Alternative wirklich besser war. Deshalb kam das, was Tim außerdem noch gesagt hatte, erst mit einer kleinen Verzögerung bei Charlotta an. „Wieso Rache?“ Sie sah ihn verständnislos an. „Wir haben ihnen ermöglicht, in die Städte zurückzugehen und sie nicht getötet. Und sie hätten es verdient gehabt! Jetzt haben sie doch alle Möglichkeiten!“

„Aber das sehen sie nicht so! Ja, ihr habt ihnen das Leben geschenkt. Aber was ist das denn für ein Leben? Vorher waren sie frei, stark und gefürchtet, konnten tun und lassen, was sie wollten und mussten sich ausschließlich Gordons Anordnungen beugen. Jetzt geht es ihnen wie Rob. Nur haben sie nicht mal ein Dorf, in das sie jemals wieder zurückgehen könnten. Sie sind auf ewig verbannt. Auf ewig, Charlotta! Sie sind als freie Wölfe aufgewachsen. Du siehst, wie schwer es Rob fällt, sich mit einer Verbannung von vier Jahren abzufinden. Sie haben außerdem überhaupt keine Perspektive, keinen Job, kein Geld, keine sozialen Beziehungen in den Städten … die meisten von ihnen zumindest.

Sie haben über viele Jahre in den Tag hineingelebt. Das heißt, dass die allermeisten von ihnen überhaupt keine Tagesstruktur haben. Sie stehen nicht morgens um sieben auf und gehen zur Arbeit, um dann abends nach einem Acht-Stunden-Tag zur Familie zurückzukehren und mit den Kindern zu spielen. Wie schwer das ist, wieder einen regelmäßigen Tagesablauf hinzukriegen, hab ich ja selbst gemerkt. Also stehen sie irgendwann mal im Laufe des Vormittags auf und dann … dann lungern sie herum und versuchen mit coolen Sprüchen sich und anderen zu demonstrieren, dass sie trotz allem durchaus eine Existenzberechtigung haben. Wenn sie einen Job kriegen, sind die wenigsten in der Lage sich wirklich acht Stunden lang darauf zu konzentrieren. Arbeit macht nicht immer Spaß, das weißt du sicherlich auch. Wenn du Krankenschwester bist, hast du ganz bestimmt immer mal wieder Situationen oder Phasen gehabt, in denen du entweder morgens schon nicht losgehen wolltest, oder am liebsten irgendwann nach einem Streit mit Vorgesetzten oder Patienten nach Hause gegangen wärst.“

„Ja, und das nicht selten“, rief Charlotta aus. Die Gedanken, die Tim äußerte, waren ihr ziemlich fremd und verursachten ihr Beklemmungen.

Tim nickte. „Und? Bist du dann gegangen? Oder hast du die Zähne zusammengebissen und bist geblieben?“

„Ich konnte doch nicht einfach gehen! Hätte ich meine Kollegen das alles alleine machen lassen sollen? Irgendwer musste doch auch die Patienten weiterversorgen und …“

„Genau das meinte ich. Dein Verantwortungsbewusstsein lässt dich dann auch dort bleiben. Diese Männer haben aber eine Frustrations- und auch Toleranzschwelle, die weit, weit unterhalb deiner liegt. Und dann gehen die einfach und schmeißen die Brocken hin, weil sie es schlichtweg nicht mehr aushalten können. Spätestens zu Hause stellen sie aber fest, dass sie wieder mal versagt haben und sind noch wütender auf sich, aber auch auf die Gesellschaft und … na ja, alle anderen, die außer ihnen an der Situation schuld sind. – Und das seid im Augenblick ihr!“

Charlotta, die ihre Augen auf Tims Gesicht geheftet hatte, während er sprach, saß noch eine ganze Weile bewegungslos auf ihrem Stuhl. „So hab ich das nie gesehen“, sagte sie leise. „Hätte man das voraussehen müssen? Und wenn ja, was hätten wir denn damals tun sollen? Hätten wir alle Wölfe aus Gordons Gruppe töten sollen? Dann hätten wir dich aber auch töten müssen!“

„… Ja, das hättet ihr wohl.“


„Wir haben deiner Tante gesagt, wo du bist, und sie hat’s nicht ganz so leicht aufgenommen, wie du vielleicht glaubst. In den vergangenen zwei Jahren hat sie zwar nicht viel mit dir zu tun haben wollen, aber sie weiß auch von dem guten Kern, der in dir steckt“, sagte Marc.

