Читать книгу Tempus Z - Jo Caminos - Страница 5
1 Rückkehr
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Festung Frankfurt
Charlotte Jones fluchte wie ein Rohrspatz, als die Wachhabenden auf Frankfurt Festung sie in Gewahrsam nahmen und in einen Sicherheitstrakt des gesicherten Stützpunktes überführen wollten. Streng genommen konnte sie den Männern und Frauen für ihr Verhalten keinen Vorwurf machen, auch wenn sie es doch etwas seltsam fand, dass weder die Crew der Transall noch die Leute des Stützpunktes in den USA die Leute in Frankfurt über den einzigen Passagier an Bord informiert hatten, zumindest über sein etwas seltsames Aussehen. Und in diesen Zeiten konnte das Aussehen unter ungünstigen Umständen über Leben und Tod entscheiden. Charlotte Jones sah verlebt aus, mehr noch: Sie wirkte ausgezehrt, krank. Und unter ungünstigen Lichtbedingungen war sie einer Untoten nicht unähnlich. Eine schwere Krebserkrankung hatte Charlotte gezeichnet. Mit aller Kraft hatte sie sich gegen die Krankheit gestemmt und sie bekämpft - und schließlich besiegt. Es war wohl die Abscheu vor ihrem Mann gewesen, die sie nicht hatte aufgeben lassen. Sam sollte sehen, dass auch sie kämpfen konnte, auch wenn sie sonst vor ihm kuschte, sich fügte und unterordnete. Vorbei. Sam war tot, erlöst von ihr, seiner Frau. Er war zu einem Untoten geworden und hatte sie angegriffen. Aber sie war es, die im Ende dominiert hatte - einmal im Leben. Damals hatte sie es bedauert, dass es so schnell gegangen war. Sam hatte leiden sollen, lange, sehr lange.
Charlotte Jones war ein kleines Persönchen von etwas über einem Meter fünfzig, mit einem verhärmt wirkenden Gesicht, in das sich tiefe Linien eingegraben hatten. Doch das waren Äußerlichkeiten. Sie war fit wie lange nicht mehr in ihrem Leben. Auf Whitehawk Air Force Base, wo sie zusammen mit ihren Studienkollegen und dem neu gewonnen Freund Joshua Cunningham, einem Journalisten, Zuflucht gefunden hatten - und vor allem die Zeit in Chesterville, wo sie den Irren und Wirrungen des selbst ernannten Senators Seamus Abigail ausgeliefert waren, hatten sie veranlasst, wieder an sich zu arbeiten. Die Trainingseinheiten auf der Hantelbank und die täglichen Übungen in Selbstverteidigung zeigten bald ihren Erfolg. Aber das alles zählte nicht mehr, als sie die Maschine in Frankfurt verließ. Es zählte alleine ihr Aussehen - und da konnte man sie in Zeiten der Untotenkrise durchaus für eine Untote halten. Zumindest so lange, bis Charlottes Lebensgeister erwachten und sie zu einer Schimpfkanonade ansetzte.
»Hören Sie endlich auf herumzumeckern!«, herrschte sie eine der Wachen an. Der Mann war noch sehr jung, wohl erst Mitte zwanzig, trotzdem hatten sich um seine Mundwinkel tiefe Furchen eingegraben. Sein Blick aus wasserblauen Augen war hart.
Charlotte wollte ihn angiften, besann sich dann aber eines Besseren. Es machte keinen Sinn. Die Leute taten nur ihre Pflicht, und angesichts dessen, dass schon ein einzelner Untoter in der Festung Frankfurt zur Katastrophe führen konnte, war es mehr als wünschenswert, jedem Verdächtigen auf den Zahn zu fühlen.
