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3 Die Hütte am See
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Lake Winnepesaukee / New Hampshire
»Nachrichten aus der großen weiten Welt?«, fragte Joshua Cunningham leise. Er trat hinter die Frau, die fast genauso groß war wie er, und küsste sie in den Nacken.
Mary-Ann Parker lächelte. »Leider nein. Nur das Übliche. Hier ein Zusammenbruch, dort eine Durchhalteparole. Josh, es sieht verdammt schlecht aus.«
Er küsste sie auf den Mund. »Hier sind wir sicher. Zumindest vorläufig.«
Sie beide ließen den Blick über den See schweifen. Nebelschwaden zogen über das Wasser. Einige der weiter entfernt liegenden Inseln wurden von ihm verschluckt. Die Szenerie war friedlich, fast zu friedlich - und sie konnte vergessen machen, dass dort draußen eine Welt im Sterben lag, vielleicht schon gestorben war.
Mary-Ann fröstelte. Sie drehte sich um und sah zurück zu ihrer Hütte, wobei die Bezeichnung Hütte die schamloseste Untertreibung des Jahrtausends war. Die Hütte war ein mit allem technischen Schnickschnack ausgestattetes High-end und High-Tech-Etablissement der oberen Nobelklasse. Hier ließ es sich aushalten.
Joshua winkte der Frau zu, die aus dem am Ufer geparkten Helikopter ausstieg und langsam auf die Treppe zuging, die zum Eingang der Hütte hinaufführte. Es war Candy Borowsky, eine desertierte Pilotin der US Air Force, die zusammen mit Joshua, Edward Huntington und ihren beiden Kindern den Fängen des selbst ernannten Senators Seamus Abigail entkommen konnte.
»Gehst du heute auf Erkundungstour?«, rief Mary-Ann.
Candy blieb kurz stehen und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Selbst auf die Entfernung hin war zu sehen, dass ihre Wangen etwas Schmieröl abbekommen hatten. »Nein. Ich bleibe nur bei meiner Routine und checke die Kiste regelmäßig durch. Meine Bell braucht das, sonst fühlt sie sich nicht wohl. Das ist alles.« Candy lächelte. Sie nickte den beiden zu, stieg die Treppe hoch und wollte gerade die Tür öffnen, als Edward Huntington, der Psychiater, der Joshua damals das Leben gerettet hatte, als Untote das Gefängnis überrannten, ihr zuvorkam. Hinter ihm erschienen Candys Kinder Janet und Leo in der offen stehenden Tür. Die beiden juchzten und hetzten die Treppe herunter und liefen in Richtung Ufer. Sie winkten ihrer Mutter kurz zu, als sie an ihr vorbeischossen. Candy wollte zu einer Ermahnung ansetzen, nicht zu laut zu sein, ließ es dann aber bleiben. Hier auf der Privatinsel hielt sich niemand außer ihnen auf. Keine anderen Menschen - vor allem aber keine Untoten. Und das Ufer zum Festland war weit genug entfernt.
»Lass sie«, meinte Huntington lächelnd, als Candy neben ihm stehen geblieben war. »Wer weiß, wie lange sie noch so unbeschwert herumtoben können. Denk an den ganzen Scheiß, den wir hinter uns haben.«
Candy grinste ihn an. »Scheiß? - und das aus deinem Mund. Edward, du machst dich immer besser.«
Er grinste sie an und zuckte fast entschuldigend mit den Achseln.
»Bin unter der Dusche. Muss etwas Schmieröl loswerden«, fuhr Candy fort und verschwand im Haus.