Tim verzog das Gesicht – eine Mischung aus Unglauben und Verlegenheit.

„Sie hat uns deine kompletten Klamotten mitgegeben und noch ein paar Fotos. Sie meinte, sie wüsste nicht, ob du sie dir ansehen möchtest. Sie täte das nicht, um dir noch mal vor Augen zu führen, was du getan hast, aber sie möchte, dass du so ein bisschen Bezug zu deinen Wurzeln bekommst. Du hast ja auch nichts mehr aus dem Dorf, und sie hat uns ein paar Familienfotos mitgegeben.“

„Du warst ein süßes Baby“, grinste Rob hinterhältig, nachdem Marc mit seinen Ausführungen fertig war.

Eine dunkle Röte zog sich über Tims Gesicht. „Danke, dann kann ich endlich wieder in meine eigenen Jeans und T-Shirts“, knurrte er. Er stützte sich auf dem Tisch ab, um sich von dem Stuhl zu erheben, den er seit Beginn des Frühstücks nicht verlassen hatte. Als er endlich stand, war sein Gesicht nicht nur nicht mehr rot, sondern leichenblass. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

„So kriegst du ihn auch in zwei Tagen noch nicht ins Dorf“, stellte Charlotta an Marc gerichtet sachlich fest, und wurde dafür von Tim mit einem verzweifelten Blick bedacht.

Rob und Marc schwiegen, aber es schien nicht so, als seien sie anderer Meinung. Nachdenklich sahen sie hinter Tim her, der kleinschrittig in Robs Büro schlurfte.

„Vielleicht sollte ich Enno anrufen und ihn bitten, nach ihm zu sehen?“ Aus einem Grund, über den sie sich vorher keine Gedanken gemacht hatte, sprach Charlotta sehr leise.

Die Brüder sahen sich nachdenklich an. „Warte doch erst“, entschied Marc. „Mal gucken, ob und wann ich ihn vielleicht mitnehme. Dann könnten wir Enno gegebenenfalls ins Dorf bitten, damit er ihn dort untersucht. Aber die Idee ist grundsätzlich nicht schlecht. Allerdings muss ich sowieso vorher abklären, ob ich ihn überhaupt mitnehmen kann und darf.“

Niemand protestierte, denn es war ihnen klar, dass der Pisap Inua die alten Geister befragen würde. Tim mit ins Dorf zu nehmen und vielleicht später festzustellen, dass er sie getäuscht hatte und sie ausspionierte, wäre mehr als unklug.

„Aber dann könnte ich Enno doch trotzdem bitten, ihn sich in der Zwischenzeit mal anzusehen, oder? Vielleicht sieht er eine Möglichkeit, Tim in seinem Krankenhaus unterzubringen, wenn er vielleicht nicht sofort schon mit dir ins Dorf kann. Falls Enno meint, er kann hier bei uns bleiben, ist das in Ordnung. Aber wenn er mehr Hilfe braucht, bleiben im Grunde nur ein Krankenhaus oder ein Pisap Inua. Und welches Krankenhaus ist besser geeignet, als eins, in dem einer der Chefärzte ein Werwolf ist?“

„Jahaa, aber denk daran, dass du auch Ennos Geheimnis wahren musst. Es kann natürlich sein, dass die fremden Wölfe Enno damals gesehen und auch mitbekommen haben, dass er Peter wieder zusammengeflickt hat. Schließlich haben sie uns, wenn ich das richtig erinnere, über viele Wochen beobachtet. Es kann also sein, dass auch Tim weiß, wer Enno ist. Nenn bitte trotzdem in seiner Gegenwart den Namen nicht. Auch wenn andere da vielleicht nicht schalten – Enno ist kein so häufiger Name, dass Tim oder irgendwer, mit dem er sich mal unterhält, nicht plötzlich die Zusammenhänge erkennen könnte.“ Marc hoffte, dass diese Unterhaltung leise genug gewesen war, dass Tim sie nicht hatte verfolgen können. Zum einen, weil er ansonsten doch den Namen Ennos mitbekommen hätte, aber auch, dass Marc ihm nicht so hundertprozentig vertraute.


