Читать книгу p¡r@t€Z - Jo L.L. Roger - Страница 8

0b0000010: [AmphiPlex]

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Unter dem Schild mit der Nummer des Tiefgaragenstellplatzes hängt eine bunte Metalltafel mit dem stilisierten Schriftzug AmphiPlex. Carl parkt den Audi A4 präzise davor ein. Er steigt aus, geht zum Kofferraum und holt eine Leinentasche. Den Rucksack und das zusammengeklappte Stativ lässt er im Fahrzeug zurück. Mit langen, aber ruhigen Schritten eilt er durch die Tiefgarage, die in kaltes Neonlicht getaucht ist. Anstatt den Fahrstuhl zu nehmen, öffnet er eine graue Stahltür mit dem Warnhinweis Notausgang alarmgesichert! Er folgt dem verwinkelten Gang, der vom fahlen Grün der Notbeleuchtung erhellt wird, bis er in ein breites Treppenhaus gelangt. Leichtfüßig nimmt Carl die gewienerten Granitstufen nach oben. Nachdem er zwei Etagen hinter sich gelassen hat, öffnet er eine weitere Stahltür mit der einschüchternden Warnung. Vorbei an verschlossenen Lagerräumen und den Toiletten für die Kinogäste erreicht er das weitläufige Foyer des AmphiPlex Kinopalasts.

Fasziniert betrachtet er die Heerschar von Technikern und Kinomitarbeitern, die Kabel verlegen, das Foyer aufwendig dekorieren und die Technik des Kinos auf Vordermann bringen. Einige Kollegen, die ihn bemerken, begrüßen Carl freundlich, andere sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn nicht wahrnehmen. Zwischen dem geschäftigen Personal fällt ihm ein Grüppchen junger Damen in eleganter Kleidung auf, die sich um einen Stehtisch versammelt haben. Wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner diskutieren sie miteinander vor einigen Kartons mit unbenutzter Dekoration. Carl hält sie zweifelsfrei für Angestellte des Filmverleihers. Diese Vermutung bestätigt sich, als er an der Gruppe vorbeischlendert und die Plastikausweise sieht, die die Frauen an ihren Blazern tragen. Ohne sie weiter zu beachten, geht Carl zum Kassenbereich am Eingang des Kinos. Er grüßt den Kollegen am Informationsstand mit einer dezenten Handbewegung und zieht seine Magnetkarte durch die Stechuhr, die daneben angebracht ist. „Hallo, Erik! Wie läuft es?“

„Ziemlich stressig.“

„Warum das? Ist doch keine außergewöhnliche Filmpremiere.“

„Nicht deswegen, aber die PR-Tanten vom Verleih schieben einen Aufstand, da ihnen die Europazentrale in London das falsche Promomaterial geschickt hat!“

„Hä?“

„Morgen Abend ist nicht nur Deutschlandpremiere des Films, sondern die allererste Premiere in Europa. Die Franzosen sind am Mittwoch dran, die Briten am Donnerstag. Wenn ich die Mädels richtig verstehe, dann haben wir die Deko mit den französischen Texten bekommen.“

Carl kann ein kurzes Kichern kaum unterdrücken. „Das ist eher blöd.“

„Was ich so mitbekommen habe, kommt wohl auch noch irgendein VIP aus den USA vom Mutterkonzern, sodass die PR-Tanten völlig panisch sind.“

„Dann wünsche ich dir viel Spaß mit denen.“

„Werde ich bestimmt haben.“ Erik deutet eine Würgegeste an.

„Hoffentlich haben sie die richtigen Filmkopien geschickt.“

„Die sollten passen. Flo hat die Kartons vorhin mit dem Obermotz von der Security abgeholt und beide waren ziemlich happy.“

„Dann wird’s ein entspannter Abend bei uns.“

„Schleich dich bloß in dein Kabuff, Herr Vorführer, und lenk uns hart arbeitendes Fußvolk nicht ab.“

Carl antwortet dem Kollegen mit einem frechen Grinsen, bevor er hinter einer Stahltür verschwindet. Nach weiteren Treppenstufen gelangt er in einen langen Korridor, in dem sich der Personalbereich des Kinos und das Büro der Theaterleitung befinden. Gemächlich schlurft er zur Tür am Ende des Gangs und klingelt. Artig dreht er sich zur Überwachungskamera. Nach einigen Momenten hört er ein Surren.

Im geräumigen Büro stehen sechs Schreibtische paarweise gruppiert, jeweils ausgestattet mit Computer und den üblichen Büroutensilien. Durch die Fenster wirft Carl einen kurzen Blick über die Dächer Münchens. An der gegenüberliegenden Wand steht eine Batterie von Monitoren, auf denen die Bilder der diversen Überwachungskameras des AmphiPlex zu sehen sind. „Servus!“, grüßt Carl beiläufig in den Raum.

