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12 Schatten der Marodeure

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Deutschland

Gut Hohefeld


Charlotte, Erwin und Harald hielten sich in der Küche von Gut Hohefeld auf, als Leopold und Martina mit vor Wut funkelnden Augen den Raum betraten und vor dem großen Küchentisch stehen blieben, an dem die drei Gefährten Platz genommen hatten.

»Wo schafft ihr die Lebensmittel hin!«, stieß Martina hervor. »Dealt ihr mit den Nachbardörfern? Macht ihr euer eigenes Ding?« Leopold stand mit verschränkten Armen neben der temperamentvollen Rothaarigen, sagte aber nichts.

Erwin verzog die Lippen, und Harald sah betreten zu Boden.

Charlotte sah Martina in die Augen. »Wir dealen bestimmt nicht, und wir stehlen auch nichts. Aber okay - wir bringen Nahrungsmittel und Ausrüstung weg.«

Martina glaubte, sich verhört zu haben. »Aha. Und wann hättet ihr uns Bescheid gesagt? Es gibt wilde Spekulationen, dass hier krumme Geschäfte mit den Nachbardörfern laufen. Verdächtigungen machen die Runde. Das ist nicht gut. Also - was soll das?«

»Es ist so weit«, sagte Erwin. »Los! Erzähl ihnen von den Marodeuren. Es macht keinen Sinn mehr, noch länger schweigen zu wollen.«

»Das denke ich auch«, pflichtete ihm Leopold bei, dessen Stirn sich in Falten gelegt hatte.

»Also es ist so ...«, begann Charlotte. In kurzen Worten berichteten sie und Erwin abwechselnd von den Marodeuren, die offensichtlich die Kontrolle über die Festung Frankfurt übernommen hatten und dass ein Angriff auf das Gut nur noch eine Frage der Zeit war. Als sie mit ihrer Schilderung fertig waren, sahen Martina und Leopold betreten in die Runde.

»So schlimm?«, fragte Martina ungläubig. »Aber vielleicht können wir mit denen verhandeln, und ...«

Charlotte unterbrach sie. »Nein. Die werden nicht mit uns verhandeln. Die werden sich nehmen, was sie brauchen, ob es uns passt oder nicht.«

»Und wo schafft ihr die Lebensmittel und die Ausrüstung hin?«, fragte Leopold.

Charlotte warf Erwin und Harald einen schnellen Blick zu. »Das werdet ihr und die anderen erst erfahren, wenn es so weit ist und wir den Absprung hier machen.«

»Blödsinn!«, presste Leopold zwischen den Lippen hervor. »Sag mal, treibst du hier falsches Spiel - oder was? Ihr karrt das ganze Zeug weg. Und wir sollen euch einfach so vertrauen. Für wie blöd haltet ihr uns? Wer garantiert mir denn, dass ihr nicht irgendwann die Flatter macht und uns hier alleine zurücklasst.«

»Haben wir nicht vor«, wehrte Charlotte ab. »Aber es bleibt dabei. Der Fluchtpunkt bleibt vorerst geheim.«

Leopold zitterte vor Wut. Martina legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Und wann wollt ihr die anderen informieren? Oder hattet ihr das nicht vor?«

Charlotte wirkte zerknirscht. Ihr war klar gewesen, dass es über kurz oder lang auffallen würde, wenn immer mehr Nahrungsmittel und Ausrüstungsgegenstände aus dem Gut verschwinden würden, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so bald geschehen würde. Erwin kam ihr zur Hilfe.

»Martina, Leopold - sagt den anderen Bescheid, dass wir am Nachmittag eine Versammlung abhalten werden. Ich gehe noch mal an den Kurzwellenempfänger und höre mich um, ob ich etwas Neues über den Status von Frankfurt herausbekommen kann. Vielleicht funktioniert auch ein Onion-Knoten im Tor-Netz. Ich weiß es nicht, aber die Generatoren laufen, und wir haben Strom. Wir machen reinen Tisch, versprochen!«

Leopold verzog die Lippen. »Und was ist mit der Abordnung der Nachbardörfer? Die wollen ebenfalls neu verhandeln. Und sie üben immer mehr Druck aus. Der liebe Gustav möchte gerne Oberortsvorsteher werden - und das schließt auch das Gut ein … Bald haben wir hier überhaupt nichts mehr zu sagen.«

Charlotte lachte erstickt auf. »Verhandeln? Die Herren Gauleiter wollen die Daumenschrauben anlegen ... Aber, warum eigentlich nicht? Am besten machen wir reinen Tisch und weihen sie ein. Vielleicht können wir zusammen etwas gegen die Marodeure auf die Beine stellen.« Sie glaubte zwar selbst nicht daran, doch sie wollte Zeit gewinnen. Charlotte war Realistin. Sie wusste jetzt schon, dass nur wenige das Gut verlassen würden. Einige würden so naiv sein und glauben, sie könnten gegen die Angreifer etwas ausrichten. Und die von der Friedensfraktion, die nach wie vor an das Gute im Menschen glaubten, würden auf endlose Verhandlungen setzen, als befänden sie sich in einem Debattierklub. Aber so funktionierte die Welt nicht mehr - zumindest nicht, wenn an den Geschichten, die Erwin über Kurzwelle mitgehört hatte, etwas dran war. Und genau daran glaubte Charlotte. Erwin war kein Spinner, und er war auch nicht übermäßig ängstlich. Das Böse hatte die Welt in mannigfaltiger Form erfasst - und es waren nicht die Untoten, die die größte Gefahr darstellten, zumindest nicht hier auf dem Gut.

