Читать книгу p¡r@t€Z - Jo L.L. Roger - Страница 15

0b0001000: [LAN-Party]

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Brigitta steuert ihren hellroten Twingo in das gepflegte, gutbürgerliche Wohngebiet am Rande Münchens. Carl sitzt neben ihr und betrachtet die vereinzelten Regentropfen auf der Seitenscheibe. „Du musst hier links abbiegen und bis zum Ende der Sackgasse fahren. BlitzKey wohnt im letzten Haus vor dem Wendekreis.“

„Oki.“ Nachdem sie in die Straße eingebogen ist, schiebt sie ihre Brille auf dem Nasenrücken zurecht. Gemächlich folgt sie der gewundenen Straße. Vor dem letzten Haus auf der linken Seite parken bereits ein uralter Fiat Panda, ein bunt bemalter VW-Bus und ein Motorroller. „Stell dich einfach hinter den Panda in die Auffahrt“, schlägt Carl vor.

„Aber ich kann den doch nicht einparken!“

„Keine Sorge, der gehört Christoph.“

„Oki.“ Brigitta stellt sich so knapp wie nur möglich hinter den Fiat, um den Gehweg vor dem Haus frei zu halten. Carl steigt aus und eilt durch den Nieselregen zur Haustür. Unterdessen öffnet sie die Heckklappe des Twingo. An der Tür begrüßt BlitzKey seinen Kumpel per Handschlag. „Hey, Alter! Du bist heute richtig früh.“

„Meine Mitfahrgelegenheit war überpünktlich.“

„Ah, cool! Wir verlegen gerade Kabel fürs Netzwerk.“

Als Brigitta mit geschultertem Rucksack und einer Leinentasche an der Haustür erscheint, starrt BlitzKey die junge Frau mit offenem Mund an. „Hallo, wie geht’s!“, begrüßt sie ihn. Er streckt ihr die Hand entgegen, die sie vorsichtig drückt. „Du bist ein Mädchen?“

„Überrascht dich das?“

„Hoffentlich langweilst du dich nicht. Wir zocken heute jede Menge Games.“

„Wunderbar!“

„Das ist Brigitta. Das ist Gottfried, aber wir nennen ihn BlitzKey, da er ein absolut genialer Assembler Programmierer ist. Er crackt Spiele und patcht Savegames schneller, als die Dinger programmiert werden“, mischt sich Carl ins Gespräch.

„Das klingt interessant!“

„Carl übertreibt mal wieder.“ BlitzKey sieht Brigitta verlegen an und krault seinen Ziegenbart. „Ich wollte nicht unhöflich sein, aber normalerweise haben wir keine Mädels auf unseren LAN-Partys.“

„Habt ihr etwas gegen Frauen, die mit einem PC umgehen können?“ Ihr Blick wandert eilig zwischen den jungen Männern hin und her.

„Nein, überhaupt nix!“

„Wir haben bisher keine Frau kennengelernt, die sich für Computer interessiert und Lust auf Videogames hat“, fügt Carl hinzu.

„Selbst seine Ex konnte er nur selten zum Zocken überreden“, witzelt BlitzKey.

„Das lag möglicherweise daran, dass ihr immer garstig zu ihr gewesen seid.“

„Möglicherweise“, lacht BlitzKey. „Ich hätte nie gedacht, dass so eine süße Maus Videogames spielt.“

Carl sieht seinen Freund entsetzt an. Brigitta reagiert mit einem Kichern. „Dürfen wir hereinkommen?“

„Na logisch“, antwortet BlitzKey mit einer einladenden Geste und hält den beiden die Tür auf. „Schnappt euch den Wohnzimmertisch und ladet euer Zeug am besten auf der Couch ab.“

„Danke!“

„Wie viele Rechner habt ihr dabei?“

„Brigittas PC, meinen Spiele-PC und den Gameserver.“

„Großartig!“

BlitzKey und Carl holen die Computer aus dem Twingo. Brigitta verlegt bereits die ersten Kabel auf dem Fußboden. Da eine Couch und zwei Sessel um den massiven Holztisch herumstehen, positioniert sie die Tastaturen der beiden nebeneinander auf der Polstergarnitur. Die Jungs stellen die schweren Gehäuse daneben ab. „Soll ich euch beim Tragen der Monitore helfen?“, fragt Brigitta.

„Nicht nötig“, versichert Carl. „Du kannst hier bleiben. Wir schaffen das schon.“

„Dann stöpsle ich die Rechner an.“

„Christoph!“, ruft BlitzKey ins Treppenhaus. „Christoph, wo bist du?“

„Bin doch da. Brauchst gar ned so rumplärren“, antwortet ihm ein dunkelhaariger Lockenkopf mit Wiener Dialekt, der das Wohnzimmer aus der Küche betritt.

„Ah! Das ist Brigitta, eine Bekannte von Carl, die heute mit uns zockt.“

Christoph verneigt sich vor ihr, um sie mit seinem übertriebenen Wiener Schmäh zu begrüßen: „Küss die Hand, schöne Frau.“

„Und das ist unser Ausländer.“

„Hallo, Christoph“, erwidert sie den Gruß.

„Habe die Ehre!“

„Falls du Strom brauchst, kann er dir die Kabel besorgen. Netzwerk bekommst du von Martin, der die Leitung vom ersten Stock runterzieht.“

„Oki!“

* * *

Zwischen einer Trommel Koaxialkabel, verschiedenen Kleinteilen und mehreren geöffneten PCs sitzen Martin und Carl auf dem Fußboden vor der Couch. Gemeinsam schließen sie die Kabel für das Netzwerk an die Rechner an. Brigitta macht es sich im Schneidersitz auf den Polstern bequem. Sie beobachtet die beiden jungen Männer, die kurze Kabelstücke von der Trommel abschneiden und mit Steckern versehen. Ihre Tastatur liegt auf dem Schoß, während sie auf die Verbindung wartet. Aufmerksam folgt sie Carls geübten Handgriffen. Christoph sitzt ihr auf einem der Sessel gegenüber und testet mit einem Computerspiel, ob sein PC einsatzbereit ist.

Die Tür zur angrenzenden Küche steht offen. BlitzKey verlegt dort Strom- und Netzwerkkabel. Er unterhält sich am Küchentisch nebenbei mit Thorsten, einem drahtigen Typen in abgerissenen Klamotten, der seine lange Mähne zu einem Knoten hochgesteckt hat. Obwohl er dank des Vollbarts und der Brille aus dickem schwarzen Plastik deutlich älter als die anderen jungen Männer aussieht, wirkt er auf Brigitta kaum erwachsener. Er schließt seinen Rechner ebenfalls an das Netzwerk an und konfiguriert ihn für die geplanten Spiele. Nach dem kurzen Wortwechsel mit Thorsten kehrt BlitzKey mit einigen Dosen Red Bull und einer Flasche Afri Cola in das Wohnzimmer zurück. „Das ist das harte Zeug aus Österreich mit richtig viel Taurin und nicht die dünne Brühe, die du bei uns im Supermarkt bekommst“, warnt er Brigitta. Er deutet auf Christoph. „Die muss der Ausländer rüberschmuggeln, sonst darf er nicht mitspielen.“

Christoph lacht und drückt seinen Ellenbogen freundschaftlich in BlitzKeys Seite.

„Super!“, erwidert Brigitta. „Dann ist Carl chancenlos gegen mich.“

„Hahaha! Du hast noch nie mit ihm gezockt, oder?“, amüsiert sich BlitzKey.

„Wie kommst du darauf?“

Er beugt sich ein wenig nach vorne, um Brigitta direkt anzusehen. „Carl ist einer der besten Spieler in der Gegend, wahrscheinlich sogar einer der besten in Deutschland.“ Er deutet mit dem Zeigefinger auf ihn. „Der Kerl sitzt den ganzen Tag vorm Computer und zockt nur Videogames!“

„Ist bei mir nicht anders!“, antwortet Brigitta mit einem Zwinkern.

„Oh Shit! Da haben sich zwei Verrückte gefunden.“

Sie grinst ihn daraufhin frech an.

„Ach ja, bevor ich es vergesse“, erinnert BlitzKey seine Freunde. „Der Kühlschrank ist randvoll mit Bier.“

„Immer her damit!“, erwidert Martin vom Fußboden.

„Wie sieht’s mit dir aus, Carl?“

„Später vielleicht, ich brauch jetzt eine Cola.“ BlitzKey reicht ihm die eiskalte Colaflasche vom Tisch. „Hast du eine Netzwerkverbindung?“, fragt Carl. Brigitta tippt einige Befehle in ihren PC. „Ich kann eure Rechner sehen!“

„Super, dann bereite ich den Gameserver vor.“

Martin schaltet einen der beiden Computer aus, während Carl seinen PC vorsichtig unter den Couchtisch schiebt. Brigitta greift zum Rucksack, aus dem sie einige CDs und einen Karton hervorholt.