„Hallo, Carl!“, ertönt er es hinter einem der Schreibtische. Ein schmächtiger Mann mit Ziegenbärtchen und Brille streckt seinen Kopf hervor.

„Hi, Jens!“

„Du bist morgen Abend bei der Premiere zugegen?“

„Ja.“

„Gott sei Dank! Wenigstens wird dann in der Vorführung nichts schiefgehen.“

Carl zuckt mit den Schultern. Er nimmt ein Funkgerät aus der Ladestation unter den Monitoren und fischt einen Schlüsselbund mit langer Metallkette aus dem Schlüsselkasten.

„Die Leute vom Verleih treiben mich gerade in den Wahnsinn, da sie uns die falsche Dekoration geschickt haben.“

„Erik hat so etwas erwähnt“, versucht ihn Carl vom Redefluss abzubringen.

„Das ist fürchterlich. Wir stehen als Kino wie die größten Deppen im Land da. Ich kann mir bereits lebhaft vorstellen, was die Filmpresse über uns schreiben wird. Schrecklich!“

„Ist nicht unsere Schuld, wenn es der Verleih vermasselt.“

„Das stimmt zwar, dennoch müssen wir es ausbaden. Da habt ihr es mit der Technik viel einfacher. Ihr Jungs löst eure Probleme jedes Mal.“

„Bei einer falschen Filmkopie können wir auch nichts machen“, klärt ihn Carl auf.

„Immerhin gebt ihr rechtzeitig Bescheid. Ihr seid immer auf Zack, wenn irgendetwas fehlt. Leider kann man das von den Kollegen am Infocounter nicht sagen. Die haben bereits letzte Woche gesehen, dass die Deko mit französischen Titeln angeliefert wurde! Letzte Woche! Glaubst du etwa, dass sich auch nur einer von denen darüber gewundert hat? Nein! Die haben das einfach ignoriert! Wie blöd kann man denn sein.“ Jens schüttelt den Kopf theatralisch, während er Carl beäugt.

„Oh!“, brummelt dieser pflichtbewusst.

„Jetzt tragen wir die Konsequenzen, indem wir uns vor der ganzen Welt blamieren.“

„Ich muss leider runter“, unterbricht er den Theaterleiter, „sonst gibt’s Haue vom Boss.“

„Ach ja! Wir sehen uns später. Ich bin heute die Spätschicht.“

„Bis dann.“ Carl verlässt das Büro.

Er zieht den Schlüsselbund aus der Hosentasche und sperrt in einem der Treppenhäuser eine graue Stahltür auf. Aus dem Halbdunkel hört er monotones Rattern der Filmprojektoren, sowie tiefes Brummen der Gleichrichter. Dazwischen nimmt Carl dumpfe Sprachfetzen seines Kollegen am anderen Ende des Raums wahr. Beim Durchqueren des Vorführraums atmet er den typischen Duft von Essig und Schmierfett ein. Während sich seine Augen noch an das Halbdunkel gewöhnen, geht er zielstrebig zum Regiebereich, der durch eine Glastür von den lärmenden Projektoren abgetrennt ist. An den dunkelblau gestrichenen Wänden stapeln sich schwarze Pappkartons mit Filmrollen, Türmchen von runden Metallbüchsen und Hunderte kleiner Schachteln mit den Werbespots. Carl bemerkt Flo, den groß gewachsenen, durchtrainierten Vorführleiter, vor der offenen Glastür zum Regiebereich. Dort unterhält er sich mit einem asiatischen Herrn, der einen Designeranzug trägt. Neben diesem steht ein weiterer Mann, der dem Gespräch aufmerksam folgt. In der Brusttasche des Asiaten steckt ein Plastikausweis mit Foto und dem Logo des Filmverleihs. Sein Kollege ist leger gekleidet und trägt seinen Ausweis am Gürtel. Auf dessen Sweatshirt prangt jedoch der Schriftzug Security. „Hallo!“, begrüßt Carl die Runde.

Der Vorführleiter dreht sich zu ihm und erwidert den Gruß. „Hey, Carl! Ich kann dir gleich unsere Gäste vorstellen.“ Er deutet zuerst auf den Asiaten. „Das sind Herr Yamanaka und Herr Johannson, die die Sicherheitsmaßnahmen während der Filmpremiere überwachen.“

Der Asiat verbeugt sich dezent vor Carl. „Sie dürfen mich Leonard nennen, es gibt keinen Grund förmlich zu sein.“

„Ich bin Walter!“, erwidert Johannson, während die beiden Hände schütteln.

