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5 Zuhause
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Gut Hohefeld
Charlotte sah zurück zu dem einst stolzen Herrenhaus. Sie hatte gewusst, dass ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes große finanzielle Probleme gehabt hatte. Die Geschäfte des ehrenwerten Hubertus von Hohefeld waren wohl doch nicht so ehrenwert gewesen. Etliche Gläubiger hatten die Hand aufgehalten - und vom ehemaligen Reichtum war wenig geblieben, fast nichts.
Charlotte stand neben der alten Eiche, mit der sie einige der schönsten Kindheitserinnerungen verband. Wehmütig erinnerte sie sich an Szenen von damals, als die Welt groß und weit erschien. Als es eine Zukunft gab, so prächtig und strahlend, dass kein Schatten sich darin verlieren könnte. Die Szenen in ihrem Inneren wechselten. Sie stand wieder bei der Eiche ganz in der Nähe von Chesterville, dort, wo ihr Studienkollege und Freund Peter beerdigt worden war. Peter und sie hatten Seamus Abigail überlebt, sie hatten die Untoten überlebt - und doch war nur sie übrig geblieben. Ihre Freunde waren tot. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war - und das war Charlotte meistens - vermisste sie lediglich Peter. Sonja Salzmann, das dralle reiche Mädchen mit zu viel Speck auf den Hüften, und Roland, der Gernegroß, verblassten langsam in ihrer Erinnerung. Zu viele Jahre der Entfremdung waren ins Land gegangen. Und das hatte auch die gemeinsame Trekkingtour im Mark-Twain-Nationalpark nicht ändern können. Sie waren einander fremd geworden, hatten sich nichts mehr zu sagen gehabt. Im Gegenteil - die Trekkingtour hatte ihnen allen glasklar vor Augen geführt, dass es mit der alten Verbundenheit vorbei war. Sie waren Menschen, die eine gemeinsame Vergangenheit hatten - aber bestimmt keine gemeinsame Zukunft. Bis auf Peter ... Mit ihm hätte Charlotte gerne Kontakt gehalten. Ihn vermisste sie immer noch. Peter, der Tunichtgut, der heute kam, aber nur vielleicht - oder auch nicht. Tot, gebissen von einem Zombiekind - so kurz vor der Rückkehr nach Deutschland ...
Vergiss es, sagte sich Charlotte. Roland und Sonja sind tot. Und auch Peter. Nichts würde sie mehr zurückbringen. Es war nicht gut, zu sehr und zu viel an die vergangenen Wochen zu denken. Zu vieles hatte sich ereignet.
Sie schloss die Augen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Es war ein wunderschöner Herbst in Deutschland. Erst wenige Blätter hatten sich verfärbt. In der Ferne lag der Idarkopf als höchste Erhebung im Glast. Die Szenerie wirkte friedlich, fast pittoresk, doch das täuschte. Untote trieben sich in den Wäldern herum, verfingen sich im Geäst und grunzten sinnlos vor sich hin. Trotzdem stellten sie keine unmittelbare Gefahr dar. Die Untoten waren nach wie vor langsam. Da war keine Evolution. Sie faulten vor sich hin, wanderten ziellos umher, auf der Suche nach Opfern, die sie fressen konnten. Wer nicht gerade fußkrank war, konnte sich ohne größere Probleme in Sicherheit bringen oder einem der Viecher den Garaus machen.
Nein, dachte Charlotte. Trotzdem war es hier auf dem Hunsrück nicht sicher. Die Lebensmittelversorgung durch die Drohnen war unzuverlässig. Frankfurt hatte seine eigenen Probleme. Die Marodeure aus der zerfallenen City - oder wusste der Teufel, wo sie herkamen - griffen immer öfter und brutaler an. Charlotte ahnte mehr, als dass sie es wusste: Festung Frankfurt ging ihrem Niedergang entgegen, auch wenn die Offiziellen das wohl selbst nicht glauben wollten. Die Ordnung war in Gefahr, weil diese Welt der Untoten nur noch eine Ordnung kannte - und ein Gesetz: das Gesetz und Recht des Stärkeren ...