„Hey! Wer hat mir den Dateiserver gemopst!“, beschwert sich Thorsten lautstark aus der Küche. „Das ist mal ein lahmer Haufen! Jetzt bin ich seit einer halben Stunde hier und hab noch immer kein Bier, keine Pizza, keine Games und keine neuen Demos gesehen.“

„Bier ist schon unterwegs“, beschwichtigt BlitzKey, der Thorsten sogleich eine Flasche hinstellt. Auf dem Weg zum Couchtisch öffnet er die Flaschen für Martin und sich selbst. „Wie lange dauert es, bis der Server wieder läuft?“, erkundigt er sich bei Carl.

„Bin gleich fertig, ich baue nur eine zweite Netzwerkkarte ein, damit wir dieses Mal keine Probleme mit der Kabellänge bekommen.“

Bevor BlitzKey antworten kann, klingelt es an der Haustür. „Das sind Vincent und Spidi!“, ruft Thorsten aus der Küche. „Bin schon unterwegs“, brummelt der Gastgeber in sein Ziegenbärtchen.

Carl blickt vom geöffneten Gehäuse auf, als die letzten Mitspieler eintreffen. Er beachtet sie nicht weiter, da ihm Brigitta die Schachtel mit der Netzwerkkarte reicht. Vorsichtig zieht er die Platine aus der antistatischen Hülle, bevor er die Steckkarte in den PC einsetzt.

„Servus, Christoph!“, begrüßt Spidi seinen Bekannten.

„Hi, Spidi!“

„Und wen haben wir hier? Wusste gar nicht, dass einer von euch eine hübsche Schwester hat!“

Brigitta dreht sich bei diesen Worten zu den Jungs. Spidi, ein kleinwüchsiger, eher unscheinbarer Kerl mit blondierter Bürstenfrisur, reicht ihr die Hand. Zögerlich begutachtet sie ihn für einige Momente.

„Ich bin Spidi. Ich mach dieses Jahr mit den beiden“, er deutet auf Martin und Carl, „mein Abi.“

„Brigitta“, antwortet sie nur.

Spidi lässt seinen Rucksack mit gespielter Lässigkeit auf den Sessel gegenüber gleiten. „Ich heiße eigentlich Marc, aber alle nennen mich Spidi. Musst dir also nix bei denken.“

„Oki.“

„Bist du die Schwester von einem der Freaks? Hab dich bisher noch nie bei unseren Partys gesehen. Du langweilst dich heute wahrscheinlich, da Vincents Freundin wieder abhaut und BlitzKeys Schwester bei ihrem Macker übernachtet.“ Betont lässig nimmt er sich eine Dose Red Bull vom Tisch. Erwartungsvoll grinst er Brigitta an.

„Wie kommst du darauf, dass ich mich langweile?“

„Willst du etwa mitspielen?“

„Ja!“, entgegnet sie verunsichert.

„Ich hoffe nur, dass die Jungs nicht allzu hart mit dir umgehen. Carl und ich sind nämlich echte Profis.“

„Wir werden sehen, wie’s läuft.“

„Keine Sorge, ich nehme natürlich Rücksicht auf dich.“

Von der Haustür ruft Vincent: „Spidi! Komm her und hilf uns gefälligst!“

„Entschuldige, aber ich muss mich um mein Gaming-Rig kümmern. Wir können später noch ausführlich quatschen.“

Wortlos schaut ihm Brigitta hinterher. „Was ist denn das für einer?“, fragt sie in die Runde, nachdem er außer Hörweite ist.

„Mach dir keinen Kopf über den Typen, der ist nur hier, weil ihm BlitzKey einen Gefallen schuldig war“, antwortet Martin.

„Er hält sich für etwas Besseres, da er nach dem Studium Gamedesigner in den Staaten werden möchte“, ergänzt Carl.

* * *

Mittlerweile ist das Gehäuse des Servers geschlossen. Gemeinsam mit Martin, der trotz seines Übergewichts auf der Armlehne der Couch sitzt, nimmt Carl letzte Einstellungen an der Software vor. Um den Blickkontakt mit Spidi zu vermeiden, beobachtet Brigitta die beiden bei ihrer Arbeit. „Yeah!“, gibt Carl freudig von sich. „Die zweite Netzwerkkarte läuft einwandfrei!“

„Ich seh dich auch wieder!“, bestätigt Thorsten aus der Küche.

„Spiele liegen auf Laufwerk D!“, verkündet Carl in die Runde. „Software und Demos auf E und den übrigen Krempel habe ich auf F verfrachtet.“

„Bin schon am Saugen!“, frohlockt Thorsten.

„Die Firma dankt“, fügt Christoph hinzu. Auf dem Platz neben ihm werkelt Spidi hektisch mit seinen Kabeln herum, damit er den PC im Netzwerk verwenden kann. Martin und Carl konzentrieren sich weiterhin auf den Server, da sie die Einstellungen für das erste Spiel optimieren. „Das wird nicht gehen“, warnt ihn Brigitta, als er eine Konfigurationsdatei speichert.

„Wieso?“

„Das ist die Einstellung für ein IP-Netzwerk, aber wir verwenden IPX, oder?“

„Stimmt natürlich! Danke dir.“

„Du kennst dich mit Computern aus?“, fragt Spidi.

„Ein wenig“, entgegnet Brigitta.

„Wie kommt es denn dazu? Hast du große Brüder, die gerne zocken?“

„Nein, aber ein paar Grundkenntnisse über Rechner und Netzwerke helfen beim Informatikstudium.“

„Du studierst Informatik?“ Spidi rutscht zur Vorderkante des Sessels.

„Ja.“

„Ist das nicht geil! Ich wollte schon immer ein Girl kennenlernen, mit dem ich über PCs quatschen kann.“ Er beugt sich nach vorne, um seinen Rechner einzuschalten, ohne dabei die Augen von Brigitta zu nehmen. Instinktiv weicht sie zurück. „Wir müssen uns mal nach der LAN-Party treffen, um uns über das Studium zu unterhalten! Ich werde nach dem Abi nämlich auch Informatik studieren. Natürlich nicht hier in München. Ich will an eine bessere Uni, damit ich größere Chancen habe, an die chilligen Jobs in den Staaten ranzukommen.“

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

„Das sollten wir unbedingt machen! Du glaubst gar nicht, was du sonst verpasst!“

Brigitta zieht eine Grimasse. Ungläubig blickt sie zu Martin, Christoph und Carl. Die Jungs verfolgen das Gespräch zwischen ihr und Spidi neugierig, ignorieren die hilflosen Blicke jedoch. „Wir kennen uns doch gar nicht!“

„Das wird schon! Du brauchst bei mir auch nicht schüchtern sein.“ Martin und Christoph kichern. Einzig Carl dreht sich zur Seite, um Brigitta anzusehen, die ausdruckslos auf Spidi starrt. „Nein danke! Such dir eine andere Frau. Ich habe bereits einen Freund!“

„Wenn das so ist, können wir uns als gute Kumpels treffen.“

„Das muss ich mir noch sehr überlegen!“ Sie rutscht nach vorne. „Ich mag nämlich keine frechen Jungs, die in der Pubertät stecken geblieben sind.“

Spidi reagiert auf die Antwort mit einem unverständlichen Brummeln. Sie öffnet die Haarspangen und schüttelt den Kopf, bevor sie sich die kurzen Haare nach hinten streicht. Carl betrachtet sie schweigsam. Sie erwidert seinen traurigen Blick mit einem sanften Lächeln, während sie die Strähnen mit den Spangen fixiert. Nachdem Spidi hektisch, aber erfolglos die Tastatur malträtiert hat, schaltet er den PC aus. Er rutscht vom Sessel auf die Knie. Auf der Rückseite des Gehäuses kontrolliert er die Steckverbindungen. Nach kurzer Suche findet er den lockeren Tastaturstecker. Bei der Gelegenheit positioniert er den Monitor so, dass er freien Blick auf Brigitta hat.

Unbemerkt von Martin und Carl betritt Vincent, der sich ausgiebig von seiner Freundin verabschiedet hat, mit einem Rechner unter dem Arm das Wohnzimmer. „Hallo, Carl! Sind diesmal richtig viele Leute hier.“

„Hey!“ Er hebt die Hand zum Gruß. „Das ist Brigitta.“

Vincent deutet eine Verbeugung an, die sie lächelnd erwidert.

„Servus!“, begrüßt ihn Christoph.

Er wirft einen beiläufigen Blick auf Spidi und Martin. „Hast du die CDs mit den Pornos gebrannt?“

„Ja. Ich hab deine CDs dabei“, antwortet Carl mit Schamröte im Gesicht. Vincent grinst ihn frech an. „Wusste gar nicht, dass du prüde bist.“ Carl sieht ihn flehend an, da ihm die Worte fehlen, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Du schämst dich doch nicht etwa vor deiner charmanten Begleitung? Oder hat Martin um Fotos von nackten Kerlen gebettelt. Wenn ihr wollt, kann ich euch beiden gerne Bilder von gut bestückten Typen besorgen.“

„Danke, aber ich komme gut ohne so etwas zurecht!“, wehrt ihn Brigitta ab.

„Was soll die Anspielung mit den schwulen Pornos?“, empört sich Martin.