„Wir reden gerade über die Sicherheitsvorkehrungen für die Filmkopien“, bringt Flo den frisch eingetroffenen Kollegen auf den neusten Stand, „da es sich bei diesmal zur Abwechslung mal um einen größeren Film handelt.“

„Es handelt sich hier um eine internationale Koproduktion. Daher müssen wir auf dieselben hohen Sicherheitsstandards wie in den Staaten achten“, fügt Leonard hinzu. „Insbesondere da es sich nicht nur um die Deutschlandpremiere, sondern um die Europapremiere des Films handelt.“

„Aha!“, antwortet Carl.

Flo deutet auf mehrere Stapel aus insgesamt achtzehn Filmkartons, die mit knallrotem Sicherheitsband umwickelt sind. „Du kannst gleich anfangen, die ersten Kopien zu koppeln. Ich kümmere mich währenddessen um das reguläre Kinoprogramm. Anstelle der normalen Spätvorstellung führen wir auf der unteren Ebene heute Nacht die technische Sichtung der Filmkopien durch.“

„Kein Problem“, erwidert Carl.

„Ich zeige unseren Gästen vom Verleih die Wege zu den anderen Sälen.“ Walter Johannson folgt dem Vorführleiter aus dem Raum in Richtung der Catwalks über dem Foyer, während Carl die Leinentasche in der Garderobe im Regieraum ablegt. Er tauscht sein schwarzes T-Shirt gegen ein schwarzes Polohemd mit dem blauen AmphiPlex Schriftzug. Leonard Yamanaka beobachtet unterdessen die Überwachungsmonitore, auf denen das Programm der verschiedenen Säle zu sehen ist.

„Sie wollen beim Koppeln der Filme zusehen?“

„Ich bitte darum, da es mir lieber ist, wenn ich persönlich kontrolliere, ob alle Rollen den Transport ins Kino unversehrt überstanden haben.“

Carl holt Arbeitshandschuhe aus dem Werkzeugregal neben den Monitoren und bedeutet Leonard ihm zu folgen. Er nimmt den obersten Filmkarton vom Stapel und trägt ihn trotz des hohen Gewichts einhändig zu einem der Umrolltische neben den Filmprojektoren. Gemeinsam mit Leonard öffnet er das Sicherheitsband und entfernt den Deckel des Kartons. Der Sicherheitsbeauftragte greift zur ersten Kunststoffbox und inspiziert die Siegel. „Wunderbar, die Versiegelung ist intakt!“, frohlockt er und deutet mit dem Finger auf den bunten Klebestreifen mit Hologramm. Er reicht Carl die Plastikbüchse und macht sich eine Notiz in seinen PDA. Carl bricht das Siegel und entnimmt die Filmrolle zur Inspektion. Rolle für Rolle prüfen sie die Filmkopie. Nachdem sie damit fertig sind, stapelt Carl die Filmrollen chronologisch neben dem Umrolltisch. Er nimmt die erste Rolle vom Stapel und legt sie auf die Arbeitsplatte des Umrollers. Behutsam spult er den Filmstreifen auf einen Kunststoffring, der in der Mitte des Filmtellers liegt. „Ich hoffe, Sie langweilen sich nicht. Das Zusammenkleben von so vielen Filmen wird eine Weile dauern.“

„Keine Sorge, das ist mein Job. Außerdem finde ich es immer wieder spannend, wie die Leute in den einzelnen Kinos mit den Filmkopien umgehen.“

„Sie sind häufig in Kinos?“

„Das ist Teil meiner Arbeit.“

„Dann hoffe ich, dass wir genauso professionell arbeiten, wie die Vorführer in Hollywood.“

„Das seid ihr!“ Leonard beginnt zu lachen. „Das liegt an der Deutschen Grundlichkeit.“

„Gründlichkeit“, korrigiert ihn Carl.

„Apologies, mein Deutsch ist leider etwas angerostet.“

„Sie sprechen sehr gutes Deutsch, besser als manche meiner Kollegen.“

„Danke.“

„Sie sind ursprünglich Japaner?“

„Nein. Meine Eltern kamen lange vor meiner Geburt in die Staaten.“

Carl stoppt die Filmrolle kurz vor dem Ende, schneidet das Endband ab und legt es mit der zugehörigen Plastikbüchse in den leeren Filmkarton. Mit geübten Handgriffen legt er die nächste Rolle auf die Arbeitsplatte, schneidet das Startband mit dem Countdown ab und klebt die beiden Filmstreifen präzise aneinander. Er überzeugt sich von der Haltbarkeit der Klebestelle und wickelt auch diese Rolle auf den großen Filmteller auf. „Wie haben Sie in den Staaten unsere Sprache gelernt?“

