Читать книгу p¡r@t€Z - Jo L.L. Roger - Страница 17
0b0001010: [Business unusual]
ОглавлениеDie dunkelblaue E-Klasse stoppt vor einem der gepflegten Reihenhäuser. Vincent steigt aus. Wie immer trägt er Hemd und Jackett, doch anstatt der Jeans hat er heute die dazu passende Stoffhose angezogen. Gemächlich trottet er zur Haustür der Nummer 79 und drückt die Klingel. Während er wartet, betrachtet er die Blumenbete im Vorgarten. Die Pflanzen stehen militärisch in Reih und Glied. Hinter der Tür hört er Schritte, dennoch dauert es einige Momente, bis ihm Carl in Shorts und T-Shirt öffnet.
„Guten Morgen!“
„Hey, Vincent!“
„Bist du bereit?“
„Ähm, nö. Es ist noch mitten in der Nacht.“
Vincent grinst ihn spöttisch an. „Es ist kurz vor neun Uhr. Falls du dich erinnerst, hatten wir früher um diese Zeit Schule.“
„Das halte ich für ein Gerücht.“
„Brauchst du lange?“
„Gib mir zwei Minuten oder so“, erwidert Carl, der die Haustür schließt. Kopfschüttelnd schlendert Vincent zum Mercedes zurück. Er stoppt vor der Beifahrertür und betrachtet seine Spiegelung in der Seitenscheibe. Selbstverliebt fährt er sich durch die Haare. Aus einer Jackentasche holt er eine Krawatte, die er mit einem doppelten Windsorknoten bindet. Ungeduldig schaut er auf die Haustür, hinter der Carl etwas macht, das er lieber nicht im Detail wissen möchte. Gelangweilt schlurft er zur Fahrertür des Benz. Carl stürmt mit einem Rucksack aus dem Haus in Richtung Mercedes und steigt ein. „Ich bin so weit“, keucht er.
„In Ordnung!“, grinsend mustert Vincent seinen Freund, der in schwarzen Jeans und T-Shirt neben ihm sitzt und eine Sonnenbrille aus dem Etui fischt. „Dir ist hoffentlich bewusst, was heute für ein Tag ist?“
„Dienstag. Wieso fragst du?“
„Na ja!“ Vincent stößt einen langen Seufzer aus. „Irgendwie wirkst du etwas underdressed.“
„Du vergisst, dass ich bei den Kundengesprächen den hippen Kreativen darstelle, damit du als seriöser Verkäufer rüberkommst.“
„Das meinte ich jetzt nicht“, erwidert Vincent, der die E-Klasse in Bewegung setzt. „Willst du danach so in die Schule gehen?“
„Ja! Glaubst du etwa, dass ich mir eine Krawatte umbinde?“
Der Mercedes parkt direkt vor dem Eingang eines Bürogebäudes am Rande des großflächigen Firmengeländes. Vincent und Carl sind die einzigen Gäste auf den Besucherparkplätzen. Einige Angestellte in Anzügen rauchen vor dem Seiteneingang. „Dann schauen wir mal, ob sie angebissen haben“, seufzt Vincent.
„Vermutlich! Sonst hätte der Typ keinen Termin ausgemacht.“ Die beiden steigen aus der E-Klasse und gehen zum Haupteingang. An der Empfangstheke spricht Vincent die jüngere der beiden Damen an: „Guten Morgen! Wir haben einen Termin mit Herrn Weishaupt.“
„Guten Morgen! Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Die schlanke Brünette deutet auf ein bequemes Ledersofa gegenüber der Theke. „Herr Weishaupt ist momentan noch in einer Besprechung, aber ich denke, dass er in einigen Minuten für Sie Zeit haben wird.“
„Wunderbar!“, erwidert Vincent.
„Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit einen Kaffee anbieten?“
„Nein danke!“ Gemächlich schlurfen die beiden zur Couch. Vincent flüstert Carl zu: „Ich glaub, die steht auf dich? Hast du gesehen, wie sie dir auf den Arsch geguckt hat.“
„Auf so etwas achte ich ehrlich gesagt nicht.“
„Solltest du aber! Selbst wenn es mit deiner Computermaus noch gut läuft, ist es nie verkehrt, weitere Optionen im Auge zu behalten. Schließlich könnte es dir mit ihr irgendwann wie mit Kiki ergehen.“
„Spinnst du? Ich werde mir nach zwei Monaten mit Brigitta doch keine andere suchen.“
„Die kleine Computermaus hat es dir angetan?“
„Das kannst du laut sagen“, erwidert Carl.
