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Einleitung

Einleitung

Das Strafverfahren besteht aus vier Abschnitten: Ermittlungsverfahren (auch: Vorverfahren oder vorbereitendes Verfahren), Zwischenverfahren, Hauptverfahren, Vollstreckungsverfahren. Das Ermittlungsverfahren beginnt, sobald die Staatsanwaltschaft (§ 160 StPO) oder die Polizei (§ 163 StPO) eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen, mag der Beschuldigte auch noch unbekannt sein.[1] Es endet in der Regel mit einer abschließenden Verfügung der Staatsanwaltschaft, wodurch das Verfahren eingestellt (§ 170 Abs. 2 StPO) oder mit der Erhebung öffentlicher Klage an das Gericht abgegeben wird (§ 170 Abs. 1 StPO). Praxisrelevant ist dazwischen auch die Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer Geldauflage nach § 153a StPO oder die Beantragung eines Strafbefehls nach § 407 StPO.

Das Ermittlungsverfahren wurde in seiner Bedeutung lange unterschätzt. Man sah in ihm ein bloßes Stoffsammlungsverfahren. Beigetragen hat dazu die Auffassung des historischen Gesetzgebers der StPO, der im Wesentlichen nur die Entscheidung nach § 170 StPO und die vorbereitende Funktion des Ermittlungsverfahrens vor Augen hatte.[2] Das hat sich erst in den letzten Jahren geändert. Bahnbrechend waren insoweit die Untersuchungen von Peters über die Fehlerquellen im Strafprozess. Er stellte fest:

„Wie das Hauptverfahren ausgeht, wie die Hauptverhandlung abläuft und wie das Urteil ausfällt, ist weitgehend durch das Vorverfahren bestimmt.“[3]
„Immer wieder stießen wir auf die Erkenntnis, dass weitgehend im Ermittlungsverfahren die Weichen auf das richtige oder falsche Urteil hin gestellt werden.“[4]
„Fehler und Mängel des Ermittlungsverfahrens“ sind „in aller Regel in der Hauptverhandlung nicht mehr zu beseitigen.“[5]

Seitdem ist die prägende Kraft des Ermittlungsverfahrens für den weiteren Verfahrensablauf, insbesondere für die Hauptverhandlung, Allgemeingut.[6] In der heutigen Praxis ist das Ermittlungsverfahren ein zentraler Bereich der Wirkkraft einer effektiven Verteidigung. Dazu haben auch die Änderungen des Gesetzgebers im Bereich der Verständigung zwischen Gerichten und Verfahrensbeteiligten sowie die spürbar härtere Sanktionsbereitschaft der Gerichte im Bereich der Wirtschaftskriminalität beigetragen (§ 257c StPO). Denn die Formalisierung der Verständigung in der Hauptverhandlung und härtere Strafen zwingen die Verteidigung dazu, bereits im Ermittlungsverfahren gegebenenfalls mit der Staatsanwaltschaft Einvernehmen über eine mögliche weitere Vorgehensweise zu finden. Leider führt die Strafverteidigung im Ermittlungsverfahren trotz allem zu häufig (immer noch) ein Mauerblümchendasein. Das hat mehrere Gründe. Zunächst die schlichte Unkenntnis der Bedeutung des Ermittlungsverfahrens. Sodann eine auf Unwissenheit beruhende Unterschätzung der Möglichkeiten des Verteidigers im Ermittlungsverfahren.[7] Auch führt fehlende praktische Erfahrung in der Hauptverhandlung zur Fehleinschätzung über Möglichkeiten und Risiken der Verteidigung in der Hauptverhandlung. Ferner die Probleme, die mit einer angemessenen Honorierung sachgerechter Verteidigung im Ermittlungsverfahren verbunden sind. Schließlich taktische Überlegungen, die dahin gehen, das Pulver nicht vorher zu verschießen, das Überraschungsmoment in der Hauptverhandlung einzukalkulieren. Endlich die Publicity-Sucht einiger Verteidiger, die den spektakulären Auftritt in der Hauptverhandlung der (in der Regel) unauffälligen Arbeit im Ermittlungsverfahren vorziehen. Und manchmal der ganz triviale Grund fehlender Zeit für die oft aufwendige Tätigkeit im Ermittlungsverfahren.