„Ach, ich habe vergessen, dass du weder auf Frauen noch auf echte Kerle stehst.“ Vincent atmet durch. „Tut mir leid, dass ich keine Pics mit dir tauschen kann, aber ich sammle nun mal keine Fotos von kleinen Mädchen!“

Mit einem Mal herrscht betretenes Schweigen im Raum. Martin schaut zu Boden, um den Blicken der anderen auszuweichen. Carls Gesichtsfarbe ist vom Krebsrot in ein kreidiges Weiß übergegangen. Selbst Brigitta starrt Vincent verblüfft an.

BlitzKey geht einige Schritte vom Flur ins Wohnzimmer und straft diesen mit einem wütenden Blick. „Wir sind hier, um Spaß zu haben und nicht um auf irgendwelchem alten Mist herumzureiten!“

„Ich setz mich dann mal zu Thorsten in die Küche“, knurrt Vincent.

* * *

„Es ist so weit!“, verkündet Carl. „Falls irgendjemand die aktuelle Version des QuakeTests noch nicht installiert hat, soll er sich beeilen. Sonst geht das Deathmatch ohne ihn los. Wir spielen heute zur Abwechslung mal in Zweierteams. Das Limit für den Sieg habe ich auf 100 Frags pro Runde gesetzt.“

„Macht mal hinne, ich will endlich zocken!“, lamentiert Thorsten in der Küche. Die anderen reagieren auf die Beschwerde mit Gelächter. BlitzKey kommt mit einigen Bierflaschen aus der Küche. „Wo ist Martin abgeblieben?“

„Der ist schon oben, euer Team einrichten.“

„Okay, auf in den Kampf!“ Während BlitzKey in sein Zimmer trottet, loggen sich die anderen Gamer auf dem Server ein. Vincent und Thorsten bilden ein Team, ebenso Brigitta und Carl, nachdem sie es lautstark abgelehnt hat, mit Spidi zusammenzuspielen. Dieser muss sich nun mit Christoph zufriedengeben.

Carl streckt seinen langen Körper nochmals, bevor er Maus und Tastatur auf der Couch zurechtlegt. Brigitta beugt sich nach vorne und schnappt sich zwei Dosen Red Bull vom Tisch. Spidi gafft sie unentwegt an. Sie ignoriert ihn. Während sie Carl eine Dose reicht, streicht sie ihm kurz mit dem Zeigefinger über den Handrücken. Er zuckt zusammen, lässt sich aber sonst nichts anmerken. Sie zieht den Reißverschluss des orangefarbenen Sweatshirts ein wenig nach unten. Genüsslich streckt sie den Oberkörper, damit ihre flachen Brüste im Push-up besser zur Geltung kommen. Spidi starrt sie nach wie vor an. Unbeeindruckt davon öffnet Brigitta die Haarspangen, schüttelt ihre Haare für einige Momente aus und fixiert sie sorgfältig hinter den Ohren. Nachdem sie mit den Haaren fertig ist, dreht sie sich kurz zu Carl. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Im Schneidersitz legt sie die Tastatur zurecht. Ihr Mauspad platziert sie zwischen den beiden auf der Couch. Während sie auf den Beginn des Matches wartet, berührt sie ihn sanft. Carl genügt ein Blick auf Spidi, um sie zu verstehen. Dieser gafft Brigitta weiterhin mit einem dümmlichen Grinsen an.

„Kommt schon, Leute!“, quengelt Thorsten.

„Mein tiefstes Bedauern, werter Herr, aber mein PC ist nimmer der Schnellste“, erwidert Christoph mit seinem stark übertriebenen Dialekt.

„Immer diese Ausländer! Jetzt nehmen die uns auch noch den Spaß an Computerspielen weg“, zieht ihn Thorsten auf.

„Wer fehlt denn?“, erkundigt sich Spidi.

Carl überfliegt kurz die Liste mit den Spielernamen. „BlitzKey ist noch nicht im Spiel.“

„Der hat bestimmt vergessen, das Teil zu installieren.“ Kaum hat Spidi den Kommentar losgelassen, erscheint der fehlende Name auf der Liste und das erste Match beginnt. Aus allen Ecken des Einfamilienhauses ertönen die virtuellen Schüsse und Explosionen. Brigitta starrt gebannt auf den Monitor. Plötzlich stupst sie Carl an. Er versteht den Wink sofort. Seine Spielfigur stürmt aus einem Hinterhalt, in den Brigitta Spidis Avatar gelockt hat. Er streckt diesen von hinten mit der Schrotflinte nieder.

„Sagt mal! Das macht doch keinen Spaß, wenn ich ständig von euch beiden abgeschossen werde!“, regt sich Spidi auf.

„Vielleicht solltest du dich auf deinen Monitor konzentrieren, anstatt kleinen Mädchen mit Raketenwerfern auf die Titten zu glotzen!“

Während Christoph loslacht, dreht Spidi den Monitor zur Seite. Unbemerkt von ihrem Gegenüber drückt sie Carls Hand.

„Spidi, ich hab immer gewusst, dass du ein Loser bist!“, stichelt Thorsten. „Unser großer Champ lässt sich von einer Frau abknallen.“

Ohne Spidi eines Blickes zu würdigen, macht sich Brigitta erneut daran, dessen Spielfigur durch die düstere Spielwelt zu jagen.

* * *

Brigitta metzelt Spidis Spielfigur ein letztes Mal nieder und beendet damit das Match als Siegerin. WarBeast führt das Scoreboard knapp vor indigo flux an. Die anderen Mitspieler bleiben alle mit deutlichem Abstand hinter den beiden zurück. Erschöpft aber überglücklich legt sie die Tastatur beiseite, bevor sie zu einem Energydrink greift.

„Herzlichen Glückwunsch!“, gratuliert Carl.

„Danke!“

Er grinst sie an.

„Ihr zwoa seids’n grausliges Team“, stellt Christoph mit einer gewissen Bewunderung fest. „Auf der letzten Map kam i mir scho wie a Tontauben vor.“

„Du warst gar nicht so schlecht, oder?“, fragt Carl nach.

„Geh weiter! Ich war mit Martin immer am Ende des Scoreboards.“

„Sorry!“ Carl zuckt mit den Schultern. Er steht auf, um den müden Körper zu strecken. Brigitta lehnt sich entspannt ins Polster zurück, damit sie ihn besser beobachten kann. Er schlendert gemächlich in die Küche. Thorsten salutiert scherzhaft vor ihm. Nachdem Carl außer Hörweite ist, gratuliert Spidi ebenfalls. „Du bist der absolute Hammer! Ihr beiden habt vorher trainiert und euch abgesprochen?“

„Wir spielen heute zum ersten Mal miteinander.“

„Tatsächlich?“

„Ja!“, bestätigt Brigitta. „Weshalb sollte ich dich anflunkern?“

„Ich weiß nicht?“ Spidi setzt ein charmantes Lächeln auf. „Beim nächsten Game müssen wir mal ein Team bilden, dann kann ich dir zeigen, wo meine Stärken liegen. Mir fehlt bei Quake leider das Training.“

„Ich zocke lieber mit Carl. Mit ihm ist es lustiger, wenn wir deinen Character in die Luft jagen.“

„Du bist ganz schön gemein.“

„Überhaupt nicht wahr! Du solltest mich nur nicht unterschätzen.“

Da er vom Treppenhaus Schritte hört, verzichtet Spidi auf eine Antwort und steht ebenfalls auf.

BlitzKey deutet mit seinen Händen Applaus für die Mitspieler im Wohnzimmer an. „Heftig, heftig! Kann’s gar nicht abwarten, bis die finale Version draußen ist! Wird sicherlich ein tierischer Spaß mit euch.“

„Wollt ihr Pizza?“, fragt Martin, der hinter ihm hertrottet. „Wir haben noch drei Gutscheine für Partypizza von der letzten Ausgabe der Schülerzeitung übrig.“

„Ihr bekommt Pizza für die Schülerzeitung?“, wundert sich Brigitta.

„So in der Art. Ein Lieferservice bezahlt die Werbung mit Gutscheinen.“

„Oh cool! Was bestellst du?“

„Was ihr wollt!“ Vincent, Thorsten und Carl stoßen zu den anderen im Wohnzimmer. Jeder der jungen Männer hält ein frisches Bier in der Hand. „Viel totes Tier! Schinken, Speck, Hackfleisch, Salami und was sonst noch dazu passt“, schlägt Vincent sofort vor.

„Will jemand vegetarisch?“, fragt Martin.

„Mr. Pixel, futter mal etwas Richtiges und nicht nur Grünzeug“, spottet Thorsten.

„Ich nehm ein oder zwei vegetarische Stücke, falls Artischocken drauf sind“, verspricht Carl. Martin sieht ihn dankbar an. „Also dann nehmen wir vegetarisch, totes Tier und am besten noch eine Quattro Stagioni?“, fasst er die Bestellung zusammen.