„Dann kundschafte ich aus, ob das Schneckchen am Empfang Interesse an meinem knackigen Hintern hat.“
„Hast du mit Claudia Schluss gemacht?“
„Noch nicht! Sie nervt mich aber, weil sie unbedingt mit mir zusammenziehen will.“
„Verstehe.“
Die Empfangsdame nähert sich den beiden, sodass Vincent verstummt, um sie mit einem gekünstelten Lächeln anzugaffen.
„Herr Weishaupt hat nun Zeit“, erklärt sie den Besuchern.
„Vielen Dank!“, antwortet Vincent. Die jungen Männer stehen auf und folgen ihr durch einen Korridor. Vincent behält ihr attraktives Hinterteil im Visier, während Carl fasziniert das Muster des Linoleumbodens begutachtet. Die Dame klopft an einer Tür, öffnet diese und bittet die beiden mit einer freundlichen Geste hinein.
Im Raum sitzt ein Enddreißiger hinter einem sterilen Schreibtisch, auf dem nur ein einsamer alter Macintosh Computer im beigefarbenen Gehäuse steht. Sofort begrüßt sie der Marketingleiter per Handschlag. „Schön Sie wiederzusehen, meine Herren!“
„Die Freude ist ganz auf unserer Seite“, erwidert Vincent.
„Nehmen Sie doch Platz!“ Herr Weishaupt deutet auf einen runden Tisch mit Designerstühlen am anderen Ende des Büros. „Ich habe die drei verschiedenen Entwürfe der Website ausführlich studiert und bin von Ihren Designideen absolut begeistert.“
„Das freut uns zu hören!“, bedankt sich Vincent. „Wir sind natürlich sehr neugierig, wie Sie sich die zukünftige Präsenz im World Wide Web vorstellen.“
Herr Weishaupt öffnet eine Mappe und breitet mehrere farbige Ausdrücke des Designentwurfs auf dem Konferenztisch aus. „Das wäre der Entwurf, für den wir uns letztendlich entschieden haben. Die Umsetzung des Firmenlogos gefällt mir dort besonders gut“, lobt der Marketingleiter. „Das hat etwas Dynamisches!“
„Wir müssen uns bei Ihnen für die künstlerische Freiheit bedanken“, erwidert Vincent, „da viele unserer Kunden sehr strikte Vorgaben Ihrer Corporate Identity haben, ist es oft aufwendig, ein Printlogo ansprechend im Web umzusetzen.“
„Das wollen wir natürlich vermeiden. Schließlich sollen unsere Kunden sehen, dass wir nicht nur mit unserem KFZ-Zubehör innovative Wege gehen, sondern auf der ganzen Linie ein modernes Unternehmen sind.“
„Sollen wir diesen Entwurf exakt umsetzen oder haben Sie daran Änderungswünsche?“, hakt Carl nach.
„Einige kleine Vorschläge hätte ich in der Tat. Können wir uns farblich ein wenig mehr am Thema Ferrari orientieren, damit die Besucher der Seite unser Unternehmen sofort mit dem Rennsport assoziieren?“
„Selbstverständlich können wir die Farbpalette entsprechend variieren.“
„Großartig! Ich sehe, wir verstehen uns“, lobt Herr Weishaupt erneut. Geschäftig blättert er durch die farbigen Ausdrucke des Designentwurfs. Carl notiert unterdessen die Änderungswünsche. Der Marketingleiter deutet auf ein Ampelsymbol. „Wäre es möglich, diese Statusampel mit einer Animation aufzupeppen?“
„Das ist kein Problem“, entgegnet Carl mit einem verwunderten Gesichtsausdruck.
„Das würde mir persönlich sehr gut gefallen, da es so etwas Multimediales rüberbringt“, schwärmt Herr Weishaupt.
„Wunderbar!“, versucht Vincent die Unterhaltung abzukürzen. „Dann benötigen wir eigentlich nur Ihre schriftliche Auftragsbestätigung für den gewünschten Designentwurf, damit wir sofort beginnen können“.