Die Wachen führten Charlotte durch diffuse Korridore immer tiefer ins Labyrinth der Festung Frankfurt Flughafen. Sie war in ihrem Leben nicht oft nach Deutschland zurückgekehrt, doch als die Transall zur Landung ansetzte, war ihr klar geworden, dass von dem »alten« Frankfurt nicht viel übrig geblieben war. Die Türme des Bankenviertels ragten wie ausgebrannte Warnzeichen in die Höhe: Türme aus Glas und Stahl, in die die Schicksalstage, als die Toten sich aus den Gräbern erhoben, tiefe Brandwunden geschlagen hatten. Der Flughafen selbst war auch nicht wiederzuerkennen. Überall gab es Stacheldraht, Wachhabende patrouillierten, dazu Panzer und anderes militärisches Gefährt auf den Rollbahnen. Vor allem die Flammenwerferpanzer fielen ins Auge. Das Equipment sah zusammengeschustert aus, so, als hätte man aus der Not eine Tugend gemacht und irgendwie alles Verfügbare neu zusammengesetzt.
Es war ein verregneter Tag gewesen, als die Maschine nach einem ereignislosen Flug in Frankfurt landete. Charlotte hatte während des Fluges nur selten aus dem Fenster geblickt, sie wusste, was dort unten auf sie wartete: eine Welt, in der die Untoten unterwegs waren, um die Lebenden zu jagen und zu fressen. Mehr als einmal waren ihr Zweifel gekommen, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Immer wieder sagte sie sich, es wäre Blödsinn, nach Deutschland zurückzukehren. Ihre Mutter war bestimmt längst tot, genauso ihre Schwester. Aber Charlotte hatte sich nun einmal für Deutschland entschieden. Nun war sie hier.
Die Soldaten brachten sie in einen spartanisch eingerichteten Raum: drei unbequem aussehende Liegen, einige Stühle aus Stahlrohr, zwei Tische mit weißer Resopalplatte. Es roch nach Desinfektionsmitteln und nach abgestandener, mehrfach umgewälzter Luft. Und es stank, nach Schweiß, nach Blut, nach Urin und Kot; vielleicht sogar nach Tod. Die Soldaten forderten sie auf, in dem Raum zu warten.
»Wie lange?«, fragte Charlotte.
»Bis ein Arzt Zeit hat. Wir hatten vorgestern erneut einen Ansturm von Untoten. Das medizinische Personal ist überlastet.« Der Mann nickte ihr kurz zu, dann folgte er seinen Kameraden nach draußen.
Charlotte drehte sich einmal um die eigene Achse, dann setzte sie sich auf einen der schmalen Stühle. Bleib ruhig, sagte sie sich. Immerhin hatte sie es bis nach Deutschland geschafft. Und es gab bestimmt schlimmere Orte auf der Welt, als diesen kahlen und ungemütlichen Raum irgendwo in den Katakomben des Frankfurter Flughafens.
Sie dachte an den Anfang ihrer Odyssee zurück: die Trekking-Tour im Mark-Twain-Nationalpark, der Wunsch, der verhassten Ehe zu entfliehen und Sam endgültig zu verlassen. Dann die Katastrophe, auf die niemand vorbereitet war. Whitehawk Air Force Base ... All die vielen Menschen, die Trauer, der Schmerz - aber auch die Wut und so viel Hass. Thelma, die dicke Frau, die ihre Kinder verloren hatte. Roland, einer ihrer Studienkollegen, der in Whitehawk Air Force Base ums Leben gekommen war. Und dann Chesterville und der größenwahnsinnige Seamus Abigail. Charlotte drängte die Gedanken zurück. Ihr Freund Peter erschien vor ihrem inneren Auge. Fast schien es damals, sie hätten es geschafft, als auch er noch gebissen wurde, so kurz vor der Rückkehr nach Deutschland. Charlotte starrte zur Decke. Sie wollte nicht zynisch sein, doch selbst Peter hatte in gewissem Sinne Glück gehabt - er war erlöst worden, ein Stich ins Hirn, und er hatte sterben können, wirklich sterben. Nicht, wie so viele, die als Untote herumirrten ...
Gut Hohefeld, ihre Mutter, ihre Schwester. Charlotte fröstelte. Erst einmal musste sie irgendwie dorthin kommen. Ich schaffe das, sagte sie sich. Es muss einfach gehen ...