„Klingt nach einem Plan“, bestätigt Vincent. Die übrige Runde bejaht ebenfalls, sodass Martin zum Telefon stapft. Unterdessen verschwinden Spidi, Vincent und BlitzKey zum Rauchen auf die Terrasse. Thorsten setzt sich nach einem fragenden Blick in Richtung Carl an dessen Rechner. „Hast du die Liste aktualisiert?“

„Ja. Kannst gerne einen Blick darauf werfen.“

„Cool!“

Neugierig beobachtet Christoph, was Thorsten am fremden PC treibt. Dieser öffnet ein simples DOS-Programm, mit dem Carl die gesammelten Anwendungen, Spiele und Grafikdemos verwaltet. Da sich Christoph immer mehr verrenkt, steht Carl von der Couch auf. „Du darfst dich ruhig setzen. Meine Liste ist kein Geheimnis. Falls du irgendwas brauchst, sag einfach Bescheid.“

„Besten Dank!“, antwortet Christoph. „Ich frag halt immer BlitzKey, aber der hat keinen Brenner.“

„Warum gehst du nicht zur Quelle? BlitzKey schnorrt auch nur bei ihm hier“, klärt ihn Thorsten auf.

„Werde ich mir merken.“

Carl setzt sich auf den Fußboden neben die Rechner und öffnet das Gehäuse des Servers. Missmutig beobachtet ihn Thorsten, da sein Freund den Kabelwulst im Inneren betastet.

„Kannst du den Rechner bitte laufen lassen? Ich kopier mir gerade ein paar Spiele.“

„Kein Stress! Hab schon gesehen, dass ich Traffic im Netzwerk habe. Bin nur neugierig, wie warm die Kiste wird.“

„Ach so!“

„Hab leider zu viele Festplatten drinnen und die SCSI-Teile sind nicht nur laut, sondern werden auch verdammt heiß.“

„Kannst du mal aufhören, von deinen Supercomputern zu schwärmen?“, beschwert sich Thorsten. „Ich fühle mich dann immer so minderwertig mit meinem alten Schrott.“

„Du und minderwertig? Geht’s noch? Du bist hier der Einzige, der etwas Sinnvolles aus seinem Leben macht.“

„Krankenwagen fahren ist jetzt auch nicht so dolle!“

„Immerhin wirst du danach irgendwann mal Arzt sein.“

Thorsten zuckt mit den Schultern. „Bis dahin ist es lange hin.“

Brigitta kehrt vom Besuch der Toilette zurück. Wortlos setzt sie sich auf die breite Lehne und beobachtet die Männer. Christoph bietet ihr sofort seinen Platz an. „Willst du an deinen Rechner?“

„Darfst ruhig sitzen bleiben. Was macht ihr Schönes?“

„Die beiden schauen sich meine Liste mit verfügbarer Software an“, erklärt Carl.

„Du katalogisierst deine Downloads?“

„Machst du das nicht?“

„Dafür hatte ich bisher zu wenig Geduld. Ein Post-it auf der Hülle muss reichen.“

„Was machst du, wenn du etwas nicht mehr findest?“, fragt Christoph.

Brigitta zuckt mit den Schultern. „Im schlimmsten Fall hole ich es mir noch mal.“

„Das dauert doch ewig!“

„Geht so“, erwidert sie.

„Was hast du für eine Anbindung?“

„10 Mbit“

„Fuck!“, schnaubt Thorsten. Martin, der sich gerade auf dem Weg in die Küche befindet, lässt die leere Bierflasche beinahe fallen, als er die Bandbreite mitbekommt. Brigitta lächelt verlegen. „Mit der Anbindung solltest du einen FTP-Server betreiben“, erklärt Thorsten, „dann brauchst du nix mehr suchen. Die Leute scheißen dich dann mit Warez nur so zu.“

„Das ist doch illegal“, wehrt sie ab.

„Runterladen ist besser?“

„Hm!“ Brigitta zögert mit der Antwort, da sie sich nicht sicher ist, wie sie ihm den vermeintlichen Unterschied erklären soll.

„Ob es nun legal oder illegal ist, wäre mir persönlich erst mal scheißegal“, entgegnet Carl. „Ein Server ist auf jeden Fall eine feine Sache. Anstatt immer im IRC abzuhängen und stundenlang Warez zu suchen, solltest du dich einer Gruppe anschließen. Solange wir Kumpels sind, könnte ich mir die endlose Warterei über ISDN ersparen. Außerdem haben wir dann mehr Zeit, um miteinander zu zocken.“

Da die Raucher ins Wohnzimmer zurückkehren, beschließt Brigitta, die Bandbreite ihres Internetzugangs nicht weiter zu erörtern. Spidi geht sofort auf sie zu und versucht, sich neben ihr auf die Armlehne zu quetschen. Brigitta rutscht auf die Couch und legt demonstrativ eine Tastatur zwischen Spidi und sich. „Aber meine verehrte Dame!“, beginnt Christoph mit seinem aufgesetzten Wienerisch. „So sagen Sie doch etwas, wenn Sie an den Rechner wollen.“ Vorsichtig huscht er an ihr vorbei und tauscht den Platz mit ihr. Nervös greift sie zur Tastatur, während Spidi jeder ihrer Bewegungen folgt. Sie starrt auf den Monitor, obwohl sie nur lustlos durch einige Ordner auf dem Server navigiert.

Carl sieht vom Fußboden zu ihr auf. Mit Abscheu verfolgt er die penetranten Annäherungsversuche von Spidi. Traurig senkt er den Kopf. Gedankenverloren wandert sein Blick über die Innereien des Servers. Das Gespräch der Freunde über Computer und Videospiele blendet er aus, da er sich einzig auf das bunte Kabelgewirr in dem monströsen Gehäuse konzentriert. Angestrengt versucht er, die Enttäuschung über Brigittas Beziehung zu einem anderen zu verbergen. Erst als der Pizzalieferant an der Haustür klingelt, schreckt er aus seinen Gedanken hoch.

Das Grüppchen beendet die angeregte Unterhaltung. Martin springt aus dem Sessel auf und wetzt mit einer Eile zur Tür, die man ihm aufgrund des körperlichen Umfangs kaum zutraut. „Ihr könntet schon mal ein bisserl Platz schaffen“, bittet BlitzKey seine Gäste auf dem Weg zur Haustür. Brigitta lehnt die Tastatur am Couchtisch an, damit sie den Monitor zur Seite schieben kann. Christoph geht ihr dabei zur Hand. Auch Spidi steht auf und bietet den beiden seine Hilfe an, die Brigitta jedoch ignoriert.

„Wer will etwas zu trinken?“, fragt Thorsten auf den Weg in die Küche.

„Kannst du mir eine kalte Afri Cola mitbringen?“, bittet Carl.

„Sonst noch jemand?“

Die anderen winken ab. Martin trägt den ersten Pizzakarton wie eine Trophäe in das Wohnzimmer und stellt ihn auf dem Tisch ab. Ohne lange zu zögern, öffnet er ihn, legt die Alufolie feierlich beiseite und bewundert die frische Pizza. Enttäuscht zieht er eine Grimasse. „Das wäre dann viel totes Tier.“

„Großartig!“, freut sich Vincent.

„Leider haben die vergessen, die Pizza zu schneiden“, fügt Martin hinzu, der BlitzKey den zweiten Karton abnimmt, um diesen auf den aufgeklappten Deckel des ersten Pizzakartons zu stellen. Beim Öffnen der Schachtel strahlt er über das Gesicht. „Die vegetarische Pizza ist geschnitten!“ Selbst Carl steht nun vom Fußboden auf der anderen Seite des Tischs auf. BlitzKey versucht den dritten Karton ebenfalls auf dem Couchtisch zu platzieren, doch einer der Monitore steht im Weg. Eilig steckt Christoph die Röhre ab und gestikuliert Spidi, dass er helfen soll. Dieser greift stattdessen zur Pizza. Carl legt sein Stück zur Seite, um dem Österreicher mit dem unhandlichen Monitor zu helfen. Thorsten bringt neben Bier und Cola einen Pizzaschneider aus der Küche mit. Bevor BlitzKey den dritten Pizzakarton aufklappen kann, zerlegt Vincent bereits die Fleischpizza. Wenig später sind alle Anwesenden versorgt. Carl, Martin und Vincent sitzen auf dem Fußboden. Spidi und Christoph machen es sich auf den Sesseln gemütlich. BlitzKey nimmt vor Brigittas Rechner Platz, die daneben an Carls PC sitzt. Thorsten thront zwischen den Sesseln auf einem Küchenstuhl.

Brigitta lehnt sich an das Polster der Armlehne, die Beine an den Oberkörper herangezogen. Carl wirft immer wieder einige zaghafte Blicke zu ihr hinüber.

„Hast du was zum Rauchen?“, fragt Vincent.

„Klaro! Nach dem Essen gibt’s ein Gerät“, verspricht BlitzKey.

„Cool! Du bist ein super Gastgeber.“

„Wer ist noch dabei?“

„Ich!“, lässt Martin die Runde wissen. Da er augenblicklich mit einem riesigen Bissen kämpft, hebt Spidi eine Hand zur Bestätigung. BlitzKey sieht die anderen fragend an, doch Thorsten und Carl schütteln die Köpfe.

