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9 Nachbarn
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Lake Winnepesaukee / New Hampshire
»Und ihr seid sicher, dass da wieder jemand am Ufer war?«, fragte Huntington.
Leo, Candys Sohn, verdrehte die Augen. »Janet und ich spinnen doch nicht. Die hätten fast Mary-Anns Motorrad entdeckt, das konnte ich durch das Fernglas ganz genau sehen.« Die Stimme des Jungen klang empört. Janet, seine Schwester, nickte zustimmend.
»Und - haben sie möglicherweise auch euch gesehen?«, fragte Mary-Ann vorsichtig. Sie sah kurz zu Candy, die mit versteinerter Miene ihre Waffe reinigte. Es war ein Ritual, dem sie in den letzten Tagen wieder regelmäßig nachkam.
Leo verdrehte erneut die Augen. »Es ist wirklich komisch, dass Erwachsene Kinder immer für blöd halten. Wir haben uns im Gebüsch versteckt. Die Motorräder der Leute waren ja nicht zu überhören. Wir sind nicht so naiv, wie ihr immer annehmt. Wir wissen schon, was da draußen los ist ...«
Leider, dachte Candy. Leider wussten die beiden, dass die Welt, wie sie sie einmal kannten, in ihrem kurzen, jungen Leben, nicht mehr existierte.
»Gut«, sagte Huntington. »Und ihr könnt sicher sein, niemand hält euch für blöd. Das habt ihr gut gemacht. Lust zu spielen?«
Leo und Janet sahen sich kurz an, dann begannen sie zu lachen. »Ihr wollt ohne uns reden - wie so oft. Nicht wahr?«
Huntingtons Wangen röteten sich. »Treffer, Schiff versenkt, Leute.«
»Schon gut«, sagten Leo und Janet fast gleichzeitig. Leo griff nach dem Feldstecher - und schon waren sie auf dem Weg zur Tür. Candy wollte etwas einwenden, doch erneut kam ihr Leo zuvor. »Wir machen niemanden auf uns aufmerksam, aber wir passen auf. Sollte sich wieder jemand am Ufer rumschleichen, wisst ihr wenigstens Bescheid. Klaro?«
»Klaro!«, sagte Candy lächelnd. Dann waren die beiden auch schon aus der Tür.
Für Momente herrschte Schweigen. Es war Huntington, der dann den Faden wieder aufnahm. »Es macht keinen Sinn so zu tun, als würde das einfach vorbeigehen. Wir wissen nicht, wer sie sind, nicht, was sie wollen. Aber wir sollten vorsichtig sein. Und wir sollten versuchen, zu den Bewohnern der Nachbarinseln endlich in Kontakt zu treten. Im Falle des Falles müssen wir zusammenhalten.«
Candy seufzte. »Und wie? Beim letzten Mal haben sie geschossen. Zwar weit daneben, aber die Warnung war unmissverständlich. Die wollen ihre Ruhe.«
Huntington zögerte mit der Antwort. »Ich habe da eine Idee, aber wahrscheinlich bringst du mich eher um, als dass du zustimmen wirst ...« Er sah Candy tief in die Augen.
»Schieß los ...«
Huntington räusperte sich. »Gib mir die Kinder mit. Ich fahre mit dem Boot in die Nähe der Nachbarinsel. Weiße Fahne. Zwei Kinder. Unbewaffnet. Wir müssen signalisieren, dass wir reden wollen - und müssen.«
Candy wollte aufbegehren, doch Mary-Ann legte ihr sanft eine Hand auf den Arm. »Hör einfach zu, was er zu sagen hat. Edward würde die Kinder niemals in Gefahr bringen, das weißt du ganz genau, Candy.«
»Wäre eine Möglichkeit«, meinte Joshua. »Dieses Einigeln der Insulaner bringt auf Dauer nur eines, nämlich nichts.«
Candy presste die Lippen aufeinander, dass sie wie ein Strich erschienen. »Meine Kinder in der Schusslinie ...«
Huntingtons Blick wurde hart. »Ich würde die Kinder nie bewusst in Gefahr bringen, Candy, das weißt du. Aber - die Menschen auf den Inseln haben Angst. Sie sind misstrauisch. Ich bin der Älteste von uns. Lass es mich versuchen. Die Kinder und ich - ohne Waffen. Wir geben zu erkennen, dass wir in friedlicher Absicht kommen.«
»Und wenn wieder geschossen wird?«, fragte Candy.
»Dann kehre ich um.«
Einige Minuten vergingen, als die Haustür aufgerissen wurde.
Leo und Janet wirkten verstört. Ohne ein Wort zu sagen, nahmen sie neben ihrer Mutter Platz. Leo stellte das Fernglas auf den Tisch. Sein Gesicht war weiß wie eine Wand.
Die anderen spürten, dass etwas nicht stimmte, doch keiner wollte die beiden drängen. Es war Janet, die nach einer Weile zu reden anfing.
»Die ... die Leute haben einen Mann getötet. Es war ganz furchtbar. Sie haben einem Mann die Kehle durchgeschnitten.« Sie brach ab und schlang plötzlich die Arme um ihre Mutter.
Leo sah starr geradeaus. »Es sah so aus, als befragten die Leute den Mann über die Inseln. Einer der Maskierten zeigte immer in Richtung unserer Insel und dann auf die anderen, die weiter entfernten.«
Betroffenes Schweigen machte sich breit.
»Wenn wir halbwegs sicher sein können, dass die Fremden sich nicht mehr am Ufer aufhalten, fahre ich mit dem Boot rüber! Uns läuft die Zeit davon«, sagte Huntington mit rauer Stimme. »Das Herumsitzen hier bringt uns nicht weiter. Wir hätten schon längst etwas unternehmen sollen.«
Candy schluckte, erwiderte aber nichts.
Leo und Janet schienen sich wieder gefangen zu haben.
Huntington beugte sich etwas nach vorne. »Leo, Janet - seid ihr bereit, mit mir im Boot zur Nachbarinsel zu fahren? Wir müssen endlich mit den Leuten auf den anderen Inseln Kontakt aufnehmen.«
Beide Kinder nickten, erst dann sahen sie zu ihrer Mutter.
Joshua hatte sich erhoben.
»Was hast du vor?«, fragte Mary-Ann.
»Neue Pfeile für die Armbrust anspitzen. Und ihr solltet das auch tun.«
Es gab in der Hütte zwar nur wenige Waffen und Munition, dafür hatte sich Mary-Ann vor Jahren eine Sportausrüstung an Armbrüsten und Sportbögen gegönnt. Mit dem Langbogen konnte sie sehr gut umgehen, und mit der Armbrust könnte sie mittlerweile an einer Meisterschaft teilnehmen. Holz gab es auf der Insel genug. Aber was war, wenn die Fremden schwereres Kaliber einsetzen würden? Nur die Zukunft würde es zeigen.
Wer waren die Fremden am Ufer? Hatten sie einen Mann getötet - oder war es nur ein Untoter gewesen, den sie ausgeschaltet hatten. Leo und Janet waren sich später nicht mehr so sicher gewesen, was sie da beobachtet hatten - und Huntington hatte nicht weiter in die Seelen der Kinder eindringen wollen.