„Wie sieht das eigentlich hinter dem Einkaufszentrum aus?“, erkundigte Tim sich. Er schien sich in seiner eigenen Wäsche sichtbar wohler zu fühlen, wirkte aber völlig erschöpft. Obwohl er sich nur in Robs Büro umgezogen hatte, noch mal ins Bad geschlurft war, kehrte er noch langsamer und unter großer Anstrengung wieder ins Esszimmer zurück. Sie hatten ihm ein gemütlicheres Sofa angeboten, doch er befürchtete, nicht wieder aus dem tiefen Möbel hochzukommen. Plötzlich hatte Charlotta das Bild von sich als Hochschwangerer vor Augen und verstand, was er meinte.

„Es war noch alles abgesperrt, und es war auch noch Polizei dort“, antwortete Rob auf Tims Frage. „Aber die vielen Schaulustigen sind weg. Marc hat noch ein paar Männer gesehen, die heute Morgen auch da gewesen sind. Glaubte er zumindest. Deshalb sind wir auch schnell wieder abgehauen. Wir wollten nicht von ihnen erkannt werden und den Eindruck erwecken, wir seien deinetwegen dort. Dann wäre es ja noch auffälliger, dass wir den Fund eines toten oder zumindest schwer verletzten Wolfes auf unserer Terrasse nicht gemeldet haben. Denn, so etwas wäre doch ganz sicher an die Öffentlichkeit gedrungen. Etwas anderes anzunehmen, ist doch recht unwahrscheinlich.“

„Mhm …“


Marc war wieder fort, Tim hatte sich erschöpft ins Bett verzogen, und auch Juli lag in ihrem Bettchen.

Charlotta und Rob räumten noch ein paar Dinge zusammen, bis die Wohnung wieder so ordentlich war, dass sie das Gefühl hatten, sie hätten es verdient, sich nun aufs Sofa zu setzen.

Da saßen sie. Schweigend.

„Sag mal, ist das alles normal im Leben eines Werwolfs?“, fragte Charlotta irgendwann leise.

Rob schnaubte durch die Nase. „Nee, ich glaube, so was hat’s seit vielen Generationen nicht mehr gegeben. Früher … also, damit meine ich vor vielen Jahrhunderten, als alles noch etwas unzivilisierter vor sich ging … also, früher, da hat’s sicherlich auch Überfälle und Kämpfe gegeben. Auch früher schon haben die Menschen aus den Städten Jagd auf die riesigen Wölfe gemacht, wenn die ihnen und ihrem Vieh zu nahe kamen. Es hat auch damals schon Menschen gegeben, die was von Wolfsmenschen und Werwölfen gewusst und die auch gejagt und verfolgt haben. Aber … Nein, normal ist das so wohl nicht.“

„Was können wir denn machen?“

„Wir? Wir, Lotta, können überhaupt nichts machen. Ich sowieso nicht, weil ich nicht ins Dorf kann und …“

„Wenn es zum Kampf gegen den Restbestand von Gordons Werwölfen kommt, kannst du dann nicht wieder ins Dorf?“, fragte Charlotta hoffnungsvoll.

„Ja, das ist wohl so. Aber eigentlich müsste ich vorher schon ins Dorf, um mich an den Planungen beteiligen zu können. Es ist ja nicht so, als wenn der Kampf komplett im Dorf geplant wird, und alle Gestaltwandler werden irgendwann informiert und gebeten, dabei zu sein. Dann würde ich auch zu denen gehören und dürfte hin.