„U.S. Army. Ich war einige Jahre in Berlin stationiert.“

„Ich wünschte, mein Englisch wäre so gut wie Ihr Deutsch.“

„Du hast sicher sehr gutes Englisch in der Schule gelernt.“

„Das ist doch etwas anderes, als sich mit Muttersprachlern zu unterhalten.“

„Du bist jung und modern, da hast du höchstwahrscheinlich Internet zu Hause? Dort kannst du sehr viele Native Speakers kennenlernen.“

„Das könnte ich mal ausprobieren“, erwidert Carl. Wortlos greift er zur nächsten Rolle, um bereits das Startband zu entfernen.

* * *

Leonard folgt Carl mit Abstand über den Catwalk zu einem der anderen Vorführräume. Obwohl sich auf dem Kunststoffring mittlerweile einige Tausend Meter Film befinden, balanciert Carl die gekoppelte Filmkopie mühelos neben dem Körper. Trotz der schweren Last öffnet er gekonnt die Stahltür zum Vorführraum und hält diese für Leonard auf.

Behutsam stellt er den Film neben einem Metallschrank ab. Er holt seinen Schlüsselbund hervor und öffnet den Schrank. In zwei der schmalen, aber tiefen Fächer stehen bereits Filme. Leonard notiert sich unterdessen die Nummer der Premierenkopie in seinem PDA. Carl verstaut sie im Metallschrank. Der Sicherheitschef kontrolliert sofort, ob die Tür ordnungsgemäß verriegelt ist, indem er am Türgriff rüttelt. Zufrieden greift er in die Jackentasche. Mit zwei Sicherheitsetiketten versiegelt er den Schrank. „Das war die letzte Rolle für die morgige Sichtung“, stellt er fest. „Wann können wir heute Abend mit den Screenings beginnen?“

„Die erste Hauptvorstellung endet um 21:27 Uhr“, klärt ihn Carl auf.

Leonard wirft einen Blick auf die Armbanduhr. „Ich sammle die Kollegen fürs Dinner ein und sollte dann gegen halb zehn mit den Leuten vom deutschen Branch und den Technikern zurück sein.“

„Soll ich die Filme direkt nach der Hauptvorstellung einlegen?“

„Lieber nicht, da sich die endgültige Verteilung auf die Säle noch verändern könnte. Dafür ist leider das Marketing zuständig.“

„In Ordnung!“

Leonard verlässt den Vorführraum über die Wendeltreppe auf der oberen Kinoebene. Nachdem Carl die Metalltür ins Schloss fallen hört, inspiziert er vorsichtig die Siegel am Metallschrank. Zufrieden folgt er Leonard nach unten. Im Gegensatz zum Asiaten betritt er über die Treppe den darunter gelegenen Vorführraum. Über den Catwalk schlendert er zum Regieraum zurück. Auf dem Rückweg beobachtet er Leonard und Johannson, die sich mit ihren Kollegen auf der unteren Kinoebene unterhalten. Mittlerweile hängt ein Teil der Dekoration für die Filmpremiere, aber die fehlenden Filmposter in den leeren Schaukästen lassen das Ganze lieblos und dilettantisch erscheinen. Bevor Carl die Tür zum Regieraum öffnet, bleibt er am Geländer stehen. Er beobachtet die kleine Menschentraube um den Asiaten, die sich erst zur oberen Kinoebene und schließlich zum Gastronomiebereich des AmphiPlex bewegt.

* * *

Mit einigen Kinomitarbeitern, die ebenfalls die dunklen Poloshirts der Kinokette tragen, steht Carl neben der breiten Theke im Foyer der unteren Ebene. Eine junge Kollegin, die sich dahinter alleine langweilt, reicht der Gruppe einen Eimer Popcorn. „Danke!“, erwidert Niklas, der Teamleiter.

„Nichts zu danken! Das zahlen alles die Typen vom Filmverleih.“

Die Gruppe antwortet ihr mit Gelächter.

„Kino 12 ist gleich aus“, erwähnt Carl beiläufig in Richtung eines Servicemitarbeiters, der daraufhin einen Blick auf seine Uhr wirft und einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche zieht. Nach einem kurzen Schulterzucken bricht er zum anderen Ende des Foyers auf. Niklas schaut Carl mit entnervter Miene an. „Der wird’s wohl nie peilen, den Saal rechtzeitig zu öffnen.“

„Ist heute viel los?“

„Nein. Ist trotzdem Scheiße, wenn die Leute nicht richtig verabschiedet werden.“

„Ich bezweifle ernsthaft, dass unser Publikum darauf Wert legt.“

„Ich auch“, entgegnet Niklas lachend, „aber du kennst das Gefasel über die Kundenorientierung.“

Die Runde der Kollegen nickt zustimmend.