Und da waren noch die umliegenden Dörfer. Charlotte wusste, dass in den Regionen Hunsrück, Eifel, Westerwald und Taunus sich etliche Lebenszonen gebildet hatten, wo viele Menschen in relativer Sicherheit leben könnten. Doch die Betonung lag auf dem Konjunktiv. Die politische Stimmung war in den letzten Jahren offenbar gekippt. Deutschland war sehr viel stärker an den rechten Rand gerückt, als Charlotte es jemals für möglich gehalten hätte. In den Dörfern herrschte eine Struktur, die sehr stark an die braune deutsche Vergangenheit erinnerte. Es gab wieder Gauleiter - und auch Sicherheitsdienste. Und es gab Ortsvorsteher, die nur zu gerne mehr Einfluss gewinnen wollten.
Gut Hohefeld war ein begehrtes Angriffsziel, das wusste Charlotte nur zu gut. Die Felder waren bestellt, die Ernte würde über den nächsten Winter hinweg helfen. Alles hätte gut sein können. Doch die umliegenden Dörfer verlangten ihren Tribut. Am Wochenende würde erneut eine Abordnung der Ortsvorsteher auf dem Gut erscheinen, um die Beziehungen zwischen den Gemeinden und Gut Hohefeld neu auszuhandeln. Noch war es nur sporadisch zu Übergriffen gekommen, doch Charlotte hatte die Gier im Blick einiger der Männer und Frauen gesehen. Angesichts der Katastrophe schien Gut Hohefeld fast wie das Paradies. Die Umzäunung hielt, auf den Feldern und in den Beeten und Gewächshäusern reifte eine reiche Ernte heran, die ein sorgloses Leben garantieren konnte. Trotzdem. Irgendwann würde der Konflikt offen ausbrechen. Und was dann?
»Mord und Totschlag«, flüsterte Charlotte. Ihr war nicht bewusst, dass sie laut gesprochen hatte.
»Was? Das Wiegenlied vom Totschlag?«, fragte eine glucksende Stimme.
Charlotte zuckte zusammen. Sie war nicht besonders ängstlich, nie gewesen, doch sie konnte es nicht ausstehen, wenn sich jemand so einfach an sie heranschlich.
Erwin Müller, den sie in der Festung Frankfurt kennengelernt hatte, war neben sie getreten. Er gab ihr einen kurzen Ruck mit dem Ellbogen und grinste, was das Zeug hielt.
»Du sollst dich nicht immer so heranschleichen!«, fuhr sie ihn an, winkte dann aber ab. Er meinte es ja nicht böse. Und offengestanden war sie dankbar dafür, dass Erwin mit ihr auf den Hunsrück gekommen war. Als sie in Frankfurt angekommen war, hatte sie sich doch etwas einsam gefühlt, insbesondere, da sie Joshua und die anderen vermisst hatte. Zudem hatte man sie gemieden. Es lag an ihrem Aussehen, sie wusste es. Sie drängte die Gedanken zurück. Damals, nach den ganzen Operationen, der Chemo, den Bestrahlungen und dem ganzen anderen Mist, hatte sie Schlussmachen wollen. Der erste Blick in den Spiegel. Der Schrei. Das war nicht sie! Das war ein Monster! Heiße Tränen, und dann der kalte Blick von Sam, dem sie gleichgültig war. »Am besten bleibst du im Haus, sonst erschreckst du die Nachbarn«, hatte er gesagt. Und noch einige andere hässliche Dinge. Sie hatte geschwiegen, gelitten und sich verkrochen. Sie schüttelte unwirsch den Kopf. Sie wollte diese Gedanken nicht. Nie mehr.
»Böse Ahnungen?«, redete Erwin weiter. Er schloss kurz die Augen und ließ sich die wärmenden Sonnenstrahlen aufs Gesicht scheinen.