Nein, Lotta, das passiert nicht im Dorf. Das passiert hier bei uns. Hier mit uns!“, wiederholte er verzweifelt. „Ich müsste auch vorher schon bei den Trancen dabei sein, in denen wir das weitere Vorgehen abstimmen. Weil ich mehr weiß als die anderen. Weil ich vermutlich auch mehr weiß, als mir bewusst ist. Das Unterbewusstsein hat nicht nur immer recht, es lässt sich auch viel zu oft nicht an die Oberfläche holen. Das ginge aber in der Trance. Vielleicht habe ich wichtige Informationen, die uns bei einer Auseinandersetzung einen wichtigen Vorteil verschaffen könnten. – Es ist schon mal gut, dass Marc das ist, was er ist. Er hat einen ganz anderen Zugang zu den alten Geistern und weiß auch, was er tun muss, wenn er hier bei uns ist.“

„Mhm …“

„Was ist?“

„Mhm? Nichts!“

„Nichts!“, wiederholte Rob tonlos und grinste schief. „Wenn Frauen ‚nichts’ sagen, ist doch gerade erst recht irgendwas im Busch. Na komm, sag’s schon!“

„Nein … ich … Ach, Rob es ist im Moment alles ein bisschen viel. Mir wird das alles … ja, mir wird’s einfach ein bisschen viel. Ich hab Angst. Angst um uns, und damit meine ich Juli und uns beide. Ich hab …“ Unglücklich sah sie ihn an.

„Und diese Angst ist ‚nichts’? Ach, Lotta!“ Er lächelte sie zärtlich an. „Komm mal her, Süße. Ich hab auch Angst. Es passiert so viel, und ich fühl mich so hilflos. Meine Leute, vor allem auch der Pisap Inua und meine Familie, waren in schwierigen Situationen immer meine Stütze. Wenn ich nicht weiterwusste, konnte ich immer auf ihre Hilfe zählen. Und das ist jetzt weggebrochen. Durch meine eigene Schuld kann ich auch nichts dagegen unternehmen.“

Er zog Charlotta an sich, damit sie sich mit dem Rücken an seine Brust lehnen konnte. Mit beiden Armen umschlang er sie, und sie spürte, wie er mit einer Hand zärtlich über ihren Arm strich und seine Nase in ihre Haare grub. Von Anfang an schien das etwas zu sein, was ihm guttat. Er hatte mal gesagt, dann fiele ein großer Teil seines Stresses von ihm ab. Und dieses Wissen entlockte ihr immer wieder ein glückliches Lächeln.

Sie drückte sich näher an ihn heran und spürte, wie sehr sie seine Nähe und die Körperwärme, die er abgab, genoss und … ja, und auch sie fühlte sich weniger angespannt als noch vor einigen Minuten. Obwohl sie ohne Rob ein ganz anderes Leben hätte, ein viel ruhigeres sicherlich, tat er ihr so gut, dass sie das in Kauf nahm. Nur, um ihm nahe sein zu können. Sie wollte kein anderes Leben mehr.

„Komm, lass uns ins Bett gehen“, flüsterte Rob und pustete ihr sanft ins Ohr.

Charlotta erschauderte, was Rob schmunzelnd wahrnahm. Bevor Charlotta auch nur versuchen konnte, vom Sofa zu kommen, stand er schon neben ihr, hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Das ging immer so schnell, dass ihr schwindelig wurde.

Robs Lippen spielten mit ihren. Jedesmal, wenn sie glaubte, er werde sie küssen, waren seine Lippen wieder fort. Mal an ihrem Kinn, dann wieder biss er ihr zärtlich in die Schulter, während seine Hände damit beschäftigt waren, sie ihrer Kleidung zu entledigen.

Charlotta drängte sich an ihn und keuchte, als Robs Lippen von ihrer Schulter aus über das Schlüsselbein in die Halsbeuge wanderten, dort, wo die Haut ganz dünn und empfindsam war. Sie spürte seinen warmen Atem und krallte sich unwillkürlich an ihm fest.

Plötzlich zuckte sie zusammen. „Nicht Rob!“

Rob lachte leise, und seine Lippen machten ohne zu zögern dort weiter, wo sie gerade waren.

„Nein, Rob, bitte!“

„Was ist …?“

„Tim!“

„Was ist mit Tim?“ Robs Hand strich über ihre aufgerichtete Brustwarze, was erneut eine ganze Armee von Hormonen durch ihren Körper schießen ließ.

