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7 Im Stützpunkt

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Kasachstan

In der Steppe, irgendwo bei Scheskasgan


»Das alles macht keinen Sinn«, meinte Otis. Er drehte sich nach Jessica um, die auf einer bequemen Ledercouch des spartanisch eingerichteten Zimmers Platz genommen hatte und seelenruhig las. »Man hat uns nicht getrennt, nicht bedroht, ist höflich und fragt nach unserem Befinden. Nein, das ergibt keinen Sinn.«

Jessica warf das Magazin, in dem sie gelesen hatte, achtlos auf den Tisch. Die Räumlichkeiten, in die man sie und Otis gebracht hatte, verfügten neben dem großen Wohnraum mit Einbauküche über ein Bad sowie zwei Schlafzimmer. Das Einzige, was an der Unterkunft nervte, war, dass es keine Fenster gab und nur die Leuchtflächen an der Decke für Helligkeit sorgten. Der einzige Hinweis, dass es sich - bei allem Komfort - um eine Arrestzelle handelte, war die verschlossene Tür, die offensichtlich von außen per Schlüssel oder Keycard zu öffnen war. Auch innen befand sich an der rechten Seite neben der Tür eine Art Kartenleser in der Wand, in den man wahrscheinlich eine entsprechende Karte hineinschieben musste, um die Tür zu öffnen.

»Vielleicht denken wir zu sehr in den alten Bahnen der Geheimdienste«, sagte Jessica nachdenklich. »Warum sollten sie uns auch etwas antun? Uns sind die Hände gebunden, die Besatzung der ISS ist in der Hand der Kasachen oder Russen - oder wer auch immer hier das Sagen hat.«

Otis runzelte die Stirn. »Und du glaubst, die lassen uns irgendwann einfach so gehen?«

»Weiß ich nicht. Aber Grichenko erwähnte ja mehrfach, dass wir irgendwann mit dem General reden werden - wer immer das ist.«

»Und wenn das ein Typ á la Seamus Abigail ist?«, fragte Otis.

»Glaube ich nicht. Die Leute hier wirken nicht wie Fanatiker. Was ich mithören konnte, lässt jedenfalls nicht den Rückschluss zu, dass hier jemand nach der Macht strebt.«

Otis nickte. »Ist dir bei deinem Kurzverhör vielleicht sonst noch etwas aufgefallen, irgendein Gesprächsfetzen?«

»Nein. Einige zeigen sich besorgt, weil der Kontakt zu den anderen Städten in Kasachstan immer schwieriger wird, dann wird befürchtete, dass in einem AKW etwas schiefgelaufen sein könnte. Aber das war es auch schon.« Jessica winkte ab. »Wir müssen abwarten, Otis.«

»Ja, klar. Mir wäre es lieber, ich wüsste, auf wen oder was ich mich einstellen muss. Ich erkenne keinen Gegner, keinen Feind, nur einen Rivalen, der zuerst ein Heilmittel gegen das Zombievirus herstellen will ...«

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Hauptmann Grichenko, der von zwei Wachen begleitet wurde, trat in den Wohnraum. »Sind Sie zufrieden mit Ihrer Unterkunft? Brauchen Sie vielleicht sonst noch etwas?«

»Danke, alles bestens«, erwiderte Jessica, die den Hauptmann anlächelte. Otis schüttelte nur schwach den Kopf.

»Gut«, meinte Grichenko. »Ich werde Ihnen jetzt die wissenschaftliche Abteilung zeigen, damit Sie Ihren Leuten in den Staaten einen Überblick über unsere Arbeit geben können. Die internationale Kommunikation ist nicht mehr zuverlässig. Sie werden quasi als persönliche Boten fungieren, wenn Sie zurückkehren.« Er lächelte verschmitzt. »Natürlich gibt es auch bei uns Bereiche, die Off-Limits sind, aber das verstehen Sie sicherlich. Die Forschung läuft auf Hochtouren. Wir haben hier wirklich eine sehr illustre Schar an Spitzenkräften zur Verfügung. Können wir …?«