„Außerdem brauchen wie eine digitale Fassung des Produktkatalogs, der online gestellt werden soll“, ergänzt Carl.
„Selbstverständlich, meine Herren!“ Der Marketingleiter steht auf und druckt den Auftrag am Mac aus. Nach einigen Tastenanschlägen und Mausklicks hören die Jungunternehmer das penetrante Hämmern eines Nadeldruckers. Die beiden sehen sich amüsiert an. Herr Weishaupt unterschreibt den Ausdruck feierlich und übergibt ihn mit einer CD-ROM an Vincent. „Wir sind über die Zusammenarbeit mit Ihrem Unternehmen und das entgegengebrachte Vertrauen hocherfreut“, bedankt sich Vincent. Er steht auf, um Herrn Weishaupt die Hand zu schütteln. Carl steckt Auftragsbestätigung und CD zusammen mit seinem Block in den Rucksack, bevor er ihm ebenfalls die Hand schüttelt.
„Dann sehen wir uns spätestens zur Präsentation der ersten digitalen Version. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“, verabschiedet der Marketingleiter die beiden. Entspannt kehren die jungen Männer auf den Parkplatz zurück. „Oh mein Gott, war das einfach“, stellt Carl im Wagen fest.
„Hatte ich dir doch gesagt, dass diese Typen alle keine Ahnung vom Web haben. Ein bisserl mit Buzzwords um dich werfen und schon fressen sie dir aus der Hand.“
„Ich hab das Gefühl, ich muss mich nach dieser Grütze erst mal duschen.“ Das Grinsen verschwindet von Carls Gesichtszügen. „Wie spät haben wir es?“
„Keine Panik, wir werden pünktlich sein“, versichert ihm Vincent und lässt den Motor an.
* * *
Die Parkplätze vor dem Gymnasium sind vollständig belegt, sodass Vincent die Seitenstraßen des angrenzenden Wohngebiets durchkämmt. Einige Hundert Meter weiter findet er schließlich eine Parklücke. Gemeinsam mit Carl schlendert er in Richtung Schule. „Du hättest wirklich etwas anderes Anziehen sollen.“
„Glaubst du etwa, dass ich einen Anzug besitze?“, fragt Carl.
„Nein, aber zumindest ein dunkles Hemd statt des T-Shirts sähe besser aus.“
„Möglicherweise.“ Auf dem Weg zur Aula bemerken sie einige Klassenkameraden in Anzügen und eleganten Kleidern. Teils flankiert von ihren Eltern eilen diese ebenfalls zum Gymnasium. Vor dem verschlossenen Eingang zur Aula stehen Grüppchen von Schülern, Eltern und Lehrern, die sich ungezwungen miteinander unterhalten, rauchen und erste Fotos machen. Als Carl seine Freundin bemerkt, die verloren neben der Treppe steht, eilt er zu ihr. „Hallo, Brigitta, warum trägst du ein Kleid?“
„Gefällt es dir nicht?“, entgegnet sie.
Er tritt einen Schritt zurück, um sie von oben bis unten in dem dunklen Kleid zu mustern. „Es steht dir, aber du siehst irgendwie anders aus.“
„Ich hätte mehr Make-up benutzen sollen, oder?“
„Nein, das ist es nicht. Hosen stehen dir einfach viel besser.“
„Ich wollte dir damit nur eine Freude bereiten.“
Mit einem verlegenen Lächeln geht er einen Schritt auf sie zu und legt die Arme um sie. Er drückt sie zärtlich an seinen Körper. „Dass du überhaupt gekommen bist, freut mich.“
„Oki!“
„Noch immer frisch verliebt, wie am ersten Tag“, stellt Vincent amüsiert fest. „Du solltest deinem Freund die Leviten lesen, dass er in Jeans und T-Shirt zur Vergabe der Abizeugnisse geht.“
„Ich find’s nicht schlimm.“
„Wenn man ihn kennt, ist’s in Ordnung, aber was denken die Anderen darüber?“
Verunsichert zuckt Brigitta mit den Schultern.
„Ich mach mich mal auf die Suche nach meiner Alten. Wir sehen uns später!“ Vincent kämpft sich durch das Getümmel zu Claudia, die im eleganten Abendkleid mit ihren Eltern wartet.
„Kommen deine Eltern auch?“, fragt Brigitta.