Charlotte nickte. »Die Gauleiter der Nachbardörfer wollen das Gut. Und ich weiß nicht, wie wir es halten können, wenn sie uns angreifen. Sie sind uns überlegen. Von der Zahl her - und vor allem in ihrer Bereitschaft, über Leichen zu gehen.«
Erwin öffnete die Augen, wandte sich ihr zu und runzelte die Stirn. »So schwach sind wir auch wieder nicht. Wir haben hier gute Leute, die das Gut verteidigen werden. Wir sind ja bereit zu teilen, oder etwa nicht?«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Da wollen einige nicht teilen, die wollen alles, Erwin. Ich hab´s im Blick von denen gesehen. Und mir gefällt vor allem nicht dieses alberne Nazigehabe, das viele hier an den Tag legen.«
Erwin legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Charlotte, alles zu seiner Zeit. Halte mich nicht für so naiv! Wir bilden die Jugendlichen aus und trainieren jeden Tag. Die Zäune halten. Das Gut liegt günstig. Niemand nähert sich ungesehen ...«
Charlotte ließ den Blick über das weite Land schweifen. Alles wirkte so friedlich und ruhig. Ein sanfter Wind war aufgekommen, der mehr an Sommer als an Herbst erinnerte. Für einen Moment glaubte sie, das Grunzen von Untoten gehört zu haben, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Es spielte keine Rolle. Die Wachmannschaften patrouillierten permanent - und die Untoten waren langsam, träge und unflexibel.
»Ich schaue mal, ob ich den ausgefallenen Generator wieder zum Laufen bringe. Wenn ja, klicke ich mich kurz durch die Reste des Internets. Vielleicht bekomme ich über den Kurzwellenempfänger auch wieder die Festung rein. Ich spiele da gerne Mäuschen, falls die Marodeure doch wieder eine Attacke starten. Ich hab´s im Urin, da kommt was.« Erwin wippte auf den Fersen vor und zurück. Wieder wirkte er so harmlos, fast naiv, kindlich.
»Mach mal, Erwin«, sagte Charlotte lächelnd. Der untersetzte Mann mit dem Mondgesicht und der Frohnatur entfernte sich von ihr.
Sie musste grinsen, wenn sie an den Tag dachte, als sie bei der Dame von der Drohnenleitstelle vorstellig wurde und darum bat, mit einer der Drohnen auf den Hunsrück mitfliegen zu dürfen. Die Frau hatte sie angeglotzt, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank. Die Idee war Charlotte spontan gekommen, vielleicht war es auch eine Eingebung gewesen. Die neuen Lastdrohnen nahmen bei Bedarf auch Personal mit. Bis zu vier Personen konnten so transportiert werden. Charlotte hatte aus verschiedenen Gesprächen mitgehört, dass die Festung bis über den Rand gefüllt war und bald keine neuen Überlebenden mehr aufnehmen konnte. Da lag es auf der Hand, dass man ihrem Wunsch entsprechen würde. Immerhin bedeutete ihr Fortgehen, dass es einen Esser weniger gab, der in der Festung durchgefüttert werden musste. Und dann war noch Erwin dazugekommen. In den ersten Tagen war sich Charlotte nicht sicher gewesen, was sie von der Frohnatur mit dem Mondgesicht halten sollte. Er redete zu viel, war zu vergnügt und dann wieder überängstlich, wenn es um die Marodeure ging. Aus den Gesprächen hatte sie erfahren, dass er in einem der Nachbardörfer von Gut Hohefeld gelebt hatte. Er war auf dem Hunsrück geboren, war Klempner gewesen und hatte eine ziemlich unglückliche Ehe mit einer sehr widerwärtigen Frau und einer noch ekelhafteren Schwiegermutter überlebt. Doch Erwin Müller war lange nicht so naiv und trottelig, wie er auf den ersten Blick erscheinen mochte. Das hatte Charlotte sehr schnell herausgefunden. Erwin war ein Tüftler, der fast jedes beschädigte technische Gerät wieder auf Vordermann bringen konnte. Vor allem aber war er eine ehrliche Haut und ein liebenswerter Mensch.
Charlotte legte sich die Arme um den Leib. Der Wind hatte etwas aufgefrischt. Eine fette schwarze Wolke schob sich von Westen her über den Himmel, dann trat die Sonne wieder hervor. Charlotte reckte das Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen.