Otis stutzte. »Wir dürfen also einfach so zurückkehren?«

Grichenko lächelte. »Der Kalte Krieg ist lange vorbei, und angesichts der Lage, in der sich die Welt befindet, haben die alten Rivalitäten wohl ihre Bedeutung verloren. Was natürlich nicht heißt, dass wir in der neuen Welt, die hoffentlich irgendwann wieder entsteht, nicht wieder von vorne anfangen - mit unserem Misstrauen, mit unseren territorialen Streitigkeiten und was es sonst noch alles gibt ...« Grichenko zuckte fast verlegen mit den Achseln. »Nun, für den Rückflug müssen Sie allerdings selbst sorgen. Ich gehe einmal davon aus, dass die Fernleitstelle in Cleveland ihren modernen Vogel irgendwo in der Steppe geparkt hat und sie irgendwann abholen wird - nicht wahr?«

»Das wissen wir nicht«, antwortete Jessica anstelle von Otis. »Wir waren selbst überrascht, als der Jet abgeflogen ist.«

»Wirklich?« Grichenko lächelte spöttisch.

Er glaubt dir nicht, dachte Jessica. Sie hielt Grichenkos Blick stand. Er ist gefährlicher, als es den Anschein hat. Ein Wolf im Schafspelz.

»Wie auch immer«, fuhr Grichenko fort. »Folgen Sie mir jetzt bitte. Sie werden die Labors sehen, danach werde ich Sie zum General bringen.«

»Und wie heißt der ... General?«, fragte Otis.

Grichenko schwieg für einen Moment und starrte Otis in die Augen. »General ... Darf ich bitten.«


Eine Stunde später brachte man Jessica und Otis in eine Art Herrenzimmer, wo in einem offenen Kamin ein Feuer brannte. Schwere, teure Teppiche lagen auf dem Felsboden. Rechts neben dem Kamin befand sich eine Couchgarnitur aus schwarzem Leder. Der Esstisch mit den acht Stühlen, der in der Mitte des Raumes stand, war für drei Leute gedeckt. Kerzen brannten in kostbaren Leuchtern und warfen ein warmes Licht auf die Szenerie.

»Einladung zum Dinner«, murmelte Otis und runzelte die Stirn. »Was hältst du von den Aussagen der Wissenschaftler, Jess?«

Sie zuckte mit den Achseln. »So gut ist meine medizinische Ausbildung auch wieder nicht. Aber - es klang vernünftig. Im Endeffekt hörte es sich nach dem an, was auch unsere Wissenschaftler von sich gaben - dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, aus den Blutproben der Leute von der ISS ein Heilmittel entwickeln zu können.«

Otis grinste giftig. »Ja, wie schön das doch alles ist. Man stellt uns eine Luxusunterkunft zur Verfügung, führt uns zu den Laboren mit den führenden Wissenschaftlern und gleich werden wir mit dem geheimnisvollen General speisen. Mir ist das alles etwas too much ..

Jessica zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil es nicht unserer Erwartungshaltung entspricht. Grichenko hat recht. Die alten Konflikte machen gegenwärtig keinen Sinn mehr. «

»Jess ...« Otis sah sie beschwörend an. »Lass dich doch nicht einwickeln. Warum haben sie uns dann nicht die Hälfte der ISS-Besatzung für unsere Forschungsteams mitgegeben? Warum wollen sie alles selbst machen?«

»Was weiß ich«, erwiderte Jessica leicht gereizt. Sie drehte sich etwas zur Seite, als sich die große Tür öffnete und ein nicht besonders großer Mann den Raum betrat. Er nickte Jessica und Otis zu und wies dann zum Tisch.

Keine Wachen, keine Eskorte, der General, denn nur um ihn konnte es sich handeln, schien sich seiner selbst sehr sicher zu sein, dachte Otis.

»Bitte nehmen Sie doch Platz. Das Essen wird gleich serviert. Ich hoffe, Sie haben Appetit. Wir haben einen vorzüglichen Koch hier.« Der Mann sprach akzentfreies Englisch.

Otis und Jessica nahmen Platz, dann setzte sich der General an das Kopfende des Tisches. Kurz darauf betraten einige Küchenbedienstete den Raum. Das Essen konnte beginnen.


»War alles zu ihrer Zufriedenheit«, fragte der General, als sie mit dem Essen fertig waren. Jessica und Otis dankten ihm. Während des Essens hatten sie nur gepflegte Konversation gemacht, nichtssagend und streng genommen überflüssig.