„Hab’s meiner Mum nicht gesagt und auf meinen Dad habe ich sicher keine Lust.“
„Schade eigentlich.“
„Ich bezweifle, dass es meine Mum interessiert. Die war vorhin mehr mit der Frage beschäftigt, ob sie das Unkraut im Rasen hinter unserem Haus ausgerottet hat.“
„Autsch!“
Nachdem der Konrektor die Türen zur Aula öffnet, bewegen sich die ersten Abiturienten gemächlich hinein. Brigitta und Carl warten, bis das Gedränge vor den Türen abklingt. Auf dem Weg in den Saal treffen sie Martin, der ebenfalls ohne Eltern erschienen ist. „Hallo, Mr. Pixel!“, begrüßt ihn Brigitta.
„Hallo, ihr beiden. Ich dachte schon, ich bin zu spät.“
„Bist du ganz allein hier?“
„Mein Vater hat aufgrund seiner Schichtarbeit keine Zeit.“
„Was ist mit deiner Mutter?“, hakt Brigitta nach.
„Die lebt nicht mehr“, flüstert er.
„Oh! Das wusste ich nicht. Ich hoffe, die Frage war nicht ...“
„Ist schon in Ordnung“, unterbricht Martin. „Du konntest es nicht wissen.“
Gemeinsam suchen sie sich Plätze im hinteren Teil des Auditoriums. Carl legt den Arm um Brigitta. Gelangweilt verfolgen sie die überschwänglichen und teils von Pathos triefenden Ansprachen des Rektors, des Konrektors, der Oberstufenbetreuer, der Elternvertreter und schließlich der Kollegstufensprecher. Nach den Reden beginnt der Schulleiter mit der Vergabe der Zeugnisse. Als Carls Name fällt, eilt er zum Rednerpult. Dort bekommt er das Zeugnis mit einem kräftigen Handschlag ausgehändigt. Ohne die feierliche Atmosphäre zu teilen, kehrt er zu Martin und Brigitta zurück. „Endlich ist es vorbei!“
„Jetzt fängt der richtige Mist erst an“, entgegnet Martin.
„Mal sehen. Wenigstens muss ich keine Zeit mit Dingen verschwenden, die mich zu Tode langweilen.“
„Du bist heute aber bis über beide Ohren optimistisch“, frotzelt Martin.
„Bin ich! Wollen wir abhauen, sobald du dran warst?“
„In Ordnung! Sollte nicht mehr lange dauern.“ Nachdem sein ehemaliger Klassenkamerad das eigene Zeugnis in Händen hält, schleichen sich die drei jungen Leute aus der Aula. Auf den Stufen treffen sie einige ehemalige Mitschüler, die es ihnen gleich getan haben. Diese unterhalten sich angeregt oder rauchen demonstrativ auf dem Hof. Martin steckt ebenfalls eine Zigarette an. Er bietet Brigitta die Schachtel an, doch sie winkt energisch ab. „Ach sorry! Hatte vergessen, dass du nicht rauchst. Ich bin’s irgendwie von damals gewohnt, dass ich der Zigarettenautomat für Carls Freundin bin.“
Dieser wirft ihm einen bösen Blick zu.
„Mach dir da mal keine Sorgen. Zigaretten waren noch nie mein Fall.“
„Ist sowieso besser für ein Mädel, wenn sie nicht raucht, wegen der Haut und später bei der Schwangerschaft und so.“
„Bitte was?“, fährt Carl seinen Freund an.
„Die Haut von Rauchern altert schneller“, Martin zuckt mit den Schultern, „und welche Frau will schon alt aussehen?“
Brigitta reagiert auf die Bemerkung mit einem amüsierten Grinsen.
„Wo bleibt Vincent?“, seufzt Carl.
„Kennst ihn doch, der bleibt bestimmt bis zum Ende sitzen, um das komplette Geschwurbel vom Direx zu hören.“
„Der geht auch sicher auf den Abiball.“
„Ich dachte, er muss wegen Claudia hin?“
„Ihr habt heute euren Abiball?“, fragt Brigitta dazwischen.