Kurz bevor sie und Erwin Frankfurt mit der Drohne verlassen hatten, war es zu einem Angriff der Marodeure gekommen. Charlotte war entsetzt, mit welcher Brutalität diese als Punks und Gruftis verkleideten Männer und Frauen vorgingen. Und wie lebensverachtend sie waren - auch was das eigene Leben anging. Und ihr Angriff hatte Erfolg gehabt, auch wenn etliche von ihnen dabei auf der Strecke geblieben waren. Sie mussten sich in der Festung auskennen. Wertvolle Medikamente waren gestohlen worden, vor allem Antibiotika und auch Entkeimer für Wasser. Offensichtlich kannten sich die Angreifer im Stützpunkt sehr gut aus, und es gab Gerüchte, dass es in der Festung Kollaborateure gab. Charlotte war froh, dass sie die Festung verlassen hatte. Auch wenn der Empfang auf Gut Hohefeld alles andere als freundlich gewesen war, zum einen, weil man sie zuerst versehentlich mal wieder für eine Zombie hielt, zum anderen, weil Neuzugänge unerwünscht waren und man sie und Erwin mit der Drohne zurückschicken wollte. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte ihre Mutter noch gelebt.
Für Charlotte war es einer der bewegendsten und zugleich seltsamsten Momente ihres bisherigen Lebens gewesen, als ihre über achtzigjährige Mutter aus der Tür trat, gestützt auf einen Stock, doch mit klarem Blick. Sie konnte zuerst nicht glauben, dass die entstellte Frau, die dort vor ihr stand, ihre Tochter sein sollte. Dann jedoch sahen sie sich in die Augen, und die alte Frau hatte geweint - und auch Charlotte. Stumm lagen sie sich in den Armen, und es war, als schließe sich die Kluft von Jahrzehnten im Hauch eines Augenblicks. Charlotte verspürte eine Nähe zu der Frau, die sie geboren hatte, wie vielleicht noch niemals zuvor in ihrem Leben. Zuhause. So fühlte es sich an: vertraut, heimelig, geborgen ...
Sie hatten lange geredet. Die ganze Nacht hindurch und dann auch in den folgenden Tagen. Dann war ihre Mutter gestorben, eines natürlichen Todes. Fast, so erschien es Charlotte noch immer, hatte ihre Mutter nur so lange durchgehalten, bis die lange verloren geglaubte Tochter zurückgekehrt war. Es war an Charlotte gewesen, ihre von den Toten zurückkehrende Mutter zu erlösen.
Charlotte hatte in ihrem Leben sehr viele Schmerzen aushalten müssen - und trotzdem nur selten geweint. Als sie ihrer Mutter den Stichel in die Schläfe trieb, um das Gehirn zu zerstören, waren ihr die Tränen heiß über die Wangen gelaufen, doch sie hatte sich nicht dafür geschämt. Ihre Mutter lag jetzt unter der alten Eiche - und nicht in der Familiengruft, wo ihr Mann lag. Die ehrwürdige Eiche, mit dem Blick ins weite Land, war auch einer der Lieblingsplätze ihrer Mutter gewesen.
Erinnerungen, Bilder von damals: die Sommerparty, als Charlotte partout das schreckliche Kleid nicht hatte anziehen wollen, auf das ihre Mutter bestand, dann die große Feier zum Abitur. Tage in der Sonne, mit einem Duft, wie ihn nur der späte Sommer kennt, nur hier, auf dem Gut. Aber auch Tage mit Regen und Sturm. Der Herbst, dem bald der eisige Winter folgen sollte. All das war Gut Hohefeld.
Charlotte seufzte. Es war ihr vergönnt gewesen, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen; mit ihrer Schwester war das leider nicht möglich gewesen. Sie war eines der ersten Opfer gewesen, kurz nach Ausbruch der Katastrophe. Ihr entgegenkommendes Wesen war ihr zum Verhängnis geworden, ihre hilfsbereite Art und ihr liebenswürdiges Naturell. Sie hatte die ersten Infizierten gepflegt und war selbst gebissen worden, ganz zu Anfang, als das Grauen über den Hunsrück fegte, als es begann - das Nicht-mehr-sterben-Können ...