»Sie wollen wissen, wer ich bin - was das alles soll«, sagte der General nach einer Weile lächelnd. »Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Ich bin Vladimir Dimitrov.« Der General machte eine Pause. An Jessicas Reaktion erkannte er, dass sie wusste, wer er war.

»Der Dimitrov, der bei dem ehemaligen Präsidenten Kasachstans in Ungnade gefallen ist?«, fragte Jessica und sah ihm dabei in die Augen.

»Eben der. Nach dem Zusammenbruch der Ordnung gelang mir die Flucht aus dem Gefängnis. Ich hatte nach wie vor viele Vertraute in der Armee. Und wir machten uns an die Arbeit, das zu retten, was noch zu retten war.« Dimitrov betrachtete nachdenklich das Rotweinglas und nahm einen kleinen Schluck.

Jessica wusste, dass Dimitrov als Konservativer galt, der dem progressiven Kurs des ehemaligen Präsidenten nichts hatte abgewinnen können und gegen ihn opponiert hatte. Es hieß sogar, dass Kasachstan kurz vor einem Militärputsch stand. Doch vieles davon konnte auch ein Gerücht sein.

»Sie waren gegenüber den USA nicht gerade freundlich eingestellt, General«, sagte Jessica und sah Dimitrov dabei in die Augen.

»Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht. Aber der Konflikt mit unserem Präsidenten hatte interne Ursachen. Die Korruption im Land hatte verheerende Ausmaße angenommen.« Er trank erneut einen Schluck Wein. »Und das Ausland sollte nicht immer so tun, als wäre Korruption immer nur eine Sache des ehemaligen Ostblocks. Nicht wahr?«

Otis registrierte die Spannung, die plötzlich im Raum stand ganz genau. Etwas funkelte in Dimitrovs Augen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Das ist Vergangenheit, General. Was geschieht jetzt weiter? Ihr Hauptmann Grichenko äußerte sich dahin gehend, dass wir Kasachstan verlassen dürfen und zurückkehren können.«

Dimitrov nickte. »Ja, aber sicher.«

»Und was ist mit der ISS-Besatzung? Wäre es nicht von Vorteil, wenn Sie uns einige der Leute mitgeben - zumindest die beiden Amerikaner und die zwei Europäer. Insbesondere, wenn sie die beiden Amerikaner hier festhalten, könnte das eventuell nachträglich für Spannungen sorgen.«

Dimitrov lächelte. »Höre ich da eine versteckte Drohung heraus?«

»Nein. Keine Drohung, lediglich Fakten.«

»Wieso gehen Sie davon aus, dass ich Ihnen die beiden Amerikaner nicht mitgeben würde?«

Otis stutzte. »Aber ...«, setzte er an.

Dimitrov winkte ab. »Als die Besatzung landete, musste sie sofort ärztlich versorgt werden. Offensichtlich war man in Cleveland nicht ausreichend informiert. Die Besatzung der ISS war länger im All als alle anderen Besatzungen zuvor. Und einer ihrer Landsmänner, der Astronaut Bruce Lowell, ist leider schwer erkrankt. Natürlich könnten Sie ihn in die Staaten überführen, aber er leidet an einer Krebserkrankung, die eine sofortige Therapie notwendig macht. Haben Sie in Cleveland entsprechende Fachleute vor Ort?«

Otis sah schnell zu Jessica, die an seiner Stelle antwortete. »Wir haben einige Spezialisten, Ärzte, Genetiker - aber Genaueres wissen wir nicht. Unser Auftrag lautete lediglich, die Crew in die Staaten zu überführen. Von der Existenz dieser Einrichtung hier wussten wir nichts. Die Kommunikation zwischen den Staaten ist de facto nicht mehr existent, das wissen Sie selbst, General Dimitrov.«

Na toll, dachte Otis. Und so geben wir preis, dass wir für einen Dilettantenstadel arbeiten ...

Dimitrov winkte ab. »Es steht Lowell frei, mit Ihnen in die Staaten zurückzukehren, aber er hat abgelehnt. Unser Ärzteteam behandelt ihn, und als Mediziner weiß er, dass er hier in besten Händen ist. Aber seine Kollegin, Linda Carruthers, darf gerne mit Ihnen zurückfliegen.«

»Und die anderen?«, hakte Otis nach.