„Wie sieht’s mit dir aus, Christoph?“

„Ach, geh weiter!“, entgegnet der Österreicher.

„Brigitta, du rauchst auch mit?“, fragt Spidi.

„Nein!“

„Komm schon! Du solltest es wenigstens ausprobieren. Wird dir bestimmt gefallen“, drängt Spidi.

„Nein!“ Demonstrativ dreht sie ihm den Rücken zu, bevor sie den Rest ihres Pizzastücks in den Mund schiebt.

„Dann bleibt mehr für uns“, freut sich BlitzKey.

* * *

Die Haustür wird von außen geöffnet. BlitzKey blickt Richtung Flur. Von dort erklingen die leichtfüßigen Schritte seiner jüngeren Schwester, die ihren Kopf neugierig ins Wohnzimmer streckt.

„Hallo, Schwesterchen! So früh zurück?“

„Yo! Wollte nicht nass werden, falls der Regen wiederkommt.“

„Ich dachte, du übernachtest bei deinem Freund?“

„Nö, nö. Hatte ich überhaupt nicht vor.“ Zögernd betritt das dünne, rotblonde Mädchen das Wohnzimmer und nähert sich behutsam den Pizzaschachteln auf dem Tisch.

„Bedien dich ruhig“, lädt Martin sie ein.

„Danke!“ Sie bahnt sich den Weg zu den Kartons. Nach kurzem Überlegen greift sie zur vegetarischen Pizza. Carl rutscht zur Seite, sodass sie neben ihm und Brigitta, die mittlerweile ebenfalls am Boden sitzt, Platz nehmen kann. Unruhig beobachtet Martin die Schwester seines besten Freunds beim Essen. Aufmerksam mustert er den grazilen Körper, der in Jeans und Flanellhemd steckt. Während er den Rest seines zweiten Stücks in sich hineinstopft, bewundert er die violetten Fingernägel.

„Dein Freund hat kein allzu großes Stehvermögen, oder?“, fragt Vincent gespielt beiläufig.

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast sturmfrei und anstatt dich bei ihm zu vergnügen, hängst du lieber mit uns rum. Man könnte fast glauben, dass es dir hier mit den vielen Männern besser gefällt.“

„Das ist wie mit dir und deiner Freundin“, erwidert sie mit geröteten Wangen, „wenn man Kerle anfangs ausreichend zappeln lässt, fressen sie dir nach einer Weile brav aus der Hand.“

BlitzKey und Martin kichern.

„Bei uns Erwachsenen ist das etwas ganz anderes“, verteidigt sich Vincent.

„Wie lange hat sie dir heute Ausgang erlaubt“, feixt Spidi.

Vincent gibt ein unverständliches Grunzen von sich. Er steht auf, um ein viertes Stück Pizza, diesmal Quattro Stagioni, zu nehmen. Martin beäugt die Schwester auffälliger als ihr lieb ist, sodass sie sich demonstrativ von ihm abwendet. „Ist es nicht langweilig, den Jungs beim Spielen zuzusehen?“, fragt sie Brigitta, die mit dem Rest ihres zweiten Pizzastückes kämpft.

„Zuschauen ist tatsächlich sehr langweilig“, erwidert Brigitta. „Vielleicht solltest du auch mal mitspielen, das macht nämlich riesigen Spaß.“

„Du spielst mit?“

„Warum nicht?“

Die Schwester schaut Brigitta, die kaum älter als sie selbst aussieht, sprachlos an. Diese zuckt mit den Schultern und lächelt sie freundlich an. Martin steht auf und legt das letzte Stück der Fleischpizza in den Karton zu dem übrig gebliebenen Teil der Quattro Stagioni. „Will noch jemand Pizza?“, fragt er in die Runde.

„Ich nehme noch ein vegetarisches Stück“, antwortet Carl. Die anderen schütteln die Köpfe oder winken ab. Nachdem sich Carl das Stück herausgenommen hat, klappt Martin die Kartons zusammen und bringt sie in die Küche. BlitzKey sammelt die Reste der Alufolie ein und packt sie in die leere Schachtel, die er zur Mülltonne trägt. Auch die anderen Gamer werden wieder munter, stehen auf, waschen die Hände oder holen Getränke aus der Küche. Die Schwester verschwindet in ihr Zimmer im ersten Stock. Brigitta sieht sich misstrauisch um. Spidi folgt Martin ebenfalls nach oben. Sie geht in die Küche und wäscht die fettigen Finger. Dennoch kehrt sie nicht ins Wohnzimmer zurück, sondern schlendert auf die Terrasse. Entspannt beobachtet sie die untergehende Sonne, die hinter einigen dunklen Wolken zum Vorschein kommt. Nur Vincent und Carl kämpfen noch mit ihren Pizzastücken. „Wer was rauchen will, der soll mitkommen“, erinnert BlitzKey die beiden auf seinem Weg nach oben.

„Bin schon unterwegs!“, entgegnet Vincent, der sogleich aufspringt.

„Darf ich an deine Kiste?“, fragt Thorsten, der von der Toilette kommt. „Wollte noch ein paar Sachen ziehen.“

„Bedien dich. Das Zeug ist für alle da“, erwidert Carl.

„Danke!“

„Die neuesten Grafikdemos fehlen aber in der Liste. Musst du dir daher selbst auf dem Server zusammensuchen.“

„Hab mich schon gewundert, wo die abgeblieben sind.“

Schließlich steht auch Carl auf. Er wäscht seine Hände ebenfalls in der Küche, holt zwei eiskalte Dosen Red Bull und stellt sie auf die Anrichte. Durch das Küchenfenster beobachtet er für einen Moment den Himmel. Er atmet tief durch, greift zu den Dosen und schlurft auf die Terrasse. Sein Herz rast.

* * *

Brigitta sitzt auf der Holzbank neben der Terrassentür. Sie hat einen Fuß auf der Bank platziert, damit sie den Ellenbogen auf dem Knie abstützen kann. Sie balanciert ihr Kinn vorsichtig auf dem Handrücken. Fasziniert beobachtet sie das Lichtspiel der untergehenden Sonne, das die Wolkenfetzen in unendliche Varianten von Orange und Rot färbt. Als Carl die Terrasse betritt, ignoriert sie ihn scheinbar. Er zögert. „Hi!“

Sie blinzelt ihn an. Wie so oft an diesem Nachmittag zaubert Brigitta ein strahlendes Lächeln auf ihre kindlichen Gesichtszüge. Wortlos bietet ihr Carl eine Dose an. Mit einem Wink deutet sie auf die Holzbank. Er setzt sich, hält jedoch deutlichen Abstand. Zaghaft rutscht sie in seine Richtung, bis sie ihn mit der Fußspitze am Schenkel berührt. Mit einer zärtlichen, kreisenden Bewegung stupst sie ihn an. Carl antwortet mit einem Grinsen. Er öffnet seine Dose und hält sie in ihre Richtung. Sie erwidert die Geste. Behutsam stoßen die beiden miteinander an.

„Ich wollte mich noch bei dir bedanken, dass du überhaupt zur Party gekommen bist.“ Er macht eine kurze Pause, sein Blick wandert zu Boden. „Ich hoffe nur, dass meine Freunde nicht zu komisch auf dich wirken. Die sind es einfach nicht gewohnt, dass Mädels dabei sind oder mitspielen.“

„Das habe ich gemerkt.“

„Es tut mir wahnsinnig leid, dass Spidi so aufdringlich ist.“ Mehrmals blinzelt Carl in Brigittas Richtung. „Da wir in derselben Jahrgangsstufe sind, hängt der Kerl dummerweise von Zeit zu Zeit mit uns rum.“

„Du brauchst dich nicht für das ekelhafte Verhalten entschuldigen. Das muss er schon selbst machen. Außerdem ist er nicht der erste Typ, der mir an die Wäsche will.“

„Dann bin ich irgendwie beruhigt“, erwidert Carl, der sich vergeblich bemüht, Brigitta in die Augen zu sehen.

„Deine übrigen Freunde sind dafür aber alle ziemlich liebenswert und sehr sympathisch.“ Sie streckt sich ein wenig und blinzelt Richtung Sonne, die nun die Wolkenfetzen in tiefe Rottöne taucht. Carl ignoriert das Lichtspiel, da er ihr Gesicht betrachtet, auf dem sich die warmen Farben widerspiegeln. Mit trauriger Miene sieht er sie an. Sie bemerkt, dass sein Lächeln schwindet. „Warum so schweigsam? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Nein!“ Er quält sich ein Lächeln ab. „Mir fällt es nur schwer, anderen Menschen zu sagen, was ich denke.“

Brigitta lächelt ihn an. Ihre Augen strahlen absolute Ruhe aus.

„Ich bin ziemlich überrascht, dass du heute hier bei uns und nicht bei deinem Freund bist.“

„Ach so!“ Sie fährt sich mehrmals durch die Haare. „Das war nur eine Ausrede, um Spidi abzuwimmeln.“

Carl seufzt.