Charlotte wischte die Gedanken beiseite. Es war alles zu rührselig, zu sentimental. Sie mochte sich so nicht. Sie lächelte versonnen und musste an ihre Ankunft mit der Drohne denken. Erwin hatten sie zuerst auch nicht hier haben wollen, aber als es ihm dann jedoch gelang, den ausgefallenen Generator wieder zum Leben zu erwecken, hatte sich das Blatt schnell gewendet. Mittlerweile galten sie beide als Schlüsselfiguren auf dem Gut. Charlotte, weil sie eine sehr viel stärkere Persönlichkeit war, als sie sich selbst eingestand - und Erwin, weil viele wohl intuitiv ahnten, dass in dem Mann sehr viel mehr steckte, als seine unscheinbare äußere Erscheinung ahnen ließ.
Ein frischer Wind kam auf. Charlotte fröstelte und stellte den Kragen höher. Das Jäckchen war sehr dünn. Bald kam der Herbst, vielleicht zu bald.
»Marodeure, Gauleiter, machtgierige Ortsvorsteher, intrigante Weiber ...«, murmelte Charlotte vor sich hin. Nein, es sah nicht rosig aus, was die Zukunft anging. Man konnte sich belügen und die Augen vor der Realität verschließen, doch es nutzte alles nichts. Die umliegenden Dörfer würden nicht friedlich kooperieren. Da waren Machtstrukturen am Werk, gegen die sie nichts würde ausrichten können. Seilschaften, Interessengruppen, Machthungrige - nichts Neues unter der Sonne und vielleicht so alt wie der Mensch. Bis jetzt waren es vielleicht nur Einzelne, doch es würden mehr werden. Und sie hatten eine Anhängerschaft, die stetig wuchs: die Unzufriedenen, die Hungernden, aber auch die Gierigen und die Opportunisten. Es würde Krieg geben - den entscheidenden Krieg um das Gut und seine reichen Äcker und Felder. Vielleicht, weil es immer schon so war und immer so sein würde. Kein Frieden in dieser Zeit ...
»Charlotte!« Erwin war aus dem Anbau gekommen, in dem allerlei technisches Gerümpel darauf wartete, wieder instand gesetzt zu werden.
Sie drehte sich um, froh darüber, aus ihren trübsinnigen Gedanken gerissen zu werden, doch Erwins Gesicht wirkte ernst. Er, der sonst fast immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte, wirkte gerade so, als würde die Welt morgen endgültig untergehen. Sein Blick sprach Bände:Gefahr war im Verzug, Unheil nahte ...
»Die Festung sendet eine permanente Warnung. Wie es scheint, kontrollieren die Marodeure mittlerweile den Stützpunkt. Es heißt, dass ein Großteil des militärischen Personals exekutiert wurde. Es gibt Bilder im Netz. Man hat sie teilweise aufgehängt und ihnen die Kehle durchgeschnitten. Und es gibt eine zusätzliche Warnung, dass die Marodeure Spähtrupps aussenden werden oder bereits haben. Wie es scheint, werden die Datenbänke abgegrast - wen hat die Festung versorgt - und wer hat im Gegenzug Frankfurt beliefert ...« Erwin presste die Lippen aufeinander, dass sie wie ein schmaler Strich erschienen.
»Das Gut hat Frankfurt versorgt. Wir haben Obst und Gemüse geliefert, im Austausch gegen Medikamente, Diesel und anderes ...«, sagte Charlotte mit spröder Stimme. Sie wusste genau, was Erwin meinte.
Er nickte. »Und das heißt ...«
»Dass nicht nur die bekloppten Gauleiter der umliegenden Dörfer zum Problem werden, sondern dass über kurz oder lang die Marodeure hier vor der Tür stehen werden.«
»Und das heißt Krieg«, sagte Erwin leise nach einer Weile des Schweigens.
Charlotte verzog die Lippen. »Das heißt Tod, Folter und Vergewaltigung. Wozu brauchen die Marodeure uns? Sie lassen ihre Leute hier, bestellen die Äcker und schlachten uns ab. Oder sie versklaven uns. Wenn an den Schauergeschichten, die du mir erzählt hast, etwas dran ist, gehen wir sehr düsteren Zeiten entgegen.«
Eine Wolke hatte sich erneut vor die Sonne geschoben. Es frischte auf.