„Willst du etwa hingehen?“
„Muss ich?“
„Nein. Das hatte ich eigentlich nicht vor.“
„Sehr gut!“
Da sich die Türen öffnen und die übrigen Abiturienten mit ihren Eltern ins Freie strömen, flüchten die drei von den Treppenstufen. Gerührte Eltern fotografieren ihre Sprösslinge und deren Freunde. Die ersten Besucher verlassen das Schulgelände bereits. Vincent unterhält sich angeregt mit Claudia, ihren Eltern und seiner eigenen Mutter. Unterdessen kommt BlitzKey aus dem Rauchereck. „Hey! Wie ist das Leben als Abiturient?“
„Aufregend anders!“, witzelt Martin.
„Hallo, Schüler!“, begrüßt ihn Carl.
„Ich weiß. Abi macht man nicht, Abi hat man.“
„So ist es!“, unterbricht ihn Brigitta.
„Deine Frau ist ganz schön frech geworden.“
„Die war vorher schon frech!“
Brigitta verpasst ihrem Freund einen sanften Stoß in die Rippen.
„Siehst du!“
„Wie ist’s es mit dem Marketingtypen gelaufen?“, fragt BlitzKey.
„Spitzenmäßig! Wir haben den Job für die Website.“
„Wann geht’s los?“
„Wir warten eigentlich nur auf Vincent, damit wir das Projekt bei Martin aufsetzen können.“
„Mist! Ich kann mir nicht erlauben, den Bio-Grundkurs zu schwänzen, sonst würde ich gleich mitkommen.“
„Ey Leute! Seh ich aus wie ein Internetcafé?“, protestiert Martin. „Wir können doch nicht zu fünft bei mir am Rechner arbeiten.“
„Soll ich dann nicht vorbeikommen?“, fragt BlitzKey.
„Wir müssen auf jeden Fall kurz bequatschen, wer wann was macht“, entgegnet Carl.
„Dann sehen wir uns später.“ BlitzKey schultert seinen Rucksack und verschwindet in Richtung Rauchereck. Carl schaut ihm gedankenverloren hinterher. Beiläufig betrachtet er die anderen Schüler, die dort neben seinem Schulfreund qualmen. Unter ihnen bemerkt er eine athletische Frau, die zwischen ihren Mitschülern nicht nur aufgrund der enormen Körpergröße auffällt. Das knabenhafte Äußere und ihr heiß geliebtes Auswärtstrikot der Toronto Maple Leafs, das sie nur zu besonderen Anlässen trägt, lassen sie neben den rauchenden Schülern unwirklich erscheinen. Carl erkennt seine frühere Freundin sofort. Verwundert mustert er Kiki. Sie wirkt auf ihn wie aus einem anderen Leben. Fasziniert starrt er zu ihr hinüber, da er sie bisher nie im Rauchereck der Oberstufe bemerkt hat. Sie scheint so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihn nicht wahrnimmt. Schließlich dämmert es Carl, dass sie heute volljährig wird und somit ganz offiziell auf dem Schulgelände rauchen darf. Gebannt folgt er ihrer Gestik und Mimik. Er erstarrt, als sich Kiki unvermutet zu ihm dreht. Sie lächelt ihn freundschaftlich an und zwinkert ihm zu. Während sie ihre Unterhaltung fortsetzt, wendet sich Carl, das Gesicht kreideweiß, zu Martin und Brigitta, die in ihren eigenen Gedankenaustausch vertieft sind. Für einen winzigen Augenblick überlegt er, ob er Kiki zum Geburtstag gratulieren soll.
„Wo bleibt der Kerl nur?“, meckert Martin lautstark. „Man könnte meinen, die beiden sind verheiratet.“
„Wahrscheinlich muss er sie inzwischen anbetteln“, vermutet Carl, „dass er überhaupt mit uns herumhängen darf.“
„Wie wahr!“, lacht Martin. Während sie warten, beobachtet Carl die anderen Abiturienten. Sanft legt er seinen Arm um Brigitta. Vincent verabschiedet sich unterdessen von Familie und Freundin. „Geht ihr beiden heute zum Ball?“, fragt er das Pärchen.
„Zum Glück nicht“, antwortet Brigitta.
„Du hast auch keine Lust darauf?“
„Ich kann nicht tanzen.“
„Verstehe! Carl, wir sollten so schnell wie möglich anfangen. Ich habe Claudia nämlich versprochen, dass ich pünktlich dort bin.“
„In Ordnung“, erwidert er. „Du nimmst Martin mit und wir folgen dir. BlitzKey will unbedingt in Bio gehen, schaut aber später vorbei.“
„Kleines Problem mit deinem Plan. Ich muss meine Alte erst nach Hause kutschieren.“
„Dann fahren wir zu dritt zu Martin und du kommst einfach nach“, schlägt Brigitta vor.
