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11 Nahe Nachbarn
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Lake Winnepesaukee / New Hampshire
»Wenn den Kleinen was passiert, bist du tot«, sagte Candy. Sie sah Huntington fest in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand und hob beschwichtigend die Hände.
»Beim ersten Schuss kehren wir um«, sagte er mit fester Stimme. Janet und Leo standen neben ihm und sahen ihre Mutter an. Für ihr Alter wirkten sie sehr abgeklärt und ruhig. Vielleicht zu ruhig.
Joshua und Mary-Ann warfen sich einen schnellen Blick zu. Candys Aussage war keine leere Drohung gewesen. Sollten die beiden Kleinen auch nur den kleinsten Kratzer abgekommen, kämen auf Huntington schwere Zeiten zu. Joshua und Mary-Ann traten mit Candy ans Boot. Leo und Janet hatten bereits Platz genommen, während Edward Huntington noch etwas mit dem Gleichgewicht kämpfte. Er lächelte verlegen, als er fast die Balance verlor und Joshua ihn auffangen musste. Dann endlich saß auch der schlaksige Psychiater im Boot. Huntington würde darauf verzichten, den Außenbordmotor zu verwenden. Es schien zwar so, dass sich keiner der Fremden am Ufer aufhielt, doch man wollte keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Huntington würde bis zur Nachbarinsel rudern.
Langsam entfernte sich das Boot, dem Candy, Mary-Ann und Joshua schweigend hinterher sahen. Joshua spähte mit dem Feldstecher zur Nachbarinsel, wo sich, versteckt hinter einigen hohen Tannen, eine Nobelblockhütte verbarg. Mary-Ann hatte in der Vergangenheit, als die Welt noch in Ordnung war, einmal dorthin übergesetzt und sich umgesehen. Das Domizil war noch größer als ihr eigenes. Noch regte sich dort nichts und niemand.
Die Kinder blickten in Fahrtrichtung. Janet hielt eine weiße Fahne, die im Wind flatterte, Leo balancierte einen großen Karton auf den Knien, auf dem in großen Lettern Reden, Frieden, Freund geschrieben stand. Huntington stöhnte. Er absolvierte mittlerweile zwar regelmäßig ein Fitnessprogramm, doch rudern gehörte nicht zu seinen bevorzugten Übungen. Die Schultern taten ihm weh, doch er ignorierte den Schmerz. Etwas half ihm das ganze Adrenalin, das durch seinen Körper strömte. Er war nervös, obwohl er es nicht zeigte. Das Ufer war noch geschätzte fünfzig Meter entfernt, als ein Mann aus dem Gebüsch trat. Kurz darauf erschien an seiner Seite ein Kind.
Huntington keuchte. Insgeheim erwartete er einen Schuss vor den Bug. Damit wäre die Aktion zu Ende. Er hatte Candy versprochen, in diesem Fall sofort umzukehren. Janet und Leo begannen zu winken. Janet schwenkte die weiße Fahne und Leo hielt den Karton mit der Nachricht in die Höhe.
»Passt auf, dass ihr nicht ins Wasser fallt!«, presste Huntington zwischen den Lippen hervor. Sein Atem ging rasselnd. Jeder einzelne Knochen schien ihm wehzutun.
Der Mann und das Kind am Ufer warteten ab. Huntington registrierte befriedigt, dass der Mann die Waffe gesenkt hielt. Das Kind, es war ein Junge, wie jetzt zu erkennen war, winkte zum Boot und schwenkte dann die Arme. Offensichtlich freute er sich, auf andere Kinder zu stoßen.
Janet schwenkte begeistert die Fahne und wäre fast ins Wasser gefallen, wenn Leo sie nicht im letzten Moment festgehalten hätte.
Huntington spürte, wie ihm die Kräfte schwanden. Seine Muskeln brannten wie Feuer, jeder Atemzug tat weh. Endlich hatten sie das Ufer erreicht.
»Bleibt noch im Boot«, keuchte Huntington, als Janet und Leo ins seichte Wasser springen wollten.
Der Mann und der Junge kamen auf sie zu.
Huntington lächelte und sah dem Mann ins Gesicht. Durchtrainiert, wachsamer Blick, aber keine Feindseligkeit ... Er registrierte das Misstrauen in den Augen seines Gegenübers, dann jedoch reichte der Mann Huntington die Hand und half ihm, aus dem Boot zu steigen. Das war für Janet und Leo das Signal, zu dem Jungen zu laufen. Er hatte in einigem Abstand gewartet, offensichtlich auf Anweisung seines Vaters. Die drei Kinder kamen schnell ins Gespräch. Sie schienen sich zu mögen.
Huntington krümmte sich und beugte sich nach vorne. Für einen Moment war ihm die Luft weggeblieben. Er hatte weiche Knie. Erst jetzt bemerkte er, wie ausgepumpt er sich fühlte. Er hatte sich völlig verausgabt.
Als er wieder zu Atem kam und sich aufrichten konnte, sagte er zu dem Mann: »Wir müssen reden.«
Der Mann nickte. Er wirkte sehr nachdenklich. »Die Fremden ...«
Huntington blickte ernst. »Ja.« Offensichtlich hatte nicht nur ihre Gruppe die Anwesenheit der anderen am Ufer mitbekommen. Ein Anfang war gemacht.