„Er hört uns … Rob, hör auf! Tim hört alles, er …“

„Das ist mir scheißegal!“

Erneut spürte sie seinen Atem und seine Lippen sanft an ihrer Halsbeuge, und wie zuvor hatte sie das Gefühl, sich keuchend an ihm festhalten zu müssen. „Mir aber nicht. Das ist nicht fair, Rob … Oh Himmel … das … ist nicht … nicht fair … Rob! Rob!“, flehte sie und versuchte halbherzig, ihn von sich zu schieben. „Rob hör auf!“

„Lotta, wir sind es gewohnt, viele Dinge zu hören, von denen andere besser nicht wissen sollten, dass wir sie hören. Vergiss Tim. Nur im Augenblick. Bitte!“ Er intensivierte seine Bemühungen, statt sie einzustellen.

„Uaaah! Rob!“ Sie versuchte vergeblich, ihn von sich fort zu drücken. Dass sie kräftemäßig keine Chance haben würde, wusste sie, aber sie hoffte, Rob werde merken, wie sehr sie wollte, dass er aufhörte.

„Du könntest auch ganz leise sein.“ Es war ein tiefes, leises Lachen, wohl wissend, dass das für Charlotta zumindest in diesem Augenblick ein Ding der Unmöglichkeit war. Um das noch zu unterstreichen, schob sich seine Hand in ihren Schritt, und er drang mit einem Finger in sie ein.

„Nein, nein, nein, Rob!“ Charlotta bäumte sich auf und biss sich auf die Lippen. „Nein, bitte. Das ist nicht … gemein …“

„Nicht gemein? Na, umso besser!“ Rob merkte, wie sehr es ihn erregte, mehr noch als sonst, zu spüren, wie Charlotta ihren Widerstand stückchenweise aufgeben musste. Wie sie gegen ihn … und sich selbst … und ihn … ankämpfte … und doch verlor! Noch nie hatte sie sich gegen seine Zärtlichkeiten gewehrt und … wow, das war geil! Noch wehrte sie sich …

Vergeblich kämpfte Charlotta tatsächlich gegen Rob, gegen die Gefühle, die er in ihr auszulösen vermochte wie noch niemand zuvor, gegen den Ansturm der Hormone, gegen Rob, der sich über sie rollte, dessen Knie sich zwischen ihre schob, dessen Lippen ihre verschlossen und damit verhinderten, dass sie laut aufschrie, als er in sie eindrang … Tim war vergessen, als Rob machtvoll zustieß, wieder und wieder.

Keuchend bäumte sie sich unter ihm auf und spürte im gleichen Augenblick, wie er sich am ganzen Körper zitternd, mit ein paar letzten Stößen in sie ergoss.

Es dauerte eine lange Weile, bis Charlotta ihren Atem, ihre Gefühle und … sich selbst wieder unter Kontrolle zu haben glaubte. „Oh Rob, mir ist das peinlich, wenn da jemand in der Nähe ist, der das alles mitbekommt!“ Es klang etwas kläglich.

„Och, Lotta, glaub mir, dass das noch eine der angenehmeren Sachen ist, die ein Wolf ungewollt mithört. Wenn du mir einen einzigen Wolf zeigen kannst, der dir sagt, er habe das noch nie mitgehört, wenn andere sich lieben, sag es mir. Es gibt viele Dinge, die schlimmer sind … Okay, doch … von den eigenen Eltern will man das nicht hören.“

„Oh Mann, du bist blöd! Ich bin nicht so aufgewachsen wie du! Für mich ist das was ganz Intimes, und mir ist das total peinlich, wenn ich weiß, dass jemand zuhört, und es törnt mich ab …“

Rob brach in schallendes Gelächter aus, und Charlotta verstummte irritiert – und beleidigt. „Wie süß! Ach, Lotta, ich liebe dich. Du hast mich gerade nicht einen einzigen winzigen Augenblick lang vermuten lassen, dass du auch nur eine Sekunde lang nicht gemerkt hättest, wie sich deine Erregung immer weiter gesteigert hat und …“

„Rob!!!“


WOLF CALL

Подняться наверх