Huntington sah zu Mary-Ann und Joshua, dann zu den beiden Kindern. Er sog die frische Luft des Morgens tief in seine Lungen und schloss für einen Moment die Augen. Hier auf Mary-Anns Privatinsel im Lake Winnepesaukee konnte man fast vergessen, dass die Welt untergegangen war. Aber die Ruhe war trügerisch. Niemand wusste, wie es im Rest der Staaten oder sonst wo auf dieser gottverdammten Welt mittlerweile aussah. Die radioaktive Wolke, die nach der Kernschmelze in Japan über den Pazifik getrieben war, hatte sich, so sah es zumindest aus, weiter nach Norden verzogen. Trotzdem. Keiner wusste, wie es um die vielen Kernkraftwerke bestellt war, ob man sie kontrolliert hatte herunterfahren können - oder ob irgendwo doch eine weitere Kernschmelze bevorstand. Die Diesellager in der Hütte waren nach vor gut gefüllt, und auch für Candys Hubschrauber gab es in der Region noch genügend Tankmöglichkeiten. Der Lake Winnepesaukee war ein gerne besuchtes Freizeitziel - gewesen. Wie es in den Hotels und Shoppingcentern der umliegenden Gegend mittlerweile aussah, war noch größtenteils ungewiss. Aber noch herrschte kein Mangel an Nahrungsmitteln. Der größte Vorteil war, dass die Hütte über eine Frischwasserquelle verfügte. Nach ihrer Ankunft aus Boston hatte Mary-Ann in den darauffolgenden Wirren die Umgegend auf dem Motorrad inspiziert. Als die ersten Warnmeldungen kamen, musste es zu einer Massenflucht aus dem Gebiet des Lake Winnepesaukee gekommen sein. Anstatt sich in die Wälder zu flüchten, hatten die meisten Feriengäste versucht, über die verstopften Highways nach Hause zu kommen. Auf den Straßen sah es böse aus. Da Mary-Ann jedoch mit einem Motorrad nach New Hampshire geflüchtet war, hatte sie die meisten Hindernisse zumeist problemlos umfahren können. Selbst die Untoten, die sich nach wie vor sehr langsam und schleppend bewegten, waren nicht die größte Gefahr gewesen, mit der sie sich während ihrer Flucht hatte herumschlagen müssen - die ging nämlich von einigen Idioten aus, die Mary-Ann das Motorrad hatten abnehmen wollen. Mehr als einmal war es ihr gerade so noch gelungen, ihren Häschern zu entkommen. Doch sie hatte es geschafft: ganz alleine, ohne fremde Hilfe. Dann hatte das Warten begonnen. Sie hatte am Satellitenempfänger gelauscht. Tag für Tag. In der ersten Zeit hatte sie noch ihren Blog gepflegt, doch die Internetverbindungen waren irgendwann zusammengebrochen. Nur noch sporadisch schien das Tor-Netz zu funktionieren.
Huntington schüttelte den Kopf, als er an ihre Ankunft mit dem Helikopter dachte. Mary-Ann war auf einer Exkursion im Umland gewesen und just in dem Moment zurückgekehrt, als die Gruppe um Huntington die Hütte durchsuchte. Am nahe gelegenen Ufer war plötzlich ein schwarzes Motorrad erschienen, mit einem Fahrer in schwarzer Kluft. Es war Mary-Ann, die die Maschine mit Reisig und Tarnmatten im Gebüsch zurückließ und mit einem Boot mit Außenbordmotor zur Insel übersetzte.
Und so warten wir, dachte Huntington nachdenklich. Doch worauf ...? Mary-Ann hatte berichtet, dass es auf einigen der Inseln weitere Überlebende gab, die jedoch keinen Kontakt wollten. Am Lake Winnepesaukee gab es ca. 250 Inseln, teils mit teuren Feriendomizilen, einige davon richtige Luxusvillen. Aber jeder machte sein eigenes Ding. Mary-Ann hatte berichtet, dass man auf sie geschossen hatte, als sie sich mit einem der beiden Boote den benachbarten Inseln genähert hatte. Offensichtlich war man der Ansicht gewesen, sie hätte es auf Nahrungsmittel oder anderes abgesehen. Seit der Zeit hielt sie Abstand. Und - zumindest - bis jetzt, war es zu keinen weiteren Zwischenfällen gekommen. Keiner der anderen Überlebenden hatte sich Mary-Anns Insel genähert. Abends sah man hin und wieder einen schwachen Lichtschein in den anderen Domizilen, aber das war es dann auch schon.