„Ich bin seit zwei, nein drei Jahren solo“, gesteht Brigitta. Nervös wandern ihre Blicke bei diesen Worten über die Natursteine der Terrasse.

„Oh!“

„Hast du denn keine feste Freundin?“, fragt sie. Behutsam hebt sie den Kopf, um Carls Antwort nicht nur zu hören, sondern ihn dabei auch zu beobachten.

„Die meisten Mädchen sind bisher schreiend davon gerannt, wenn sie meine Freunde oder meine PCs kennengelernt haben. Kiki, die einzige Frau, die das nicht gestört hat, ist wohl irgendwann daran verzweifelt, dass ich besser mit Maschinen als mit Menschen umgehen kann.“

„Vielleicht solltest du dir ein Mädchen suchen, das nicht nur deine Interessen teilt, sondern dich auch als Einzelgänger mag?“

„Ich denke, es gibt nur wenige Menschen, die in diese Kategorie fallen. Das macht es schwer ein Mädchen zu finden, das ähnlich tickt.“

Brigitta trinkt einen langen Schluck aus der Dose, bevor sie an Carl heranrutscht. Ungeniert starrt sie ihm in die Augen. Er sieht erst zur Seite, doch da er merkt, dass sie die Augen nicht von ihm nimmt, erwidert er den Blick. Vorsichtig streckt er eine Hand aus. Zögernd neigt sie den Kopf zur Seite, bis ihre Wange seine Handfläche berührt. Sie legt ihm ihrer Hand liebevoll auf die Schulter. Mit sanftem Druck signalisiert sie ihm, die zaghafte Berührung zu intensivieren. Mit dem Daumen streicht er ihr zärtlich über die Wange, bis er ihre Nasenspitze für einen Moment anstupst. Sie lächelt ihn erwartungsvoll an. Carl stellt die Dose auf den Boden. Unbeholfen beugt er sich zu ihr. Behutsam bewegt sie ihren Körper auf ihn zu und legt ihm die Hand in den Nacken. Mit den Fingerspitzen krault sie ihn so lange, bis sich die Nackenhaare leicht aufstellen. Brigitta schließt die Augen. Zitternd berührt er ihre Lippen. Die Küsse sind zögerlich und ungeschickt. Die beiden spüren, wie der jeweils andere auf einen Kuss mit einem intensiveren Kuss antwortet. Während sie sich küssen und liebkosen, greift sie mit ihrer freien Hand nach seiner. Zärtlich legt sie diese auf die Innenseite ihres Oberschenkels. Davon überrascht unterbricht Carl das Spiel der Zungen, doch Brigitta bedeutet ihm mit sanftem Druck in den Nacken, dass er fortfahren soll. Liebevoll streichelt er über die Innenseite ihres Schenkels, während sie ihre Hand auf seinen flachen Bauch unter das T-Shirt legt. Sie spürt seine stetig steigende Stimmung.

Die beiden schrecken hoch, als Spidi die Terrassentür aufreißt. Wütend stiert ihn Carl an. Sprachlos und mit versteinertem Gesichtsausdruck fixiert er das Pärchen. Behutsam lösen die beiden ihre Körper aus der Umarmung, sodass Brigitta den Störenfried ebenfalls sieht. Als sie die schockierte Miene bemerkt, grinst sie herausfordernd. „Hast du es endlich kapiert?“

„Shit!“ Unbeholfen dreht sich Spidi um und stolpert zurück ins Wohnzimmer. Brigitta streicht Carl kurz durch die Haare.

„Wollen wir reingehen?“

„Ja“, erwidert er mit gerötetem Gesicht. „Ich brauche aber einen Moment.“

Brigitta bemerkt die Beule in seiner Hose und beginnt zu kichern. Nachdem sie sich beruhigt hat, greift sie zu den Haarspangen. Routiniert bringt sie die zerzausten Strähnen in Ordnung. Voller Neugier verfolgt er ihre Handbewegungen. Die Erektion lässt sichtbar nach, sodass er aufsteht und ihr die Hand reicht. Gemeinsam kehren die beiden ins Haus zurück.

Im Wohnzimmer herrscht Totenstille. Ein halbes Dutzend Augenpaare folgt dem Pärchen auf dem Weg zur Couch. Carl kann sein Grinsen kaum unterdrücken. Martin versucht die angespannte Stille zu beenden, indem er ihn betont neugierig fragt: „Thorsten hat erwähnt, dass du neue Grafikdemos besorgt hast?“

„Ja. Ich hab noch ein paar Sachen gefunden, die wir nicht hatten. Sind auch einige Intros für die nächste Assembly dabei.“

„Oh, cool! Dürfen wir die Demos sehen?“

„Na klar“, erwidert Carl, während er vor dem Rechner Platz nimmt. Brigitta lässt seine Hand los, schmiegt sich jedoch eng an ihn. Martin setzt sich neben ihr auf die Armlehne, BlitzKey quetscht sich zwischen Thorsten und Carl auf die Couch, damit er den Monitor ebenfalls sehen kann. Die anderen bleiben hinter der Polstergarnitur stehen. Carl navigiert in der DOS-Konsole durch das Laufwerk, bis er den Ordner mit den Downloads findet. Nach einem Wink an Vincent, der das Licht im Wohnzimmer ausschaltet, startet er ein Grafikdemo. Gebannt starrt er mit den Freunden auf den Monitor. Erst nachdem die Musik aus den kleinen Boxen neben der Röhre erklingt, lehnt er sich entspannt zurück. Brigitta legt ihren Arm um ihn. Begeistert folgt sie den bunten Animationen auf dem Monitor.

„Ist das Ding neu?“, wundert sich Martin.

„Erst ein paar Tage alt. Ist doch geil oder?“

„Yep!“, bestätigt BlitzKey.

„Das wird übrigens gerade alles in Echtzeit auf dem PC gerechnet“, fügt Martin stolz hinzu.

„Nicht schlecht!“, erwidert Brigitta.

„Du musst ihr danach unbedingt mal 2nd Reality zeigen!“, drängt Martin.

„Wird das uralte Teil nicht irgendwann langweilig?“, mosert BlitzKey.

„Nein! Ist immer noch eins der besten Grafikdemos auf PC.“

„Wir sind eigentlich nicht hier, um uns drei Jahre alte Demos anzugucken, die fast jeder kennt“, wirft Carl in die Diskussion ein.

„Ich seh’s mir später mit dir an, oki?“

„Gerne“, verspricht er seiner Freundin.

„Fahrt ihr dieses Jahr auch wieder zur Assembly?“, fragt Spidi dazwischen.

„Das hängt davon ab, ob irgendjemand ab erstem Juli eingezogen wird. Außerdem weiß ich nicht, ob Thorsten Zeit und Lust hat.“

„Zeit und Bock hätte ich, aber ich hab keine Ahnung, ob der Bus durch den nächsten TÜV kommt. Meine Alte ist bestimmt begeistert, wenn ich ne Woche mit euch Nasen rumhänge, anstatt mit ihr in den Urlaub zu fahren.“

„Nimm Steffi doch mit!“, schlägt Martin vor. „Ihr seid jetzt verheiratet, da kann sie nicht Nein sagen.“

„Dann schläfst du dieses Mal aber auf dem Dach. Das verspreche ich dir!“

„Wohin wollt ihr fahren?“, fragt Brigitta.

„Zur Assembly ´96. Das ist die größte Computerparty in Europa, wahrscheinlich sogar weltweit. Dort hängen Tausende Computerfreaks wie wir rum und machen nix anderes als Zocken und Grafikdemos gucken“, schwärmt Thorsten.

„Das klingt nicht schlecht, da wäre ich auf jeden Fall dabei.“

„Das Problem ist leider, dass sie im August in Helsinki stattfindet“, fügt Carl hinzu.

„Oh! Das ist wirklich weit weg.“

„Letztes Jahr sind wir, also Carl, BlitzKey, Mr. Pixel und ich“, ergänzt Thorsten, „nach Finnland gefahren. War ein Mordsspaß, aber auch eine ziemlich anstrengende Fahrt für ein verlängertes Wochenende.“

„Vielleicht klappt es noch?“, wundert sich Brigitta. „Wir könnten einen zweiten Bus oder Camper besorgen, dann kann deine Freundin auch mitkommen, oder?“

„Mal sehen. Meine Frau hat bestimmt keine große Lust darauf und eigentlich sollte ich Krankenwagen fahren, damit ich genügend Stunden fürs Studium zusammenkriege.“

„Ich verstehe!“

„Falls es mit Zivi und Bund nicht zu ätzend aussieht, organisieren wir eventuell unsere eigene Party in München“, posaunt BlitzKey heraus.

„Echt?“

„Wir hatten mal so eine Idee, aber bisher fehlte uns die Zeit, es tatsächlich umzusetzen. Wer kommt schon nach München? Die meisten Partys dieser Art finden immerhin in Skandinavien statt.“

„Umso besser, dann hättet ihr hier eine echte Marktlücke gefunden!“

„Sag mal, du studierst nicht zufälligerweise Wirtschaftsinformatik im Nebenfach?“, scherzt Vincent.