Dimitrov zuckte mit den Achseln. »Sie haben sich dagegen entschieden. Sie können Sie gerne selbst fragen, wenn Sie mir nicht glauben. Für die Europäer scheint es kein Zuhause mehr zu geben. Wir haben Ihnen die letzten Aufzeichnungen aus Europa gezeigt. Das alte Europa scheint endgültig tot zu sein - bis auf wenige Ausnahmen. Die beiden Franzosen stammen aus der Nähe von Paris, und die Bilder, die von dort durch die Medien gingen, zeigen die ganze Ausmaß des Grauens. Paris ist nicht mehr die Stadt der Liebe - sondern nur noch die Stadt der Untoten.«

»Okay«, meinte Otis nach einer Weile des Schweigens. »Aber Carruthers kann mit uns zurückkehren?«

Dimitrov nickte. »Das sagte ich bereits. Und wo ist jetzt ihr hypermoderner Vogel gelandet?« Er meinte den Tarnkappenjet, der sich kurz vor der Gefangennahme von Otis und Jessica entfernt hatte.

»Das müssen Sie die Leute an der Fernsteuerung fragen«, erwiderte Otis trocken.

»Ich verstehe«, sagte Dimitrov. »Noch etwas Wein?«

Otis und Jessica lehnten ab. Sie plauderten noch eine Weile mit dem General, dann trennten sich ihre Wege.

Als sie in ihr Quartier zurückgebracht wurden, reichte ihnen eine der Wachen eine Keycard. Offensichtlich war die Zeit, dass sie ihr Quartier nicht ohne Hilfe von außen verlassen konnten, vorbei. Otis grinste innerlich. So viel Freundlichkeit … Was, wenn er es darauf anlegte und sich auf eigene Faust einmal im Stützpunkt umsah? Er wettete mit sich selbst, dass er nicht weit kommen würde.

In der Unterkunft ließ sich Otis in einen der schweren Sessel fallen, streckte die Beine von sich und sah Jessica skeptisch an. »Das gefällt mir immer weniger, Jess. Immer weniger.«

»Mir auch nicht«, meinte sie.

»Hast du in unseren Archiven irgendeinen Hinweis auf diesen Stützpunkt gefunden? Ich meine, als wir gebrieft wurden ...«

»Nein. Da war nichts. Aber was heißt das schon ...«

Otis presste die Lippen aufeinander. »Dimitrov erwähnte nicht ohne Stolz während des Essens, dass die Tarnung des Stützpunktes neuartig sei. Cleveland und der Satellit konnten uns also gar nicht warnen.«

Jessica zuckte die Achseln. »Und selbst wenn wir gewarnt gewesen wären ... Was dann? Einen Konflikt mit Kasachstan oder Russland heraufbeschwören? Den Tarnkappenjet zum Angriff verwenden? Dimitrov hat es schon klar herausgestellt. Es hätte Probleme geben können. Unsere Wissenschaftler und Militärs wollen die Besatzung - und die Kasachen auch, wobei ich denke, dass die ominösen Oligarchen dahinterstecken ...«

Otis blickte interessiert auf. »Hast du mehr über die Oligarchen herausfinden können?«

»Nein. Ich habe nur einige Gespräche aufgeschnappt. Einige Soldaten unterhielten sich, dass in den von den Oligarchen beherrschten Lebenszonen ein Leben in Saus und Braus möglich wäre, zumindest für die Begünstigten. Die alte Leier, wenn du mich fragst. Die einen stopfen sich die Bäuche voll, während die anderen darben. Aber das soll im Moment nicht unser Problem sein ...«

Otis rieb sich das Kinn. »Ja, klingt fast wie im Märchen ... Und sonst?«

»Njet ...« Jessica grinste. »Unsere Geheimdienste - oder eher der spärliche Rest davon - wissen auch nichts Genaues. Die Oligarchen halten sich im Hintergrund, von Anfang an. Man geht davon aus, dass es sich um einige der Milliardäre handelt, die in der Ära Putin zu ihrem Reichtum gekommen sind. Netzwerke, Seilschaften, das Who is who der Gesellschaft. Nicht viel anders als bei uns auch, oder?«

»Das ist alles sehr merkwürdig«, sagte Otis nach einer Weile mehr zu sich selbst.

Alles lief zu glatt, zu harmonisch. Doch irgendwo gab es einen Haken. Sie wussten nur noch nicht, wie er aussehen sollte.

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