Das vorliegende Buch will einen kleinen Beitrag dazu leisten, wenigstens Unwissenheit abzubauen. Es basiert auf langjähriger ausschließlicher Tätigkeit als Strafverteidiger. Es ist aus der Praxis für die Praxis geschrieben. Deshalb ist es weder ein Lehrbuch noch ein Kommentar. Zitate sind jeweils auf eine oder wenige markante Fundstellen beschränkt. Streitfragen werden nur abgehandelt, soweit daraus in der Alltagsarbeit ein unmittelbarer Nutzen gezogen werden kann. Dafür wird versucht, praktische Ratschläge und Tipps zu geben, „informelle Programme“[8] zu vermitteln. Dem dienen auch die Schriftsatzmuster. Sie stammen fast ausnahmslos aus Originalakten der Gründer und Verfasser dieses Werks.[9]

Der Verteidiger muss bedenken, dass in weniger als einem Drittel der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren Anklage erhoben, Strafbefehle beantragt oder eine Einstellung unter Auflagen erfolgt, während mehr als zwei Drittel der Verfahren sich anderweitig erledigen.[10] Das heißt, dass ca. 66 % aller Strafverfahren, über die auch – mitunter Außerachtlassung der Unschuldsvermutung – in der Presse berichtet wird und die deshalb Einfluss auf das Privatleben des Beschuldigten haben, wieder eingestellt werden oder sich anderweitig erledigen. Hinzu kommt die vielfach größere Zahl von Strafanträgen der Staatsanwaltschaft, die in ihrer Höhe von den Gerichten als ungerechtfertigt abgelehnt werden. Allerdings werden auch nur ca. 3 % der Angeklagten von den Gerichten auf der anderen Seite freigesprochen. Schon diese großen Differenzen machen den weiten Bereich und das Spannungsfeld der Verteidigeraufgaben, aber vor allem auch seine Wirkkraft im Ermittlungsverfahren, deutlich.

Die Untersuchungshaft und die vorläufige Vermögensbeschlagnahme werden im vorliegenden Werk nicht behandelt. Andernfalls wäre der Umfang dieses Buches im Rahmen des Konzepts der Schriftenreihe gesprengt worden. Es bietet sich zudem an, die spezifischen Probleme des inhaftierten Mandanten im gesamten Strafverfahren ebenso zusammenhängend zu behandeln wie die Voraussetzungen und Folgen der vorläufigen Vermögensbeschlagnahme.[11] Im Kern gilt das auch für die Fragen rund um das Vergütungssystem des Verteidigers. Hierzu ist ein gesonderter Band erschienen. Aufgrund der elementaren Bedeutung der Bezahlung für den Anwalt, den Mandanten und das Mandat selbst werden Einzelfragen jedoch erörtert. Das Institut der Pflichtverteidigung wurde nach der Gesetzesänderung im Bereich der §§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO mit Wirkung zum 1.1.2010 mit aufgenommen und wird kurz beleuchtet.[12]

Besonderheiten innerhalb spezieller Strafverfahren werden gleichfalls nur gelegentlich erwähnt; im Übrigen sei auch insoweit auf die mittlerweile gesondert erschienen Werke innerhalb der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ verwiesen. Überlegungen zu einer Reform des Ermittlungsverfahrens sind – entsprechend der Zielsetzung dieser Schriftenreihe – gleichfalls ausgeklammert.[13] Europarechtliche Bezüge werden immer bedeutsamer. Deswegen findet sich ein gesondertes Kapitel zu den aktuellsten Entwicklungen in diesem Bereich.

Verteidigung im Ermittlungsverfahren

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