* * *
Vincent wartet bereits vor dem Wohnblock, als Brigitta mit dem Twingo in die Straße einbiegt. Sie parkt den Wagen in der nächsten freien Parklücke. „Habt ihr unterwegs Brotzeit gemacht?“, scherzt er.
„Nein, aber ned jeder rast wie a gesenkte Sau durch die Innenstadt“, entgegnet Martin.
„Haha! Ich bleibe gern sportlich. Claudia holt mich später ab, wir haben also etwas Zeit.“
„Dann lass uns hochgehen.“ Bevor Martin die Wohnungstür aufsperrt, wirft er einen Blick auf die Armbanduhr. „Ich hab keine Ahnung, ob mein Alter noch zuhause ist. Seid bitte leise, okay?“
„Geht klar“, versichert Vincent.
Behutsam dreht Martin den Schlüssel im Schloss herum und öffnet die Tür einen Spaltbreit. Er lauscht für einige Atemzüge. Da er nichts Verdächtiges hört, betritt er die Wohnung. Wortlos folgen ihm seine Freunde, die im Flur die Schuhe ausziehen. Da es in der Wohnung ruhig bleibt, entspannt sich Martin ein wenig. Leise führt er sie in sein Zimmer. „Ich glaube, er musste heute früher weg. Bin gleich wieder hier. Kannst du meine Rechner hochfahren?“
„Klaro“, antwortet Carl. Er setzt sich an den Schreibtisch und schaltet die beiden PCs ein. Vincent und Brigitta nehmen auf der abgewetzten Couch gegenüber Platz. Erleichtert kehrt Martin zurück. „Er hat einen Arzttermin, deshalb ist er früher gefahren. Wir haben also bis zwei Uhr morgens keinen Stress.“
„Wollen wir etwas zum Futtern bestellen?“, fragt Vincent in die Runde. „Ich hab einen tierischen Kohldampf.“
„Meinetwegen, mein Frühstück war nicht allzu üppig“, antwortet Carl.
„Was wollt ihr essen? Pizza, Sushi oder was vom Chinesen?“, erkundigt sich Martin.
„Sushi wäre cool! Es sei denn, du hast Pizzagutscheine.“
„Sorry! Die sind inzwischen alle aufgebraucht.“
„Schade. Willst du auch Sushi?“, fragt er seine Freundin.
„Sehr gerne!“ Martin holt eine Preisliste vom Lieferanten aus einer Schublade. Neugierig überfliegt sie die verschiedenen Menüs. „Wer bestellt?“
„Ich ruf bei denen an“, erklärt Vincent. „Was wollt ihr haben? Ihr beiden nehmt das Übliche?“
„Hosaka, wie immer“, bestätigt Carl mit einem Kopfnicken.
„Ich nehme heute zur Abwechslung mal die 420“, antwortet Martin.
„Für mich bitte das Menü Ono-Sendai“, erwidert Brigitta.
„Da hat jemand einen exzellenten Geschmack. Stört’s euch, wenn ich ein bisserl Krupuk dazu bestelle?“
„Dann kommen wir heute aus dem Fressen nicht mehr raus“, scherzt Martin.
„Haha! Okay, ich ordere zwei Tüten.“ Vincent verlässt das Zimmer, damit er den Lieferservice vom Telefon im Flur aus anrufen kann. Unterdessen ist auch der zweite PC hochgefahren, sodass Carl seinen Freund mit einer Geste bittet, sich dort einzuloggen. Als Brigitta das Startbild von Windows NT 4.0 bemerkt, steht sie von der Couch auf. „Carl ist ein braver Raubkopierer, der regelmäßig die neuesten Betaversionen von Microsoft besorgt“, lobt Martin.