„Weißt du, wann die Sichtungen losgehen?“

„Keine Ahnung. Der Security-Typ sollte längst mit der Meute vom Verleih zurück sein.“

„Der ist eine echte Nervensäge, oder?“

„Ja!“, bestätigt Carl. „Der ist anstrengend, aber seitdem jeder Film sofort im Internet auftaucht, machen sich die Filmverleiher eben ins Hemd.“

„Ich versteh gar nicht, wie man sich das abgefilmte Zeug antun kann.“

„Immer noch besser als ein halbes Jahr zu warten, bis der Film endlich bei uns läuft“, wirft die Kollegin hinter der Theke ein.

„Ich bin gespannt, ob der Streifen etwas taugt“, wundert sich Niklas.

„Du bist bei den Sichtungen dabei?“

„Jens wollte, dass einer vom Fußvolk mitschaut.“

„Dann wünsche ich viel Spaß. Das ist ein Chick Flick.“

„So schlimm wird der Film bestimmt nicht sein!“

„Es ist eine deutsche Koproduktion“, ergänzt Carl.

„Mist! Du hast vermutlich recht.“

Die beiden jungen Männer bemerken Leonard mit seinen Mitarbeitern auf der Treppe. „Ich werde mich mal an die Arbeit machen“, flüstert Carl.

„Bis später“, verabschiedet sich Niklas ebenfalls.

Leonard geht einige Schritte auf Carl zu. „Das Dinner hat leider etwas länger gedauert.“

„Kein Problem.“

„Ich sehe, die ersten Hauptvorstellungen sind zu Ende?“

„Kino 12 ist gleich aus und in Kino 15 beginnt gerade der Abspann.“ Carl wirft einen Blick auf seine Uhr. „Die anderen Kinos laufen noch circa zehn bis fünfzehn Minuten.“

„Dann haben wir ein wenig Zeit.“ Leonard bedeutet Carl mit einer Geste, dass er ihm folgen soll. Gemeinsam gehen sie zu Leonards Kollegen, die angeregt vor einem Stehtisch miteinander diskutieren. „Das ist Carl. Er wird heute Abend und morgen bei der Premiere die Filme vorführen.“

Eine elegant gekleidete Dame mittleren Alters tritt aus der Gruppe hervor und reicht Carl die Hand. Er schüttelt diese zögerlich. „Ich bin Monique. Ich bin für das Marketing und damit für die Premiere verantwortlich. Sie kennen sicherlich das Prozedere einer technischen Sichtung?“

„Selbstverständlich!“, bestätigt er.

„Sehr gut! Ich schlage vor, dass wir mit dem ersten Saal beginnen.“

„Das wäre Kino 12. Dort läuft laut meinem Plan von heute Mittag eine Fassung im englischen Original für die Presse.“

„Das ist korrekt!“

Mit langen Schritten eilt Carl zum Kinosaal. Er betritt den Saal und schaut sich darin um. Das Publikum hat diesen längst verlassen. Nur der einsame Kollege sammelt hastig leere Pappbecher und Popcorntüten ein, die er in einen grauen Müllsack stopft. „Dir ist hoffentlich klar, dass die Spätvorstellung heute ausfällt?“, erinnert ihn Carl.

„Was? Im Ernst?“

„Ja!“

Der Servicemitarbeiter bleibt stehen. Nervös fischt er den zerknitterten Laufzettel aus der Hosentasche. „Auf dem Tagesplan steht aber, dass wir um 22:15 Uhr eine Spätvorstellung haben.“

„Wirf mal einen Blick auf die Fußnoten zur Sonderveranstaltung.“

Carls Kollege fährt mit dem Finger unbeholfen über das Blatt. „Mist! Das habe ich überlesen.“

„Kannst dir das Putzen also sparen.“

Frustriert schleift der Servicemitarbeiter den Müllsack zum Gang. „Tust mir einen Gefallen?“

„Welchen?“

„Verrate Niklas bitte nicht, dass ich die Fußnote übersehen habe! Der hält mich sonst für total bescheuert. Ich will deswegen nicht durch die Probezeit fallen.“

„Warum sollte ich ihm davon erzählen?“, Carl zuckt mit den Schultern. „Ich bin Vorführer. Niklas ist daher herzlich egal, was ich über Serviceleute denke.“