Schwing dich aufs Trimmrad, sagte sich Huntington. Er war fit wie seit Jahren nicht mehr. Irgendwie hatte ihm die Zombiekrise die alte Unlust gegen alle Arten von Sport aus den Knochen getrieben. Nun ja, richtig Spaß machte es ihm immer noch nicht, sich im Fitnessraum zu quälen, aber es musste eben sein. Keiner wusste, was noch auf sie zukommen sollte. Für einen Moment dachte er an Cybil, die damals in der Arena von Seamus Abigail ums Leben gekommen war. Er vermisste sie noch immer, aber es tat nicht mehr ganz so weh. Wenigstens etwas. Familie ... Ja, Familie, das waren die Menschen, mit denen er hier zusammen war. Mehr Familie, als er in seinem bisherigen Leben überhaupt gekannt hatte. Er war ein Eigenbrötler gewesen: intellektuell, introvertiert. Vermögend, mit einer Villa am Rande von Kansas City, hin und wieder mit irgendeiner Geliebten, die bald wieder ging. »Du bist die größte Spaßbremse, die ich kenne«, hatte Lauren gesagt. Er hatte ihr nicht widersprechen können. Er war eben so. Einen Tag später war sie weg. Er hatte sie nicht wirklich vermisst, das besagte wohl alles.
»Edward wirkt sehr nachdenklich«, sagte Mary-Ann. Sie winkte Candys Kindern zu, die Steine über die Wasseroberfläche springen ließen, dann sah sie Joshua in die Augen. Sie küsste ihn schnell zärtlich auf den Mund. Er erwiderte den Kuss und wollte seine Zunge zwischen ihre Lippen zwängen, doch sie wandte den Kopf zur Seite. »Nicht jetzt, Josh ...«
Joshua Cunningham, ehemaliger Angestellter von Mary-Ann und Journalist beim Sender, runzelte die Stirn. »Edward ist sehr introvertiert, das wird sich kaum ändern. Aber mir gefällt, dass er seinen inneren Schweinehund endlich überwunden hat und regelmäßig Sport treibt. Wer weiß, wozu es gut ist - zukünftig ...«
Mary-Ann wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an Joshuas Brust. »Bleib im Hier und Jetzt, Josh. Keiner weiß, was kommt. Vor den Untoten sind wir hier auf der Insel sicher. Trübsalblasen bringt überhaupt nichts. Uns geht es gut. Sehr gut sogar, wenn man an all die armen Menschen dort draußen denkt.«
Joshua legte das Kinn sanft auf ihren Kopf und sog den Duft ihres Haares ein, das nach irgendeinem Blütenextrakt duftete, exotisch und erotisch. »Vor den Untoten mögen wir sicher sein, aber ich denke da eher an Menschen. Vielleicht höre ich das Gras wachsen, aber diese unwirkliche Ruhe hier macht mich langsam nervös. Abgesehen davon hat Candy von verschiedenen Flüchtlingsströmen berichtet. Das Seengebiet des Lake Winnepesaukee ist prominent. Da fällt es nicht schwer, auf die Idee zu kommen, sich auf eine Insel zurückzuziehen. Leider sind - so wie es scheint - alle Inseln bereits frequentiert. Von Menschen, die nichts vom anderen wissen wollen. Das ist Sprengstoff. Du hast etwas, was ich haben will. Und schon haben wir den großen Knatsch. Mir gefällt nicht, dass sich die anderen da drüben ...« Er zeigte zu den andern Inseln. »...dass sie sich so einigeln. Das ist nicht gut. Wir Überlebenden müssen zusammenhalten.«
Joshua schwieg für einen Moment. Dann fuhr er fort: «Was ist mit der Codemeldung, die Candy durchgegeben hat? Ich halte es für keine gute Idee, unsere Position bekannt zu geben.«
Mary-Ann löste sich von ihm, trat einen Schritt nach vorne und wandte sich dann zu ihm um. Sie winkte ab. »Candy hat lediglich einen mit Otis Flanagan, so heißt der Agent doch? - vereinbarten Code durchgegeben, dass ihr gut angekommen seid, das ist alles.«
»Hoffen wir es.« Joshua vergrub die Hände in den Taschen und sah kurz zu Boden. »Die Lager sind zwar noch voll, aber ich denke, wir sollten nicht zu lange damit warten, uns weiter in der Gegend umzusehen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«
Mary-Ann nickte. »Candy will übermorgen zu einem Rundflug aufbrechen. Die Shoppingmall in Concordia und dann der Privatflugplatz, um noch etwas Kerosin anzukarren. Dann noch mal runter nach Laconia. Aber wir sollten wirklich nur fliegen, wenn es wirklich notwendig ist. Der Hubschrauber ist nicht zu überhören.«
»Also doch Bedenken, mein Herz?« Joshua küsste sie auf die Stirn.