Drei Stunden später
Man hatte Charlotte eine Schlafstätte in einer der Notunterkünfte zur Verfügung gestellt. Sie würde nicht verhungern oder verdursten, aber niemand zeigte sich gesprächsbereit. Ein letzter großer Ansturm von Untoten war in den letzten Tagen abgewehrt worden. Wieder mal. Die Soldaten waren müde, das medizinische Personal überlastet und am Ende seiner Kräfte. Charlotte sah ausgemergelte Gesichter, in denen sie nur selten Hoffnung fand. Fast beiläufig erwähnte sie an einem der Infostände, dass sie in den Hunsrück zurückkehren wolle. Die Frau hinter dem Schalter hatte nur müde gelächelt. »Überlegen Sie sich das lieber noch einmal gut!«, hatte sie gesagt. »Da draußen ist die Hölle. Und wir können nur hoffen, dass sie noch lange da draußen bleibt, bis ...« Die Frau hatte den Satz nicht beendet. Sie seufzte kurz, überflog scheinbar interessiert irgendwelche Notizen und ignorierte Charlotte, die kurz stehen blieb, dann jedoch für sich entschied, dass es keinen Sinn machte zu drängen. Ihre Zeit würde kommen.
Charlotte hatte sich im zivilen Bereich umgesehen. Die Menschen wirkten lethargisch. In kaum einem Blick sah sie Hoffnung, lediglich einige Kinder, die in einer Halle Ball spielten, zeigten so etwas wie Optimismus oder Lebensfreude. Wer konnte es ihnen verdenken?
Charlotte war noch viel zu aufgekratzt, um sich hinzulegen. Auch im Quartier hatte es böse Stimmen gegeben, als sie hereingekommen war. Es lag an ihrem Aussehen, sie hatte nichts anderes erwartet. Wenigstens hatte sie so etwas mehr Privatsphäre, die drei anderen Betten waren leer geblieben - vorerst. Nur ein Bett schien bisher belegt zu sein, doch wer immer dort übernachtete, hielt sich momentan wohl sonst wo in der Festung auf. Sie würde ihre Ruhe haben - hoffentlich. Sie war nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Ein paar Tage, dann war sie weg. In der Festung herrschten strikte Verhaltensregeln, insbesondere, was das Verlassen des Stützpunktes anging. Niemand ging einfach so nach draußen. Sie würde sich gedulden müssen, bis sie einen entsprechenden Ansprechpartner gefunden hatte, mit dem sie über ihren Wunsch, Gut Hohefeld aufzusuchen, sprechen konnte.
Der Flughafen war im Inneren nicht mehr wiederzuerkennen. Hier mussten heftige Kämpfe stattgefunden haben. Vielleicht ganz zu Beginn der Katastrophe, als etliche Maschinen Untote auf die Rollbahn und in den Flughafen entließen. Charlotte drängte die Bilder, die in ihrem Inneren aufstiegen, zurück. Sie dachte an das Amulett, das ihr verstorbener Freund Peter ihr für seinen Sohn mitgegeben hatte. Die ehemalige Lebenspartnerin von Peter sowie der Junge sollten sich irgendwo im Stützpunkt aufhalten. Charlotte hasste es von jeher, schlechte Nachrichten zu überbringen. Wenn ihr hier schon die Hände gebunden waren, wollte sie diese leidige Angelegenheit möglichst schnell aus der Welt schaffen. Sie kannte die Lebenspartnerin von Peter nicht, trotzdem war es Charlotte unangenehm, der Frau das Amulett zu übergeben. Was sollte sie mit ihr reden? Sie war eine Fremde - und Charlotte hatte ganz gewiss anderes im Sinn, als einer Trauernden seelischen Beistand zukommen zu lassen. Sie hatte mit sich selbst mehr als genug zu tun.