»Was sollen wir machen?«, fragte Erwin. »Ich war nie der große Kämpfer.« Der Optimismus, der ihn noch vor Kurzem erfüllt hatte, schien wie weggeblasen. Die Wachen an den Zäunen mochten mit den Untoten zurande kommen, die durch die Wälder schlichen. Aber sie waren keine ausgebildeten Kämpfer. Widerstand konnte darüber hinaus tödlich sein. Charlotte konnte sich gut vorstellen, dass die Marodeure jeden, der eine Waffe trug, sofort eliminierten.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Ein Mann kam auf sie zu. Es war Harald, der früher Pilot gewesen war. Er war auf Flughafen Frankfurt Hahn eingesetzt worden, der nicht allzu weit vom Gut entfernt war. Er wirkte sehr ernst.
»Ich habe da eine Meldung aufgefangen, die das Schlimmste befürchten lässt«, sagte er, als er Charlotte und Erwin erreicht hatte. »Die anderen wissen noch nichts davon, und ich weiß nicht, ob es klug ist, sie bereits jetzt zu informieren.« Er stutzte. »Ihr wisst es schon?«
»Die Marodeure«, sagte Charlotte.
Harald sah ihr in die Augen. »Wir sollten uns nichts vormachen. Das Gut ist verloren. Wir müssen hier weg.«
Charlotte schürzte die Lippen. Ihr Tonfall wirkte ätzend, als sie sagte: « Ach ja, und wo fliegen wir hin? Nach Teneriffa oder so ...«
Harald winkte ab. »Wenn wir erst ein Flugzeug hätten, können wir uns immer noch entscheiden.«
»Du glaubst also wirklich, dass wir auf dem Hahn eine der Maschinen flottmachen können?«, fragte Erwin nachdenklich. Harald hatte auf den Versammlungen mehr als einmal darauf hingewiesen, dass man sich auf dem verlassenen Flughafen noch einmal umsehen sollte. Einige Spättrupps waren ausgeschickt worden. Auf dem Flughafen hielten sich nur wenige Überlebende auf. Die Lager und Vorratsdepots waren längst geplündert. Wenigstens hatten sich die Überlebenden friedlich verhalten. Die abgestellten Maschinen sahen unversehrt aus, doch da man nicht wusste, wie es dort draußen in der Welt aussah, hatte man den Vorschlag von Harald vorerst auf Eis gelegt. Was nutzte es, mit einem Flugzeug zu starten, wo der Zustand der Flughäfen größtenteils unbekannt war. Schlimmstenfalls waren die Landebahnen blockiert und man kam nicht mehr heil auf den Boden. Es hatte, weiß Gott, näherliegende Probleme gegeben. Doch die Zeiten hatten sich geändert.
»Ich denke, wir sollten einen Ausflug zum Hahn machen«, sagte Charlotte plötzlich. »Und das so bald wie möglich.«
»Sag ich doch die ganze Zeit«, meinte Harald.
»Ich bin auch dabei«, meldete sich Erwin zu Wort, der übergangslos wieder tatkräftiger und optimistischer wirkte.
»Morgen, wir nehmen den Jeep meiner Mutter«, sagte Charlotte. »Und Harald - und auch du Erwin - sagt den anderen noch nichts von den Marodeuren. Ich will nicht, dass hier eine Panik ausbricht. Die Leute werden früh genug erfahren, wie tief wir in der Scheiße stecken. Und trennt vorerst die Internetleitungen und schaltet den Kurzwellenempfänger aus ...«
Harald und Erwin nickten nur. Erneut hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Charlotte fröstelte etwas, doch sie glaubte nicht, dass es an der Wolke lag, die die Sonne verdeckte. Es war wohl eher die ungewisse Zukunft, der sie entgegengingen, die sie schaudern ließ. Das Gut und die friedliche Ordnung hier waren eine Illusion, eine Seifenblase, die sehr bald zerplatzen würde. Bleiben würden Blut, Trauer und Tränen, die das Leben hier beherrschen würden, das war es, was die Zukunft brachte. Und davon hatte Charlotte mehr als genug. Es musste einen Ausweg geben. Irgendwie ...