Mary-Ann beugte sich zu ihm hin und küsste ihn erneut, diesmal intensiver. Es funkelte in ihren Augen. »Realistisch. Das bin ich. Wir brauchen keine Panikmache, aber wir sollten nicht zu leichtgläubig sein. Und ... wir haben beschränkte Kapazitäten. Ich weiß, dass Edward der Meinung ist, wir könnten noch andere Flüchtlinge aufnehmen. Aber - wo ist die Grenze? Wann sagen wir nein?«
Er nickte und dachte daran, wie schnell er und Mary-Ann zueinandergefunden hatten, hier auf der Insel. Seit Jahren hatte er für sie geschwärmt. Sie war seine Chefin gewesen, er der etwas lethargische Journalist, der sein Potenzial niemals richtig auszuschöpfen wusste. Nie war etwas zwischen ihnen passiert, nicht auf den Empfängen, nicht bei den Galas - oder sonst wo. . Am ersten Abend ihrer Ankunft, als sie beide am Seeufer standen, hatten sie sich ausgesprochen. Es war ein warmer Sommertag, der mit einem traumhaften Sonnenuntergang in irren pink- und mauvefarbenen Tönen zu Ende ging. Grillen zirpten, der Mond stand am Himmel - und sie dicht beieinander am Ufer. Der Rest war das, was man Geschichte nennt. Joshua erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie sich umarmten. Es war dieses unglaubliche Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Alleine in einer Welt, die langsam ihrem Ende zuging. Es machte keinen Sinn, etwas beschönigen zu wollen. Falls das Internet doch wieder einmal funktionierte, trafen nur Hiobsbotschaften ein. Die großen Städte verfielen, waren lebensfeindliche Zonen geworden, in denen die Zombies herrschten. Doch die Zombies blieben nicht in den Städten. Irgendwann begaben sie sich auf die Wanderschaft, gerade so, als würde sie das Fleisch der Lebenden locken.
Aber noch leben wir, dachte er. Die Wolkendecke riss auf und gab die Sonne frei. Joshua blinzelte und wischte sich kurz über die Augen.
»Können wir heute wieder spazieren gehen?«, rief Leo, Candys Sohn.
Mary-Ann lächelte zuerst ihn, dann Joshua an. »Nehmen wir die beiden mit?«
»Ausnahmsweise«, erwiderte Joshua. »Leo, Janet - packt eure Rucksäcke. Wir machen nachher ein kleines Picknick am westlichen Ufer.«
»Können wir zu einer der anderen Inseln übersetzen oder ans Festlandufer?«, fragte Leo.
Mary-Ann schüttelte den Kopf. Sie wirkte übergangslos ernst. »Nein, Leo. Ihr kennt die Spielregeln. Vorläufig bleiben wir für uns.«
Leo wollte murren, doch seine Schwester stieß ihn kumpelhaft in die Seite. »Motz nicht. Hier ist es schön. Außerdem könnten am Ufer Zombies sein. Die mag ich nicht. Die sind gruselig.«
»Okay.« Leo verzog das Gesicht. Dann liefen die beiden in die Hütte, um ihre Rucksäcke zu packen.
Mary-Ann griff nach Joshuas Hand. »Gehen wir. Wenn wir nicht rechtzeitig fertig sind, geht das Murren der beiden wieder los. Du weißt doch,wie ungeduldig Kinder sein können.«
Joshua nickte und wollte sich in Bewegung setzen. Aus den Augenwinkeln heraus war ihm, als hätte er einen Reflex wahrgenommen, fast so, als bräche sich das Sonnenlicht in der Linse eines Feldstechers. Er wandte sich um, doch da war nichts mehr. Na ja, vielleicht beobachtet man uns von dort drüben, kam es ihm in den Sinn. Es wurde langsam Zeit, wieder an Wachen zu denken. Sie waren zu sorglos. Ja, dachte er. Das Inselleben lullte sie langsam ein. Es war eine trügerische Sicherheit. Irgendwie ahnte er mehr, als dass er es wusste, dass es früher oder später mit dieser Ruhe vorbei sein würde. Hoffentlich später ...