Charlotte suchte erneut einen der vielen Infoterminals auf. Überall standen Menschen herum, die verzweifelt nach Angehörigen suchten. Kinder weinten, eine Frau verlor die Fassung und schrie einen Bediensteten an. Sofort näherten sich einige Männer und Frauen des Wachpersonals. Nach einer Weile war Charlotte endlich an der Reihe. Die Frau hinter dem Infoschalter wirkte völlig übermüdet, trotzdem blieb sie höflich. Peters Lebensgefährtin war schnell gefunden. Ihre Unterkunft befand sich im östlichen Teil des Flughafens. Charlotte überlegte noch einmal, ob sie zu einem späteren Zeitpunkt zu der Frau gehen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Es machte keinen Sinn, unangenehme Dinge vor sich hinzuschieben. »Bring es hinter dich«, murmelte sie vor sich hin, als sie durch die spärlich beleuchteten Korridore ging. Und danach würde sie dafür sorgen, dass sie so schnell wie möglich aus dem Stützpunkt rauskam. Hier waren viel zu viele Menschen. Zu viel Gestank, zu viel düstere Atmosphäre. Irgendetwas stimmte nicht. Charlotte hatte an verschiedenen Stellen Gespräche mitgehört, dass erneut große Herden von Untoten unterwegs waren, obwohl der letzte Angriff noch nicht lange zurücklag. Doch da war noch etwas anderes: Marodeure, Plünderer, die immer wieder in den Stützpunkt einzudringen versuchten. Charlotte hatte nicht viel mitbekommen, doch was sie herausgehört hatte, verursachte bei ihr ein mehr als ungutes Gefühl. Wie es schien, gab es in der City von Frankfurt verschiedene Gruppen, die versuchten, an Lebensmittel und Medikamente des Stützpunktes heranzukommen. Es war zu mehreren Zwischenfällen gekommen, bei dem es viele Tote gegeben hatte. Die Marodeure schienen nicht zimperlich zu sein. Vor allem aber gab es Anzeichen, dass sich einige der Gruppen zusammengeschlossen hatten. Es hieß, die Leute wären paramilitärisch organisiert und akzeptierten nicht den militärischen Oberbefehl über die Festung. Das heißt Ärger, dachte Charlotte. Sie musste an Seamus Abigail denken, den selbst ernannten Senator von Chesterville, der Imperator seines Empire of Pan America hatte werden wollen. Warum sollte es in Deutschland anders sein? Vielleicht gab es auch hier irgendeinen Großkotz, der sich zum neuen Kaiser der Welt ausrufen wollte ... Und Charlotte hatte wirklich keine Lust, erneut zwischen die Fronten zu geraten. First things first, sagte sie sich, als sie die Tür zur Massenunterkunft im Ostflügel erreicht hatte. Erneut waren einige Menschen vor ihr zurückgewichen, aber wenigstens war es zu keiner Panik gekommen. Ich hänge mir am besten ein Schild um den Hals: Bin kein Zombie, ich kann sprechen!
Charlotte grinste ironisch vor sich hin, dann ging sie nach rechts. An den Markierungstäfelchen, die überall an den Sperrholzwänden angebracht waren, konnte sie Gang und Bettengruppe ablesen. Sie war richtig. Bring es hinter dich, jetzt ...
Keine Stunde später befand sie sich auf dem Rückweg in ihre Unterkunft. Das Zusammentreffen mit Peters Lebensgefährtin war vollkommen anders verlaufen, als Charlotte es sich ausgemalt hatte. Die Frau hatte Peter schon fast vergessen. Der gemeinsame Sohn war behindert. Er litt an einer speziellen Form von Autismus und reagierte so gut wie gar nicht auf seine Umwelt. Charlotte hatte der Frau das Amulett übergeben, einige warme Worte gewechselt, dann war sie wieder gegangen. Ohne zynisch sein zu wollen, dachte Charlotte, dass Peter sich eine riesengroße Illusion konstruiert hatte: Mama und Papa und der gemeinsame Sohn; eine gemeinsame Zukunft. Charlotte war es fast so erschienen, dass die ehemalige Lebenspartnerin von Peter ihn schon lange abgehakt hatte. Auch das Leiden ihres Sohnes schien die Frau nicht wirklich zu interessieren. Denk an deine eigenen Sprösslinge und das damit verbundene Chaos!, sagte sich Charlotte, als sie ihre Unterkunft erreicht hatte. Sie war wohl die Letzte, die andere Menschen und ihre Beziehungen zu ihren Kindern verurteilen sollte. Wie hieß es nicht so schön: Kehre zuerst einmal den Dreck vor der eigenen Tür. Und genau daran hielt Charlotte sich schon lange.
