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1.2 Ausgrenzung und Sozialdisziplinierung – Armenpolitik und Kinderfürsorge am Beginn der Neuzeit (1500–1650)

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Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit war politisch, ökonomisch und sozial durch tiefgreifende Umbrüche charakterisiert und mit erheblichen Auswirkungen auf das damalige Fürsorgewesen verbunden (Sauer 1979, 10). Die Auflösung der relativ statischen mittelalterlichen Ständeordnung, Katastrophen, Hungersnöte und Kriege sowie insbesondere die großen Pestepidemien, die ganz Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts heimsuchten, führten zur Herauslösung größerer Bevölkerungsteile aus tradierten Sozialbindungen und zu einem Anwachsen der Armut. Letzteres führte mittelfristig zu einer Überforderung des kirchlichen Almosen- und Spitalwesens in den Städten. Infolgedessen ging die Armenpflege nach und nach von kirchlichen Einrichtungen auf die Städte über, die allmählich die Aufsicht über die Gesamtheit aller die Stadt betreffenden Aufgaben, inklusive des Armenwesens, übernahmen (Amthor 2012, 53 ff.). Hatte das Betteln bzw. das Almosengeben in der katholisch geprägten Gesellschaftsordnung des Mittelalters noch eine klar umrissene Bedeutung für die jenseitigen Heilserwartungen der Reichen (Dort 2014), wurde es nun immer stärker als gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen, und die Städte gingen sukzessive zu einer restriktiveren Armenpolitik über, bei der das Betteln verboten oder stark eingeschränkt wurde. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden in den hierzu erlassenen Bettelordnungen erstmals Kriterien entwickelt, um die tatsächlich Bedürftigen von den (vermeintlichen) Simulanten und (potenziell) arbeitsfähigen Armen, die zur Arbeit gezwungen werden konnten, zu unterscheiden. Bettelabzeichen, die offen zu tragen waren, dienten gleichfalls der Unterscheidung zwischen ortsansässigen und nicht ortsansässigen Bettlern (Schilling/Klus 2015, 26 f.), also der Unterscheidung zwischen legitimen und nicht legitimen Ansprüchen.

Im Gefolge religiöser Umbrüche im Zuge der Reformation und einem Erstarken humanistischer Ideen kam es praktisch zeitgleich mit der Reform des Armenwesens zu einer stetigen »Aufwertung« der Berufsarbeit. Selbst wenn der Einfluss dieser neuen Ideen auf das Fürsorgewesen nicht genau zu bemessen ist, so lag die Leistung der Reformation zuvorderst darin, »dass im Kontrast gegen die katholische Auffassung der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mächtig schwoll« (Weber 1988, 74). Als Folge dieses weitreichenden gesellschaftlichen Einstellungswandels setzte sich nun auch in der Fürsorge zunehmend der Gedanke einer Arbeitspflicht für Arme durch (Scherpner 1979, 27 ff.), und bereits die zweite Nürnberger Bettelordnung von 1478 enthielt die Forderung, Kinder nicht mehr nur aufzuziehen, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten, sondern sie dazu zu befähigen, »sich ohne Almosen, nur durch ihre eigene Arbeit zu unterhalten« (Schilling/Klus 2015, 26). Dazu wurden ihnen von der Stadt Arbeitsplätze vermittelt.

Umfassend theoretisch ausgearbeitet wurde diese Position durch den spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der in seiner 1526 erschienenen Schrift De subventione pauperum entschieden den Gedanken einer systematischen Arbeitserziehung formulierte:

»Der einzige Weg ist die planmäßige erziehende Bemühung um den einzelnen Armen. Mit der Unterstützung und durch die Unterstützung soll der Arme erzogen und, wenn er arbeitsfähig ist, zur Arbeit erzogen werden. Der innere Kern allen fürsorgerischen Handelns ist die Erziehung zur Arbeit« (Scherpner 1979, 28).

Begreiflicherweise musste eine so verstandene Fürsorge, wenn sie Erfolg haben wollte, vor allem bei den Kindern einsetzen. Vives forderte daher, die Erziehung der Findel- und Waisenkinder, zusammen mit den Kindern der Armen, dem Gemeinwesen zu unterstellen, das diese Kinder in einer öffentlichen, internatsähnlichen Schule unterrichten sollte (Schmidt 2014, 81 ff.). Selbst wenn es zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Findel- und Waisenhäusern gab, die darum bemüht waren, zumindest den Jungen eine Bildung und Ausbildung zu verschaffen, blieb die allgemeine Praxis der Armenkinder-Erziehung jedoch weit hinter diesen programmatischen Ansprüchen zurück (Röper 1976, 102).