„Cool! Laufen die Betas halbwegs stabil?“
„Ja! Zumindest für mich reicht es. Auf jeden Fall tausendmal besser als Windows 95.“
„Oh!“ Neugierig beobachtet sie Martin, der Photoshop öffnet, um ihr zu demonstrieren, wie gut das System mit dem Grafiktablett funktioniert. Er lädt eine Datei mit einer unfertigen Zeichnung. Nachdem er seine Finger ausgiebig gedehnt hat, greift er zum Stift. Mit kurzen präzisen Strichen setzt er die Arbeit an der Skizze fort. „Schau her! Läuft alles. Selbst die Treiber für das Tablett laufen stabil.“
„Du zeichnest am PC?“
„Gelegentlich. Meistens verwende ich natürlich Papier. Trotzdem ist das Grafiktablett das beste Stück Hardware, das ich mir jemals angeschafft habe. Zurzeit spare ich auf einen Scanner, damit ich meine Skizzen und Zeichnungen endlich vernünftig digitalisieren kann, aber das wird wohl ein Weihnachtsgeschenk.“
„Sushi ist unterwegs!“, verkündet Vincent beim Betreten des Zimmers. Zufrieden setzt er sich auf die Couch und legt die Füße auf den Tisch. „Bootet die zweite Mühle immer noch?“, fragt er.
„Inzwischen ist sie da.“
Vincent schüttelt den Kopf. „Du brauchst wirklich einen schnelleren Zweitrechner.“
„Tut mir leid, aber ich muss für die Hardware arbeiten. Ist nicht so, dass ich jedes Jahr einen neuen PC von meinen Eltern bekomme“, unkt Martin.
„War nicht böse gemeint“, versucht ihn Vincent zu beschwichtigen. „Ich kriege die Rechner doch nur, weil meine Alten den Krempel beim Finanzamt absetzen.“
„Trotzdem kann ich da nicht mithalten.“
„Wart’s ab, wenn das Geschäft mit dem Webdesign weiterhin gut läuft, leistest du dir bald eine eigene Wohnung.“
Brigitta schaut den Jungs zu, wie sie mit der Arbeit beginnen. Carl startet den HTML-Editor auf dem Zweitrechner, während Martin eine selbst gebastelte Vorlage für eine Website auf den Webserver in Brigittas Studentenbude hochlädt. Vincent lümmelt auf der Couch herum.
„Hast du die Logos schon kopiert?“, fragt Carl.
„Mach ich gleich.“ Er öffnet die ersten Dateien im Editor, der dafür eine lange Denkpause benötigt. „Was habt ihr dem Typen genau verkauft?“, will Martin wissen.
„Er wollte unser zweites Angebot haben, ohne Wenn und Aber. Einzig die blinkende Animation von der Statusampel und eine Ferrari Farbpalette sind ihm wichtig“, erläutert Vincent.
„Die Seite wird mit den Rennstreifen absolut widerlich aussehen. Außerdem passt Rot mal überhaupt nicht zu deren Corporate Identity.“
„Der Marketingfuzzi hält es für Multimedia, also bekommt er es.“
„Glaub mir, der hat null Ahnung von Layout oder Design“, wirft Carl ein.
„Na gut, dann bekommt er sein multimediales Erlebnis“, seufzt Martin.
Gelangweilt setzt sich Brigitta zu Vincent auf die Couch. Sie beobachtet die beiden jungen Männer an den PCs, die eifrig Skizzen und Entwürfe zusammensuchen, aus denen eine Website entstehen soll. Erst als es an der Tür klingelt, schreckt sie aus ihren Gedanken auf. „Futter ist da!“, frohlockt Vincent und hastet zur Tür. „Bleibt ruhig sitzen, ich geh schon.“
„Wenigstens dafür ist er zu gebrauchen“, raunt Martin.
„Wie recht du hast.“
„Kann ich euch irgendwie helfen?“, fragt Brigitta.
„Im Augenblick leider nicht. Wir warten noch auf BlitzKey, bevor wir entscheiden, wer was macht. In der Zwischenzeit packen wir alles, was wir vom Kunden haben auf die Kiste in deiner Bude“, erklärt Carl.
„Also könnte ich eigentlich abhauen?“
„Meinetwegen. Es wäre trotzdem großartig, wenn du wartest. Du musst mir nämlich unbedingt zeigen, wie man eine Datenbank in den Webserver integriert.“
„Oki! Ich bleibe.“ Sie lässt die Schultern hängen.
Vincent kommt mit mehreren Schachteln Sushi und zwei großen Tüten Krupuk zurück, die er auf dem Couchtisch ausbreitet.