„Nope! Das ist überhaupt nicht mein Fall“, antwortet sie.

„Vielleicht solltet ihr Brigitta mal euer eigenes Demo zeigen?“, wirft Spidi spöttisch in die Runde.

„Ihr programmiert eigene Grafikdemos?“

„Die Jungs haben es mal versucht, nachdem ich meins geschrieben habe.“

„Spidi, halt bloß die Klappe! Was du probiert hast, ist Schrott und hat nicht mal Musik“, entrüstet sich BlitzKey.

„Immerhin habe ich einen vierdimensionalen Hypercube animiert.“

„Das ist aber auch das Einzige, das an deinem Teil gut ist. Hast du den Quellcode nicht aus irgendeiner Computerzeitschrift abgetippt?“

Spidi errötet, während die anderen in Gelächter ausbrechen. „Nein, ich habe dort nur den Algorithmus für den Würfel her, die Animation und alles andere ist von mir.“

„Ist schon gut“, beruhigt ihn BlitzKey. „War nicht böse gemeint, aber wir haben zu fünft nicht mal ansatzweise etwas zusammengebracht, was diese Typen auf den Partys zeigen. Dein Demo ist kein Stück besser.“

„Schon gut! Macht euch nur über mich lustig.“

Da Carl die Diskussion der beiden zu blöd wird, startet er kurzerhand den eigenen Versuch eines Demos. „Der Code stammt hauptsächlich von BlitzKey und Thorsten, Martin und ich haben die Grafiken und den Großteil der Animationen gebastelt und die Musik kommt von Christoph.“

Brigitta verfolgt das gezeigte Grafikdemo trotz der vielen kleinen und teilweise auch größeren Fehler mit tiefer Bewunderung. Nach einem Flug durch einen animierten Tunnel bricht das Demo unverhofft ab. „Das war es leider schon. Es fehlen noch ein paar Dinge, die wir nicht hinbekommen haben und der Übergang nach dem Tunnel hat so viele Bugs, dass er fast immer crasht.“

„War doch gar nicht schlecht“, ermutigt sie die Jungs.

„Wir hatten nie Zeit es fertigzustellen, obwohl wir seit fast zwei Jahren daran basteln.“

„Schade eigentlich. Hätte mich interessiert, wie es endet.“

„Können wir jetzt endlich weiterspielen?“, drängt Vincent. „Ich warte schon den ganzen Nachmittag auf die neuen Level für Duke Nukem, die BlitzKey besorgt hat.“

„Vincent hat ausnahmsweise recht. Wir können Demos ein anderes Mal ansehen“, schließt sich Christoph an.

„Dann kopiert euch das Map-Pack vom Server“, drängt Thorsten.

Die Traube um Carls Monitor löst sich auf. Die Mitspieler kehren zu ihren PCs zurück, versorgen sich mit Getränken oder unternehmen einen letzten Abstecher auf das stille Örtchen, bevor die nächste Spielrunde startet. Pflichtbewusst lädt Martin die neuen Level auf den Gameserver, während Carl Richtung Toilette verschwindet.

„Du spielst mit deinem Freund?“, fragt Spidi.

„Mit wem sonst? Etwa mit dir?“

„Ne, klar. Ich wollte nur wissen, ob wir eine Chance gegen euch haben.“

Brigitta lacht. „Mal sehen, wie gut die Level sind.“

* * *

Im Wohnzimmer des Einfamilienhauses sitzen müde Gestalten vor den PCs. Ihre Konzentration wird vom Klingeln an der Haustür unterbrochen. Vincent stürmt von seinem Platz in der Küche zur Tür. „Das ist meine Alte“, erklärt er den anderen auf dem Weg durchs Wohnzimmer.

„Wie spät ist es denn?“, fragt Carl in die Runde.

Spidi gähnt hörbar.

„Kurz nach zwei Uhr!“, verkündet Christoph.

„Claudia ist spät dran.“

„War es das schon?“, fragt Brigitta.

„Leider ja!“

Spidi und Christoph loggen sich aus dem Spiel aus und schalten ihre Computer aus. „Zeit zu packen“, murmelt Christoph.

Carl schaltet seinen PC ebenfalls aus.

„Menno! Ich hätte Mr. Pixel fast noch einmal erwischt“, beschwert sich Brigitta, da er den Gameserver herunterfährt.

„Bist du nicht müde?“

„Nicht im Geringsten! Das ist meine produktivste Tageszeit.“

Carl lacht. „Wahrscheinlich sind Martin und BlitzKey froh, dass du sie nicht mehr killen kannst.“

„Hä?“

„Die bekommen heute Nacht bestimmt Albträume.“

Vincents Freundin betritt das Wohnzimmer in einem eleganten Abendkleid. „Hallo, Leute! Sorry, dass ich so spät dran bin, aber unser Mädelabend hat heute länger gedauert.“

„Wir haben uns prächtig amüsiert“, beruhigt sie Brigitta.

„Eigentlich haben sich nur die beiden amüsiert“, klärt BlitzKey Claudia mit einem Fingerzeig auf Brigitta und Carl auf, als er im Wohnzimmer erscheint. „Wir Normalsterblichen waren nur Deko.“

„Jetzt übertreib mal nicht, BlitzKey!“, wehrt Carl ab.

„Du bist gut. Ihr beiden habt jedes Match gewonnen. Selbst als ihr gegeneinander gezockt habt, war immer einer von euch Highscorer.“

„Ich helfe Vincent mit seinem Rechner“, unterbricht Carl die Nörgelei. Claudia sieht sich gelangweilt um. Verloren wartet die Rothaarige mit den auffälligen Sommersprossen im Wohnzimmer. Sie wirkt im Chaos der LAN-Party völlig deplatziert. „Willst du ein Bier oder eine Cola?“, fragt BlitzKey.

„Nein danke. Ich muss fahren.“

„Red Bull ist auch noch da.“

„Lieber nicht.“

Vincent schultert eine Leinentasche mit CSU-Aufdruck, bevor er das Towergehäuse hochhebt. Claudia hält ihm die Tür zum Flur und danach die Haustür auf. Carl folgt den beiden mit dem Monitor. Die anderen Mitspieler packen Kabel, Mäuse und Tastaturen in Taschen oder Rucksäcke. Mühelos verschwindet das provisorische Netzwerk. „Kannst du mir mit Carls Rechnern helfen?“, bittet Brigitta Christoph, der seine Ausrüstung bereits zusammengepackt hat.

„Bleibt mir gar nix anderes übrig, nachdem du mich eingeparkt hast.“

„Sorry, aber Carl meinte, das wäre in Ordnung.“

„Ist es auch“, erwidert er grinsend.

Unterdessen erscheint Martin im Wohnzimmer. Anstatt mitzuhelfen, holt er aus der Küche Bier und Pizza. Spidi gähnt bei nahezu jedem Handgriff, den er an seinem PC tätigt. Martin setzt sich auf einen Sessel und beobachtet die anderen bei der Arbeit.

„Musst du deinen Rechner nicht abbauen?“, fragt Brigitta.

„Nein. Ich penne heute bei BlitzKey. Vielleicht zocken wir noch eine Runde gegeneinander. Dann hab ich wenigstens mal die Chance ein Deathmatch zu gewinnen.“

„So schlecht warst du nun auch nicht, dir hat nur das Glück gefehlt“, versucht ihn Brigitta aufzumuntern.

„Ich war nie besonders gut bei solchen Games, wenn ich ehrlich bin.“

Während Spidi unter dem Couchtisch herumkriecht, um die letzten Kabel einzusammeln, warnt ihn Thorsten, der bereits mit seinem eigenen PC nach draußen unterwegs ist: „Wenn du noch lange brauchst, darfst du wieder Claudia anbetteln oder du übernachtest bei BlitzKey. Ich fahr sonst ohne dich.“

„Bin fast fertig.“

BlitzKey und Carl kehren nach der Verabschiedung von Vincent und dessen Freundin ins Wohnzimmer zurück. „Vielleicht solltest du aufhören, den süßen Hintern von Carls Freundin anzugaffen!“, setzt Thorsten nach. „Die lässt dich sowieso nicht ran. Die hat sich nicht umsonst unseren Großen geangelt.“

Spidi schreckt hoch und stößt sich den Kopf an der Tischplatte. Carl nickt Thorsten kurz zu, bevor er dessen Monitor hochhebt. BlitzKey hilft Spidi beim Aufräumen des Kabelgewirrs.

„Bin fast fertig“, schnaubt dieser kurzatmig. „Du brauchst dir also keinen Sorgen machen, dass es heute Nacht eine Ménage-à-trois gibt.“

„Alter! Wenn dich der Bärtige hier vergisst, pennst du auf der Couch, das darfst du mir glauben.“

„Hab schon verstanden.“

Ungefragt holen Thorsten und Carl Spidis Monitor und Gehäuse im Wohnzimmer ab. „Mach hinne! Ich fahr jetzt!“, drängelt Thorsten. Hektisch stopft der blondierte Möchtegern-Playboy die letzten Kabel in den Rucksack, während er seiner Mitfahrgelegenheit zum VW-Bus hinterherläuft.