„Was ist, wenn er trotzdem fragt, was ich so lange im Kino gemacht habe?“

„Sag ihm einfach, dass ich dich gebeten habe, mir bei etwas zu helfen.“

„Und wenn er nachfragt, ob ich die Wahrheit erzählt habe?“

„Dann wird er von mir erfahren, dass du mir bei etwas geholfen hast.“

„Danke!“

Carl geht über die Wendeltreppe nach oben in den Vorführraum. Eilig reinigt er den Filmprojektor, bevor er die frisch gekoppelte Premierenkopie einlegt. Mit geschickten Fingern fädelt er den Filmstreifen durch das Gewirr der Umlenkrollen von der Filmtelleranlage zum Projektor und von dort wieder zurück. Sorgfältig kontrolliert er anschließend jede einzelne Rolle, damit der Film bei der Vorführung nicht beschädigt wird. Nachdem er mit der Arbeit zufrieden ist, eilt er über die Wendeltreppe hinunter ins Foyer. Dort angekommen öffnet er die Saaltür und winkt Leonard mit seinen Leuten zu sich. „Wir können anfangen.“

„Dann lassen Sie uns den Film starten!“, bittet Monique. Carl dimmt das Licht an der Schalttafel im Saal, dreht den Ton auf und startet den Projektor über die Fernsteuerung. Nach wenigen Sekunden erscheint die Schutzmarke des Filmverleihs auf der Leinwand. Die Anwesenden warten auf den Beginn der Handlung. Als aus den Lautsprechern schließlich die ersten Worte auf Englisch erklingen, spürt Carl die Erleichterung aller Beteiligten. Leonard tritt an ihn heran. „Lass uns den nächsten Saal vorbereiten.“

Gemeinsam schleichen die Männer durch die Lichtschleuse zurück ins Foyer. Dort strömen unterdessen zahllose Besucher aus den Sälen. Einige drängen zu den Toiletten, andere warten auf ihre Begleiter, doch die meisten eilen in Richtung Tiefgarage oder zur benachbarten S-Bahnhaltestelle. Die Servicekräfte des AmphiPlex flankieren geduldig die breite Treppe, um diese mit blauen Kordeln von der oberen Ebene des Kinos abzutrennen. Zielstrebig bewegen sich die beiden Männer gegen den Besucherstrom durch das Foyer. Carl sperrt die Tür zum Vorführraum auf. Hintereinander gehen sie über die Wendeltreppe nach oben.

Leonard folgt den flinken Handbewegungen am Filmprojektor mit stoischem Gesichtsausdruck. „Du hast geübte Finger“, lobt er.

„Danke! Ich mache den Job schon eine Weile.“

„Wie lange bist du Filmvorführer?“

„Etwas über vier Jahre.“

„Ich hätte auf mehr getippt.“

„Warum?“

„Du hast viel Routine und man merkt dir die Begeisterung an der Arbeit an.“

„Es geht so, was die Begeisterung betrifft, aber das AmphiPlex ist ein guter Platz zum Jobben.“

Leonard sieht auf seine Armbanduhr. „Wir sollten nach den Kollegen sehen, damit wir den Saal starten können.“

* * *

Das Foyer des AmphiPlex ist mittlerweile nahezu menschenleer. Niklas inspiziert die blauen Kordeln vor der Treppe, als ihn Leonard zu Kinosaal 11 winkt. Gemeinsam wartet dieser mit Carl auf Monique, um die letzte Sichtung des Abends zu starten. „Womit kann ich Ihnen dienen?“, fragt Niklas betont höflich.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr euch den Film ansehen“, lädt Leonard die beiden Kinomitarbeiter ein.

„Danke. Ich muss leider noch arbeiten“, entschuldigt sich Niklas.

„Wie sieht es mit dir aus, Carl?“

„Nicht mein Film, wenn ich ehrlich bin. Ich bleibe außerdem lieber oben im Regieraum für den Fall, dass es in einem der Säle Probleme gibt.“

Leonard nickt ihm verständnisvoll zu. Wie zuvor startet Carl den Projektor über die Fernsteuerung. Nachdem sich Monique bei ihm bedankt hat, verlässt er den Saal Richtung Foyer. Dort bemerkt er Jens. Dieser eilt sofort zu ihm. „Wie läuft’s?“

„Bisher hat sich niemand beschwert.“

„Wunderbar! Dann wird das morgen eine großartige Filmpremiere.“

Carl deutet auf einen leeren Schaukasten.