»Bist du wirklich sauber?«, fragte der dicke Mann, der angezogen auf dem Nachbarbett lag. Charlotte fuhr zusammen. Ihr Mitbewohner schien zurückgekehrt zu sein. Sie war so in Gedanken gewesen und derart hundemüde, dass sie ihn beim Hereinkommen gar nicht bemerkt hatte. Einige Minuten später war sie schlauer. Er hieß Erwin und schien ein gemütlicher Zeitgenosse zu sein. Nicht unbedingt der Hellste, bestimmt nicht der Schönste, aber hoffentlich pflegeleicht.
Charlotte ließ sich ächzend auf ihrer Liege nieder und wandte ihm das Gesicht zu. »Ob ich sauber bin, hast du vorhin gefragt …« Sie überlegte kurz, dann hatte sie eine Idee. Sie nahm ihr Gebiss heraus und grinste den dicken Mann breit an. »Hascht du schon einmal einen Zschombie geschehen, der schein Gebisch herauschnehmen kann, Alder?«
Der Mann stutzte, dann begann, er brüllend zu lachen.
»Du bist mir eine Type«, sagte er glucksend.
Charlotte nickte nur. Sie setzte ihr Gebiss wieder ein, wälzte sich dann auf den Rücken und schloss die Augen. Morgen, sagte sie sich. Morgen muss ich hier raus.
Erwin schien sich unterhalten zu wollen. Er ächzte kurz und nahm eine neue Position auf der unbequemen Liege ein.
»Du, Charlotte. Ich glaube, die Marodeure werden bald wieder angreifen. Was denkst du?«
Charlotte wollte eigentlich ihre Ruhe haben, trotzdem drehte sie sich zur Seite und sah Erwin ins Gesicht. Marodeure … Sie hatte einige Gespräche mitverfolgt, und was sie mitgekriegt hatte, verursachte bei ihr eine Gänsehaut. Einmal zu oft wurde sie an Chesterville und Seamus Abigail erinnert.
Das seltsame Gefühl war wieder da, diffus, irgendwo im Hinterkopf nagend. Gefahr! Es war fast so wie ein innerer Radar. Etwas braute sich zusammen, und es war bestimmt nichts Gutes.
»Wie schlimm sind die?«, fragte sie.
»Ziemlich schlimm. Die kennen kein Pardon. Zuerst schießen, dann fragen. Die machen alles platt, was sich ihnen in den Weg stellt. Das sind Nazis, die wollen die Uhr zurückdrehen und ein neues Reich hochziehen. Einer der Anführer kommt aus dem Osten, heißt es. War ein großes Tier bei den Rechten, bevor die Welt den Bach runterging. Irgendwie hat er überlebt, als der Großraum Berlin im Chaos versank. Jetzt sieht er offenbar seine Chance gekommen, hier sein großes Ding zu drehen. Ich hab kein gutes Gefühl.«
Charlotte stöhnte unterdrückt. Es hätte sie auch gewundert: Seamus Abigail und seine Ableger. Die Welt war im Arsch, und trotzdem gab es noch genügend Idioten, die diese Welt erobern und beherrschen wollten.
»Hast du keine Angst?«, fragte Erwin.
Charlotte grinste. »Ich hab einiges hinter mir. Abgesehen davon: Ich will hier weg. Und das so schnell wie möglich.«
»Weg?«
Charlotte verdrehte die Augen. »Erwin, ich bin müde. Ja, ich will weg. Ich will auf den Hunsrück zu meiner Familie. Reden wir morgen weiter, wenn es sein muss ...«
Erwin richtete sich auf der Liege auf. Er wirkte geradezu entsetzt. »Du bist wirklich bekloppt! Auf dem Hunsrück gibt es nur noch einige wenige Lebenszonen, aber da sieht es nicht gut aus. Die militärische Führung wollte die Leutchen in die Festung umquartieren, doch die haben sich geweigert. Und da willst du hin?«
»Jaaaaa!«, erwiderte Charlotte gedehnt. »Familiensache.«
Erwin zuckte mit den Achseln. Er grinste. »Ein Gutes hat die Zombiekrise doch. Meine Frau und meine bekloppte Schwiegermutter hat es ganz am Anfang erwischt. Ich hätte nicht geglaubt, einmal im Leben so viel Glück zu haben.« Er gluckste, als hätte er einen Witz gerissen.