»Und was ist, wenn wir demokratisch abstimmen, dass ihr keine Nahrungsmittel mehr wegbringt?«, fragte Martina, als sie und Leopold die Küche verlassen wollten.

Charlotte verzog zynisch die Lippen. »Dann appelliere ich an euer Rechtsverständnis, dass ihr euch auf meinem Grund und Boden befindet, Herzchen. Ich bin die rechtmäßige Erbin des Gutes. Streng genommen gehört das alles hier mir! Vergesst das nicht! Also erspar mir jetzt diese verlogene Doppelmoral von wegen Demokratie oder so. Ja, die Welt ist im Arsch. Und ja, es war nicht nett, euch nicht einzuweihen. Aber ich werde nicht darüber verhandeln, wie viele Nahrungsmittel und andere Dinge wir hier rausschaffen. Es sei denn ...« Charlotte sah Martina tief in die Augen. Das Lächeln um ihre Lippen wirkte hart. »Es sei denn, du trittst deine eigenen Ideale mit Füßen. Denk daran: Rechtlich gesehen befindet ihr euch auf meinem Grund und Boden. Und ich kann mit der Ernte machen, was ich will ...«

»Angesichts der Krise dürften dein Rechtsstatus und dein Erbe keine große Bedeutung mehr haben«, presste Leopold zwischen den Lippen hervor.

Charlotte verzog ironisch das Gesicht. »Aha. Demokratie und Rechtsstaat nach Bedarf. Leute, lasst es bleiben ...«

Martina zog Leopold am Arm. Ohne ein weiteres Wort verließen sie die Küche.

»Das gibt Stunk«, meinte Harald, der sich die ganze Zeit über zurückgehalten hatte.

Charlotte sah zum Fenster raus, wo einige der Kinder auf dem Hof spielten. Sie sah schwarz für die Zukunft. Einige der Eltern würden sich weigern, das Gut zu verlassen. Es hielten sich hier nicht wenige Idealisten auf, die Charlotte auf schier groteske Weise weltfremd erschienen. Gut Hohefeld, der Fels in der Brandung. All die schönen Gewächshäuser, die Beete, die bald reiche Ernte bringen würden, die vollhängenden Apfel- und Pflaumenbäume. Tja, mit etwas Fantasie, vielleicht zu viel davon, konnte man sich die Welt schönreden, zu schön - vielleicht.

»Und jetzt?«, fragte Erwin in die entstandene Stille.

»Wir bringen weiter so viele Nahrungsmittel weg, wie wir können. In den Tiefgeschossen des Flughafens ist es kühl genug, da verdirbt nichts.«

»Gut.« Erwin nickte. »Wann machen wir die nächste Tour?«

»Morgen. Heute Abend diskutieren wir ein bisschen, was natürlich überhaupt nichts bringen wird. Und morgen früh machen wir die nächste Fuhre. Ach so: Haltet die Augen offen! Ich will nicht, dass uns jemand folgt. Nachher spricht sich doch herum, wo unser Fluchtpunkt liegt.«

»Das wird früher oder später sowieso durchsickern«, meinte Harald.

»Sicherlich«, erwiderte Charlotte. »Aber lieber später als früher ...«


Charlotte begab sich später zu ihrer geliebten Eiche und ließ den Blick über das weite Land schweifen. In einer Stunde wurden die Gauleiter aus den Nachbardörfern erwartet. Sie wollte die Ruhe bis dahin genießen und für sich sein. Instinktiv ahnte sie, dass ihre Zeit auf dem Gut vorbei war. Und irgendwie wusste sie auch, dass sie es niemals wiedersehen würde. Wusste der Teufel, was noch geschehen sollte, aber Charlotte war sich sicher, dass ihre Zukunft nicht in Deutschland lag. Aber vielleicht war auch das nur Wunschdenken. Einmal zu oft hatte sie in letzter Zeit an Otis denken müssen.

Sie genoss den warmen Wind im Gesicht und hielt die Augen geschlossen. Das Gesicht von Otis erschien vor ihrem inneren Auge. Sie musste lächeln. Illusionen, sagte sie sich. Nichts als Illusionen.

Eines der Kinder war wie aus dem Nichts neben sie getreten und griff nach ihrer Hand. »Die Dorfvorsteher sind schon da«, sagte die kleine Emma. »Mama sagt, du musst kommen.«

Mama sagt, du musst kommen!, wiederholte Charlotte in Gedanken. Es hatte ihr noch nie gefallen, wenn jemand sagte: Du musst! Und das würde sich in diesem Leben wahrscheinlich nicht mehr ändern.

Sie lächelte Emma an und machte sich dann auf den Weg. Was freute sie sich auf den feisten Gustav, den verlogenen Egon, die intrigante Ottilie und all die anderen. Ach, wenn wir uns finden unter Linden ... Charlotte hätte kotzen können. Sie hatte es ja gewusst. Sie passte einfach nicht nach Deutschland. Aber das war ja auch nichts Neues ...

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