„Die Filmplakate bekommen wir per Over-Night-Kurier.“

„Dann wird bestimmt alles gut.“

„Du bist nicht sonderlich enthusiastisch? Du solltest bei solchen Events etwas mehr Begeisterung zeigen!“

„Das ist doch nur ein Kinofilm“, Carl zuckt mit den Schultern, „der in zwei Wochen in jedem Kino läuft.“

„Das stimmt zwar, aber wir zeigen ihn als Allererste! Denk doch an die Werbung, die solch eine Premiere für unseren Filmpalast bedeutet.“

„Ist nicht gerade so, dass der Verleih eine große Auswahl in München hat, wenn er sechzehn Säle bespielen möchte.“

Jens tritt einen Schritt zurück, um Carl, der ihn deutlich überragt, zu mustern. „Ich muss dir ein kleines Geheimnis verraten, weshalb ich bei dieser Premiere so aufgeregt bin!“

„Okay?“ Carl schaut Jens mit leerem Gesichtsausdruck an.

„Ich habe mich beim Verleih auf eine Stelle als Disponent beworben. Aufgrund meiner bisherigen Tätigkeit im AmphiPlex stehen die Chancen gut, dass ich genommen werde.“

Carl runzelt die Stirn, doch sein Gesicht bleibt ausdruckslos.

„Das scheint dich nicht sonderlich zu beeindrucken?“

„Ich verstehe deine Begeisterung nicht.“

Jens holt tief Luft und geht zwei Schritte auf Carl zu. „Weißt du denn nicht, was das für mich bedeutet?“, fragt er mit gedämpfter Stimme. Carl schüttelt den Kopf. „Das bedeutet, dass ich einen echten Job in der Filmbranche habe. Etwas wovon fast jeder träumt, der hier im Kino anfängt!“

„Das ist aber nur ein Verleiher und keine Filmproduktion“, kontert Carl.

„Das stimmt zwar, doch der Verleih gehört zu einem Global Player! Dort habe ich viele Möglichkeiten, innerhalb des Konzerns Karriere zu machen. Vielleicht schaffe ich es sogar in eine der internationalen Produktionsfirmen, falls ich hart genug arbeite.“

„Wäre es nicht einfacher, an der Filmhochschule zu studieren?“

Jens bricht in hämisches Gelächter aus. „Der ist wirklich gut!“ Er wischt sich einige Tränen aus den Augen. „Nein im Ernst, welche Chance hat man, wenn man in Deutschland Film studiert? Glaubst du etwa, ich will beim ZDF für irgendeinen Heimatkitsch verantwortlich sein?“ Jens schüttelt energisch den Kopf.

Carl zuckt mit den Schultern.

„Nein. Ich habe Größeres vor! Du wirst schon sehen. Noch ein paar Wochen hier und dann startet meine Karriere beim Film richtig durch!“

„Ich wünsche dir viel Erfolg.“

„Danke, danke! Den werde ich haben“, erklärt Jens, der dabei leichtfüßig auf den Zehenspitzen umhertänzelt.

„Ich muss jetzt aber wirklich hoch in den Regieraum.“

„Natürlich“, bestätigt Jens, der im selben Moment bemerkt, dass ein Mitarbeiter des Verleihs aus einem der Säle heraustritt. Fragend blickt er zu Carl, während er hilflos in Richtung des Kinosaals gestikuliert.

„Der Film ist zu Ende“, beruhigt ihn Carl.

„Ach, ja.“ Ohne auf eine weitere Reaktion des Vorführers zu warten, eilt Jens zum vermeintlich zukünftigen Kollegen. Carl stapft kopfschüttelnd zur Tür des nächstgelegenen Vorführraums. Über die Wendeltreppe gelangt er zum laufenden Projektor. Routiniert wirft er einen Blick auf den Filmteller, inspiziert den Projektor und blickt einen Moment durch das Guckloch auf die Leinwand. Der Filmstreifen läuft ruhig und gleichförmig durch die Mechanik.

Während Carl über den Catwalk schlendert, beobachtet er von oben, wie sich Jens angeregt mit dem Techniker unterhält. Im Regieraum trifft er auf Igor, der die Spätvorstellungen in den Sälen der oberen Ebene betreut. „Servus! Alles klar in deinen Kinos?“

„Alles gut!“, erwidert Igor in seinem eigentümlichen, slawischen Akzent.

„Wunderbar!“

„Zwölf ist fertig.“ Igor deutet mit einem Finger auf die Monitore.

„Hab’s schon gesehen. Einer vom Verleih ist gerade rausgekommen. Solange Jens dem Typen die Ohren blutig quatscht, warte ich lieber hier.“

„Quälgeist gehört in Büro, nicht in Foyer.“

* * *

Leonard wartet bis Carl die Filmkopie im Metallschrank verstaut, bevor er dessen Türen mit Sicherheitsetiketten versiegelt. „Das war der letzte Film für heute“, stellt Leonard erleichtert fest. Carl pflichtet ihm kopfnickend bei. Er schaltet die Technik im Vorführraum mit routinierten Handgriffen aus. Leonard beobachtet ihn von der obersten Stufe der Wendeltreppe. „Ab wann bist du im Kino, Carl?“

„Meine Schicht beginnt um 17 Uhr. Schließlich haben wir in der Vorführung eine lange Nacht vor uns, falls wir alle Filmkopien zerlegen müssen.“

„Das befürchte ich ebenfalls.“ Die beiden gehen gemeinsam die Treppe hinunter. „Wir sehen uns morgen. Gute Nacht!“, verabschiedet sich Leonard an der Tür.