„Hätte ihn Thorsten tatsächlich zurückgelassen?“, fragt Brigitta.

„Ich denke schon“, antwortet Martin, „schließlich ist er bei einer anderen LAN-Party schon mal ohne Spidi gefahren, als der den großen Macker markiert hat. Damals hat er sich über Thorstens Ehefrau lustig gemacht, sodass er auf der Couch pennen musste.“

„Thorsten ist wirklich verheiratet?“

„Ja und er hasst es, wenn man ihn damit aufzieht, da er immer geschworen hat, dass er nie heiraten wird.“

„Gut zu wissen.“

„Keine Sorge, du bist Carls Freundin, da hast du nix zu befürchten. Der Bärtige ist eigentlich ein lieber Kerl, aber seitdem er Tag und Nacht im Krankenwagen unterwegs ist, tickt er manchmal ein bisserl komisch.“

Seelenruhig packen Brigitta und Carl ihre Ausrüstung ein. Christoph hilft ihnen beim Aufwickeln der Kabel. Martin sieht amüsiert zu, während er mit Pizza und Bier beschäftigt ist. BlitzKey wickelt das lange Koaxialkabel, das sie vorher im Treppenhaus verlegt haben, auf die Kabeltrommel. „Hast du alles?“, fragt er Carl.

„Sieht danach aus. Soll ich die kurzen Kabelstücke hier lassen?“

„Wäre ne gute Idee, dann müssen wir beim nächsten Mal weniger neue Kabel crimpen.“

„Stimmt auch wieder. Die meisten Games unterstützen mittlerweile acht Leute. Da werden unsere Runden sicherlich wachsen.“

„Wird aber ein wenig eng, wenn meine Alten hier sind.“

„Mal schauen, vielleicht können wir mal wieder bei mir zocken, wenn mein Vater auf Geschäftsreise ist.“

„Das wäre echt Klasse!“

„Hast du den Savegame-Editor für Descent 2 schon fertig?“

„Savegames funktionieren, aber ich muss die alte Oberfläche umstricken, da in dieser Version ein paar Dinge hinzugekommen sind.“

„Was glaubst du, wie lange du dafür brauchst?“

BlitzKey zuckt mit den Schultern. „Auf einer einzelnen Mühle dauert das Austesten ewig, da meine Hacks oft das Game crashen. Daher muss ich die Kiste ständig neu starten.“

„Vielleicht kann ich noch nen Rechner zusammenschrauben, wenn dir ein älterer PC zum Testen reicht“, schlägt Carl vor.

„Solange das Spiel startet, soll’s mir recht sein.“

„Okay. Ich bastle dir etwas zusammen.“

Während sich BlitzKey und Carl über Software unterhalten, wippt Brigitta unruhig von einem Bein auf das andere. Er beachtet sie jedoch nicht, da er zu sehr in sein Gespräch vertieft ist. „Wollen wir ein paar Sachen in den Twingo packen?“, bettelt sie Christoph an, der den beiden ebenfalls zuhört.

„Gerne“, bestätigt er. „Dann komm ich wenigstens halbwegs früh nach Hause.“

„Kannst du den großen Rechner nehmen?“

Christoph nickt zustimmend. Vorsichtig hebt er das schwere Gehäuse des Servers hoch. Martin schlingt den Rest der kalten Pizza hinunter, wischt die fettigen Finger am T-Shirt ab und folgt den beiden mit einem weiteren Gehäuse nach draußen.

„Gibt’s sonst noch etwas, das ich dir besorgen soll?“, fragt Carl.

„Eigentlich bin ich ganz gut mit Software versorgt. Falls du an eine neuere Betaversion von Windows NT 4.0 herankommst, wäre ich dir aber sehr verbunden.“

„Ich schau mal, ob ich Brigitta dazu überreden kann, dass ich es bei ihr in der Uni ziehen darf. Per ISDN dauert mir das zu lang.“

„Schon klar“, erwidert BlitzKey. „Seid ihr beiden tatsächlich zusammen oder war das vorhin nur Show, damit Spidi mit der Baggerei aufhört?“

Vorsichtig schaut sich Carl nach den anderen um. „Sieht danach aus. Das Rumgeknutsche auf der Terrasse war definitiv mehr als Show.“

„Freut mich für dich!“, BlitzKey schlägt ihm freundschaftlich auf die Brust. „Die Kleine ist wirklich eine Nette. Die passt bestimmt besser zu dir als Kiki.“

„Ich hoffe es.“

„Jetzt muss ich mir nur noch eine Bikervariante von deiner Kleinen suchen.“

Carl antwortet seinem Freund mit einem verschmitzten Lacher. Da Christoph zurück ins Zimmer eilt, helfen sie nun ebenfalls, den Twingo zu beladen. Nach wenigen Minuten ist das Wohnzimmer von der Invasion der Videogamer befreit. Carl schaut sich ein letztes Mal um, doch Brigitta zerrt ungeduldig an seiner Hand und schleift ihn zur Haustür. Dort stehen Martin und BlitzKey. „Danke für den tollen Nachmittag und den schönen Abend. Ich freue mich schon auf das nächste Mal.“

„Das muss ich mir noch überlegen“, antwortet BlitzKey. „Immerhin will ich auch mal gewinnen.“

Martin kichert leise vor sich hin.

„Dann lass uns Descent zocken!“

„Wieso denn das?“

„Ich hab Probleme mit räumlicher Wahrnehmung. Im freien 3D-Raum habe ich keine Chance gegen euch. Da braucht Martin nicht mal üben.“

„Wieso hast du das nicht früher verraten?“

„Warum sollte ich mir den Spaß mit euch verderben?“

BlitzKey grinst sie daraufhin an und streckt ihr kameradschaftlich die Faust entgegen. Verunsichert erwidert Brigitta die Geste. Sanft stoßen die beiden ihre Fingerknöchel aneinander. „Du bist tougher als ich dachte! Das gefällt mir.“

„War wirklich lustig mit euch.“

„Danke für die Party, BlitzKey! Wir sehen uns am Montag“, schließt sich Carl an. An Martin gerichtet fährt er fort: „Nicht vergessen, die Hände gehören auf die Bettdecke!“

Dieser lacht nur.

„Ich bin schon froh, wenn er morgen im richtigen Bett aufwacht“, murmelt BlitzKey.

* * *

Konzentriert blickt Brigitta durch die Rückscheibe auf BlitzKey, der sie per Handzeichen aus der Auffahrt dirigiert. Gemächlich rollt der Twingo auf die Straße. „Sind BlitzKey und Mr. Pixel ein Pärchen?“

„Wie kommst du darauf?“

„Schlafen die heute Nacht nicht im gleichen Bett?“

Carl lacht für einige lange Momente. Brigitta folgt der Straße durch das Wohngebiet. „Martin hatte mal etwas mit BlitzKeys Schwester.“

„Ist die nicht ein wenig jung für ihn?“

„Wie man’s nimmt“, seufzt er. „Sie sind wohl auf der Party zu ihrem vierzehntem Geburtstag zusammengekommen. Einige Monate später hat ihre Mum die beiden gemeinsam unter der Dusche erwischt.“

„Autsch!“

„War eigentlich nicht sonderlich wild, da sich Martin und BlitzKey seit der Grundschule kennen und BlitzKeys Eltern recht cool sind. Sonst würden wir auch nicht so oft bei ihm abhängen und dort unsere LAN-Partys veranstalten. Seiner Schwester war das Ganze trotzdem äußerst peinlich. Deshalb hat sie wenig später mit Martin Schluss gemacht.“

„Standen die beiden denn aufeinander?“

„Bei ihr bin ich mir nicht sicher, aber Martin bestimmt. Seine Freundinnen sind seit der siebten Klasse eigentlich immer aus der siebten Klasse.“

„Oh!“

Carl schweigt für einige Momente. „Auch wenn es komisch klingt, aber Martin ist kein Perverser. Die Mädels sind immer recht glücklich mit ihm, obwohl er eine Ecke älter ist.“

Brigitta räuspert sich kurz, doch fällt ihr zu Carls Worten nichts ein. „Wohin soll ich fahren?“, fragt sie, als es wieder anfängt zu nieseln.

„Wie meinst du das jetzt? Ich dachte, du bringst mich nach Hause?“

„Ich, ich ... Mist!“ Sie schluckt. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“

„Dann sag, was du denkst?“

„Ich möchte noch eine Weile in deiner Nähe sein.“

„Geht mir genauso.“

Erleichtert atmet Brigitta durch. Sie fährt sich mit den Fingerspitzen durch die Haare. „Geht dir das nicht zu schnell?“

„Vielleicht ein bisschen, aber irgendwie auch nicht.“ Carl stockt für einige Atemzüge. „Nein! Ich finde es genau richtig.“

„Dann ist es gut. Ich dachte nur, wir sind möglicherweise etwas unnormal und überstürzen das Ganze?“

„Ich habe keine Ahnung, wie sich normale Leute ineinander verlieben.“

Brigitta antwortet mit einem kurzen, freundlichen Kichern.

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