„Was schulde ich dir?“, fragt Brigitta.
„Nix! Ich lade euch ein. Schließlich haben wir unseren bisher größten Kunden zu feiern!“
„Oki, vielen Dank!“
„Danke, Mann!“, schließt sich Martin an.
* * *
Brigitta streicht das übrig gebliebene Wasabi ihres Menüs auf einen Krabbenchip, in den sie genussvoll hineinbeißt. Amüsiert schüttelt Vincent den Kopf. „Wie geht nur so viel Wasabi in eine so kleine Person, ohne dass dabei auch nur eine einzelne Träne herauskommt?“
„Es schmeckt eben lecker“, schmatzt Brigitta.
„Das nächste Mal bestelle ich dir eine Extraportion dazu.“
„Gerne!“
Martin schnappt sich eine Tüte Krupuk, mit der er an seinen Rechner geht. Vincent richtet sich von der Couch auf, greift ebenfalls zu den Krabbenchips und schaut ihm bei der Arbeit über die Schulter. „Wie weit sind wir?“
„Ich habe gerade angefangen, das Gerüst für die Startseite zu entwerfen. Carl bereitet die Vorlagen für die verschiedenen Frames vor.“
„Gut, gut. Dann brauchen wir nur noch Gottfried für das Scripting?“
„Wie wir es bei jeder anderen Website auch machen“, stellt Martin nüchtern fest.
„Wo bleibt der nur?“ Vincent blickt auf die Uhr. „Der Grundkurs müsste längst zu Ende sein.“
„Kein Plan“, wirft Carl ein.
„Leute, ich fahr wieder. Irgendwie sitz ich doch nur sinnlos herum.“ Brigitta steht auf, nimmt ihre Handtasche, packt die CD von Herrn Weishaupt ein und streicht ihrem Freund zärtlich über den Oberarm.
„Wir sehen uns später bei dir?“, fragt er.
Sie nickt. „Tschüss, Jungs!“
„Ciao!“, verabschiedet sich Martin.
„Auf Wiedersehen, Brigitta!“, schließt sich Vincent an. Nachdem sie die Wohnung verlassen hat, betrachtet er Carl. „Was war das denn?“
„Was?“
„Du darfst deine Kleine nicht einfach so gehen lassen!“
„Ich kann sie kaum an der Couch anbinden.“
„Das meine ich nicht. Sei doch etwas netter zu ihr, wenn sie dich schon ständig durch die Gegend kutschiert. Anstatt hier mit Martin an irgendeiner Website zu basteln, die wir sowieso in einer Woche fertig haben, könntest du sie verwöhnen. Warum führst du sie nicht zum Abiball aus? Frauen stehen auf solche Dinge!“
„Sie ist froh, dass wir nicht zum Ball gehen, da sie genauso wenig tanzen kann wie ich.“
„Na und! Schenk ihr deine Aufmerksamkeit mit etwas anderem. Du wirst sehen, am Ende lässt sie dich genau wie Kiki fallen, weil du ein emotionaler Eiswürfel bist.“
„Bei uns beiden ist es anders als bei dir und deinen Freundinnen.“
„Hältst du dich für etwas Besseres?“, fährt ihn Vincent an.
„Nein. Ich sag nur, dass Brigitta andere Interessen als die meisten deiner Freundinnen hat.“
„Du musst wirklich noch einiges über Frauen lernen, wenn du nicht den Rest des Lebens als Single herumlaufen willst.“
„Glaub mir! Brigitta ist tatsächlich völlig anders als Kiki oder eine deiner Frauengeschichten. Mit ihr ist es beinahe wie mit euch Jungs, da sie genauso verrückt nach Computern ist.“
„Selbst wenn das stimmt, gewöhn dir an sie zu hofieren. Es wird ihr gefallen, da sie trotz allem eine Frau ist, auch wenn du das nicht wahrhaben willst.“
„Ich werd’s versuchen“, seufzt Carl.
„Außer sie ist wirklich wie einer von uns und hat ein Ding in der Hose, dann ignorier einfach, was ich gesagt habe.“
Entsetzt starrt Carl seinen Schulfreund an, während Martin loslacht. Vincent grinst breit. Erst als es an der Haustür klingelt, versucht sich Martin zusammenzunehmen. Mit gerötetem Wangen eilt Carl zur Wohnungstür.