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1 Ein historischer Abriss über die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu einem eigenständigen System mit rechtlich-institutionell garantierter Zuständigkeit
ОглавлениеAuch wenn von Jugendhilfe im engeren Sinne erst ab dem 19. Jahrhundert gesprochen werden kann (vgl. Struck/Schröer 2015, 805), so liegen deren Anfänge bereits mehr als ein halbes Jahrtausend zurück – mindestens seit dieser Zeit existieren Formen von Anstaltserziehung. Während dieses Zeitraums unterlag die Wahrnehmung des eigentlichen Bezugsproblems – als ›problematisch‹ geltende Kinder und Jugendliche bzw. solche, die in ›problematischen‹ Situationen aufwachsen – einer Vielzahl unterschiedlicher, oftmals lokal uneinheitlicher und zeitgebundener Deutungsweisen. Und ebenso unterschiedlich wie die Wahrnehmung des Phänomens im Zeitverlauf waren auch die Ansätze für dessen Bearbeitung. Für das Verständnis des Systems der heutigen Kinder- und Jugendhilfe ist es gleichermaßen notwendig, sowohl organisatorische Differenzierungs-, Spezialisierungs- und Verflechtungsprozesse genauer zu betrachten als auch diese Prozesse auf Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu beziehen, die in ihrer Dynamik oft weit über konkrete Veränderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hinausweisen. Erst vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, sich wechselseitig beeinflussenden und bedingenden Entwicklungen – d. h. nur im Zusammenspiel von internen Dynamiken und extern gegebenen ›Möglichkeitshorizonten‹ – wird deutlich, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe sukzessive als System etablieren konnte, das sich durch einen eigenständigen, rechtlich-institutionell garantierten Exklusivitätsanspruch auszeichnet. Dabei wird deutlich werden, dass diesem Prozess keine Zwangsläufigkeit oder ein bestimmtes Telos zugrunde liegt. Vieles an dieser Entwicklung ist zufällig, abhängig von einzelnen Personen und ihren Ideen, von Kämpfen, Siegen und Niederlagen, von den Interessen der Mächtigen und deren Verwobenheit in größere Zusammenhänge. An zentralen Wegscheiden wären deshalb oftmals Alternativen denkbar gewesen – Entwicklungspfade, die aus heutiger Sicht vielleicht einsichtiger oder funktionaler gewesen wären und erst in der Retrospektive und der Rekonstruktion der beteiligten Interessen verständlich werden. Jedoch wird beim Blick zurück ein Muster erkennbar, das vielleicht typisch ist für ein Staatsgebiet, das einstmals eine Ansammlung weitgehend unabhängiger Staaten auf dem Boden des deutschen Reiches war und heute in einer föderal strukturierten Bundesrepublik weiterlebt: Immer wieder folgt die Praxis Eigengesetzlichkeiten, die Antworten auf lokale Erfordernisse oder das Ergebnis mikropolitischer Prozesse darstellen. Die Heterogenität des Staatswesens und der politischen Strukturen machten und machen Deutschland in der Kinder- und Jugendhilfe, wenn man es denn so nennen will, zu einem ›Innovationsinkubator‹ par excellence. Hingegen sind die Beispiele, bei denen sich belegen lässt, dass Gesetzesnovellen zu Innovationen geführt haben, äußerst rar gesät. Die Regel ist eine andere: Immer wieder schreitet die Praxis voran, während der Gesetzgeber diese Praxis hinterher zusammenfasst, systematisiert, vereinheitlicht und manchmal erst legalisiert. Kennzeichnend für die Entwicklung der deutschen Kinder- und Jugendhilfe ist daher, dass Strukturen i. d. R. schon bestanden, bevor sie formal, in kodifizierter Form als Gesetz, umfassenden Erwartungscharakter annahmen.