Charlotte schmunzelte. Tja, so hatte selbst die Zombiekrise für einige noch ein Gutes. Sie drehte sich um, untrügliches Zeichen, dass sie ihre Ruhe haben wollte. Erwin schien ein Einsehen mit ihr zu haben und schwieg.
Charlotte trieb in Gedanken ab. Joshua, Candy und Huntington, der Psychiater, die nach Lake Winnepesaukee aufgebrochen waren ... Gesichter, Stimmen, Erinnerungen. Dann sah sie vor ihrem inneren Auge das Gesicht eines Mannes. Es war kein hübsches Gesicht, doch für Charlotte war es der attraktivste Mann, den sie in ihrem Leben getroffen hatte: Otis Flanagan, Sonderagent irgendeiner dubiosen Sicherheitseinrichtung einer nicht mehr existenten Regierung. Was mochte er machen? Lebte er noch?
Sie seufzte. Ja, Otis lebte noch. Irgendwie wusste sie es. Sie kam sich dämlich dabei vor, für einen Mittdreißiger zu schwärmen. Andererseits: Warum nicht? Otis hatte ihr ja klipp und klar gestanden, dass er auf ältere Frauen stand.
Du bist meschugge!, schalt sie sich selbst. Otis war am anderen Ende der Welt. Es war wohl eher unwahrscheinlich, dass sie ihn in diesem Leben jemals wiedersehen würde. Und selbst wenn: Diese Welt der Untoten hatte keinen Platz für Liebesgeschichten, hier ging es ums Überleben. Das war alles.
Erwin schnarchte mittlerweile.
Charlotte verdrehte die Augen. Bei dem Gesäge würde sie keinen Schlaf finden. Sie schwang sich aus dem Bett, zog sich eine Jacke über und beschloss, etwas durch den Stützpunkt zu wandern. Die Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Marodeure, Übergriffe auf die Festung - dann dieses komische Gefühl. Vielleicht schadete es nicht, Augen und Ohren offen zu halten. Sie hatte zwar vor, Frankfurt so schnell wie möglich zu verlassen, aber wer konnte schon sicher sein, dass sich diese seltsamen Marodeure, die sich in der verfallenen City herumtreiben sollten, mit dem Flughafen zufriedengeben würden. Zuerst den Flughafen, dann den Rest der Welt ...
Dieses fiese Gefühl schien sich in ihrem Nacken festgesetzt zu haben. Es ließ sie einfach nicht mehr los. Wieder sagte sie sich, dass es ein Fehler war, nicht mit den anderen nach New Hampshire zum Lake Winnepesaukee geflogen zu sein. Joshua, Huntington und Candy waren so etwas wie ihre Familie geworden. Vielleicht mehr Familie, als sie im wirklichen Leben jemals gehabt hatte. Ihre Mutter, ihre Schwester ... Es war alles so verdammt lange her. Es hatte zu viele Konflikte, zu viel Streit, zu viel Entfremdung gegeben ...
Hör auf, rührselig zu werden!, schimpfte sie mit sich selbst. Sie war mittlerweile in einer der alten Abflughallen angekommen und trat an die großen Fenster, die teilweise zu Bruch gegangen und mit Holzlatten verschlossen worden waren. Es zog. Die Landebahnen waren nur zum Teil beleuchtet. Offensichtlich wurde eine Maschine erwartet. Sicherheitspersonal stand dort unten in Bereitschaft. Ebenso einige Panzer und Mannschaftstransporter.
Für einen Moment überkam sie die irrwitzige Idee, dass Otis in einer der Maschine sitzen würde. Charlotte schüttelte schmunzelnd den Kopf. Es war nicht zu glauben, der verfluchte Kerl ging ihr wirklich nicht aus dem Sinn.
Bring dich auf andere Gedanken!, sagte sie sich und setzte sich in Bewegung. Zeit, die Lauscher auf Empfang zu schalten. Man konnte niemals genügend Informationen besitzen, besonders nicht in Zeiten wie diesen.