„Gute Nacht.“

Carl sperrt die Tür hinter dem Asiaten ab, hetzt die Wendeltreppe nach oben, verlässt den Vorführraum über den Catwalk und eilt möglichst geräuschlos zum Regieraum. Dort herrscht mittlerweile gespenstische Stille. Er schaltet nacheinander die Überwachungsmonitore aus, die nur noch dunkle Kinosäle zeigen. Die Luft ist warm und stickig, da die Klimaanlage in den Nachtbetrieb gewechselt hat. Eilig schaltet Carl einige Geräte im angrenzenden Vorführraum wieder ein. Aus dem Werkzeugregal holt er ein Etui mit Inbusschlüsseln. Behutsam öffnet er mit dem passenden Werkzeug die Seitenwand des Metallschranks, in dem sich die Premierenkopien befinden. Vorsichtig schiebt er das Seitenteil ein wenig nach hinten, sodass er an die Schrauben kommt, die die Frontpartie mit der Tür am Metallrahmen fixieren. Nachdem er die Schrauben sorgfältig gelöst hat, hebt er die Verkleidung inklusive der Türen mit den Siegeln nach oben weg. Problemlos kann er nun die Filmkopie entnehmen. Er legt die Premierenkopie auf eine Telleranlage. Mit ruhiger Hand fädelt er den Film in den dazugehörigen Projektor ein. Nachdem dieser startbereit ist, sieht Carl auf die Uhr. Unruhig wiegt er den Kopf hin und her. Nach kurzem Zögern beschließt er, den Vorführraum zu verlassen. Gelassen folgt er der Treppe und den Gängen zur untersten Ebene der Tiefgarage. Die Neonbeleuchtung im Treppenhaus ist erloschen, doch ihm reicht der grüne Schimmer der Notbeleuchtung völlig aus, um sich im Gebäude zu orientieren. Vor einer grauen Stahltür mit Warnhinweis bleibt er stehen. Er legt seine Hand auf den Türgriff, drückt ihn aber nicht nach unten, sondern lauscht für einen Moment. Nachdem er sich absolut sicher ist, dass auf der anderen Seite nichts zu hören ist, öffnet er langsam die Tür. Carl blinzelt mehrmals, da er von den Neonleuchten des Parkdecks geblendet wird. Eilig schlüpft er durch die Tür Richtung Audi. Er vermeidet jedoch den direkten Weg zum Wagen. Er umgeht die Kameras, die die Zufahrt zur Parkebene überwachen. Ungeniert huscht er an den geparkten Fahrzeugen vorbei, bis er am A4 angekommen ist. Ohne Zeit zu verlieren, holt Carl die Ausrüstung aus dem Kofferraum. Er sieht sich nochmals um. Erst dann eilt er zurück zur Stahltür. Erneut durchquert er das grün schimmernde Labyrinth des Gebäudekomplexes, bis er vor der Tür des Vorführraums steht. Auch hier hält er inne und lauscht. Stille! Er öffnet die Tür.

Zielstrebig geht er zum Filmprojektor. Carl montiert die Videokamera auf dem Stativ, damit sie durch das Guckloch die Leinwand erfasst. Er schließt das PowerBook an der nächsten Steckdose an. Per FireWire verbindet er die Kamera. Er betreibt diese ebenfalls mit dem Netzteil an einer Steckdose. Glücklicherweise hat Vincent daran gedacht, das internationale Adapterset mitzubringen. Er zieht noch ein langes Audiokabel mit vergoldeten Steckern aus dem Rucksack, das er an der Soundanlage des Kinos anschließt. Nachdem alles verkabelt ist, schaltet Carl die Saalbeleuchtung auf halber Stärke ein und öffnet den Vorhang. Sorgfältig justiert er die Kamera. Nach wenigen Momenten löscht er das Licht und beginnt die Aufzeichnung auf dem Laptop. Er startet den Projektor. Im Gegensatz zu einer normalen Vorführung öffnet er dessen Blende sofort, damit er das Startband mit dem Countdown aufnehmen kann. Zufrieden lehnt er sich zurück. Seelenruhig verfolgt Carl den Mitschnitt auf dem PowerBook.

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