Interessant ist die Reform der städtischen Armenfürsorge im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert aber noch aus einem anderen Grund: Sie beendete nämlich die Phase der bloßen Ausgrenzung und leitete, wie Sachße/Tennstedt (1980, 38) zusammenfassend feststellen, »den Prozess der ›Sozialdisziplinierung‹ der untersten Bevölkerungsschichten der spätmittelalterlichen Gesellschaft, ihre Erziehung zu Arbeitsdisziplin, Fleiß, Ordnung und Gehorsam« ein. Mit diesen frühen Ansätzen zur Disziplinierung der Armenbevölkerung durch Erziehung wird ein neues Muster in der organisierten Bearbeitung sozialer Probleme erkennbar: Bedeutete »Fürsorge« bis dahin zumeist die dauerhafte räumliche und soziale Entfernung aus der Gemeinschaft, so hat etwa Foucault am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit geistig Behinderten (1969) und Straftätern (1977) exemplarisch herausgearbeitet, dass Fürsorge und Sozialdisziplinierung im 17. und 18. Jahrhundert immer stärker einen inklusionsvermittelnden Charakter annahmen: Ausgrenzung, bis dahin Selbstzweck, wird nun zu einem Mittel, das die Voraussetzungen für eine erneute Inklusion in den Sozialzusammenhang der Gesellschaft zu einem späteren Zeitpunkt schafft, indem der Ausgegrenzte sich bessern soll, während er ausgegrenzt ist.

Europaweit scheitert die breite Durchsetzung einer allgemeinen Arbeitspflicht für Arme allerdings vor allem an dem vorhandenen Überangebot an verfügbarer Arbeitskraft, dem kein entsprechender Bedarf gegenüberstand. Mit dem Aufkeimen frühkapitalistischer Wirtschaftsformen und dem Entstehen einzelner Manufakturbetriebe am Ende des 16. Jahrhunderts änderte sich dies allmählich:

Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden in England, zur Behebung des Armutsproblems und zur Sicherung des einsetzenden Arbeitskräftebedarfs, bei gleichzeitigem Verbot des Bettelns vereinzelt Anstalten geschaffen, in denen umherziehende Arme unter Anwendung härtester Körperstrafen zur Arbeit gezwungen wurden. Nach und nach entwickelte sich in den damaligen Zentren des Kapitalismus – England, Frankreich und Holland – ein Anstaltstypus ganz neuer Art: das Zucht- oder Arbeitshaus (Scherpner 1979, 40 ff.).

Auch in den alten Handelsstädten Hamburg, Bremen und Lübeck wurden bald Anstalten des ›neuen‹ Typs geschaffen. Diese waren, bedingt durch die engen Handelsverflechtungen mit den Niederlanden, vor allem an holländischen Vorbildern orientiert. Dort verlief die Entstehung der Zuchthäuser, anders als in Frankreich und England, teilweise unabhängig von der allgemeinen Armenfürsorge. Beeinflusst durch humanistische und reformatorische Glaubensvorstellungen sah der niederländische »Sonderweg« eine getrennte Behandlung jugendlicher Straftäter und verwahrloster Jugendlicher vor, die im »tuchthuis« durch strenge Zucht und schwere Arbeit moralisch gebessert und zu nützlichen Gliedern der Wirtschaftsgesellschaft erzogen werden sollten. Im Gegensatz zu Frankreich und England war Arbeitserziehung in den Niederlanden also vorwiegend an wirtschaftspolitischen und pädagogischen – nicht armenpolizeilichen und disziplinierenden – Überlegungen orientiert (ebd., 58 ff.). Insgesamt waren aber die Voraussetzungen im konfessionell wie politisch zersplitterten Deutschland für den ›neuen‹ Anstaltstyp eher ungünstig. Er setzte sich dort erst verspätet, mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, allmählich durch. Zu diesem Zeitpunkt war es vor allem der massive, kriegsbedingte Bevölkerungsrückgang und der notwendige ökonomische Neuaufbau, die das Interesse der Obrigkeit an der wirtschaftlichen Nutzung kindlicher Arbeitskraft anwachsen ließ. Dabei gingen häufig die Interessen einzelner Kapitalgeber Hand in Hand mit den Interessen der jeweiligen Landesherren an der Einführung und Entwicklung neuer Produktionszweige, während pädagogische Überlegungen in den Hintergrund traten.

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