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1.7 Kinder- und Jugendhilfe im Nationalsozialismus (1933–1945)

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Ungeachtet aller Unzulänglichkeiten, die mit der Einführung des RJWG verbunden waren, stellte das Gesetz eine juristische Rahmung dar, die die organisatorische Struktur des Feldes sowie grundlegende Formen der Verantwortlichkeit und Zusammenarbeit bis zur Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1990/91 festschrieb. Die Jahre zwischen der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten davon keine Ausnahme: Nachdem ein 1934 vom »Reichszusammenschluss der freien Wohlfahrtspflege« vorgelegter Entwurf für ein neues Reichsjugendgesetz gescheitert war, fanden die z. T. erheblichen Veränderungen der Praxis im Nationalsozialismus überwiegend unterhalb der Gesetzesebene statt. Formell wurde lediglich die Kollegialverfassung des Jugendamts aufgehoben und analog zum »Führerprinzip« durch die allgemeine Verantwortung des Leiters der Verwaltung ersetzt, so dass 1945 das RJWG nach Wiederherstellung der Kollegialverfassung in der ursprünglichen Form von den Besatzungsmächten für anwendbar erklärt wurde (Münder/Trenczek 2015, 55).

Die Zeit des Nationalsozialismus bedeutet für die Jugendhilfe deshalb vor allem eine veränderte ideologische Ausrichtung: An die Stelle des Individuums und dessen Entfaltung trat nun die Volksgemeinschaft und der Dienst für das Wohl des Volkes; an die Stelle individueller Hilfe und Unterstützung der Versuch, Menschen unter erb- und rassepflegerischen Gesichtspunkten zu selektieren.

Konkrete Veränderungen und eine Beschneidung der Aufgaben des Jugendamts ergaben sich entweder durch eine radikale Neuinterpretation des RJWG oder durch dessen teilweise Substitution ohne formelle Änderung des Gesetzes: So entzog das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 dem Jugendamt die Aufgabe der Mütter- und Säuglingsberatung und übertrug sie auf die Gesundheitsämter, das Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936 beendete dessen jugendpflegerische Aktivitäten und machte stattdessen die Hitlerjugend zur staatlichen Zwangsorganisation. Beides geschah, ohne dass § 4 RJWG geändert wurde (Sachße/Tennstedt 1992, 154 ff.). Während die Jugendpflege faktisch in die Hände der Hitlerjugend überging, reklamierte gleichzeitig die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) für sich die Zuständigkeit über die FE.

Die NSV wurde am 3. Mai 1933 als Parteiorganisation anerkannt und übernahm kurze Zeit später die Führung des »Reichszusammenschlusses der Wohlfahrtsverbände«. Bei Kriegsbeginn waren mehr als 12 Mio. Deutsche Mitglied in der NSV. Inhaltlich konzentrierte sich die die NSV auf präventive und familienunterstützende Hilfen für »Erbgesunde« (Gemeindepflegestationen, Schwangeren- und Mütterberatungen, Pflegedienste etc.). Daneben organisierte sie Sammlungen für das »Winterhilfswerk« (WHV) und das Hilfswerk »Mutter und Kind«. Im engeren Bereich der Jugendhilfe eröffnete die NSV erstmals flächendeckend Erziehungsberatungsstellen – nun nicht mehr wie bisher als Abteilung in einer Jugendpsychiatrie, sondern als pädagogisches Beratungsangebot (Kuhlmann 2012, 94). Zwar blieb die grundlegende rechtliche Zuständigkeit des Jugendamts für vormundschaftliche Aufgaben und die Durchführung der Jugendhilfe erhalten, dennoch drängte die NSV sowohl als Träger (insbesondere Kindergärten) als auch durch die Verstärkung von Aufsichtsmaßnahmen und Einflussnahme auf Personalentscheidungen immer stärker in die Jugendhilfe hinein.

Indirekt stärkte auch die Ausdifferenzierung der Fürsorgeheime, in denen sich zunächst noch sehr unterschiedliche Zielgruppen fanden, den Einfluss der NSV: Im Rahmen der nationalsozialistischen Selektionspolitik etablierte sich sukzessive die Unterscheidung zwischen erbgesunden, normal begabten Minderjährigen, gefährdeten, aber noch resozialisierbaren Minderjährigen und solchen, die anlage- oder charakterbedingt als kaum noch zu resozialisieren galten. Die NSV »strebte vor allem eine positive Auslese ›erbgesunder‹ Kinder und Jugendlicher an, die lediglich aufgrund sozialer Umstände in ihrer Entwicklung gestört waren« (Sachße/Tennstedt 1992, 164) und beanspruchte deren Betreuung für sich.

Bei den NSV-Jugendheimstätten, die für diese Kinder konzipiert waren, handelte es sich um halboffene Einrichtungen, in denen nach NSV-Kriterien besonders förderungswürdige Kinder und Jugendliche untergebracht wurden (Kuhlmann 2012, 100 ff.). Die Unterbringung sollte ein Jahr nicht überschreiten, danach sollten die Zöglinge, wenn möglich, wieder zur eigenen Familie zurückgebracht werden. Quantitativ war die Bedeutung der NSV-Heimstätten zwar gering, alleine ihre Existenz bedeutete jedoch eine Abwertung der bestehenden FE-Einrichtungen. Diese waren noch immer zu rund drei Viertel in konfessioneller Hand und bestanden während der NS-Zeit fort. Überwiegend wurden dort »gemeinschaftsgefährdende Jugendliche« von den FE–Behörden, also den Landesjugendämtern, eingewiesen. Die wichtigsten Veränderungen bestanden hier nicht in der Form, sondern in der inhaltlichen Ausrichtung der Arbeit, »im Wechsel von karitativ- bzw. diakonisch-christlichen zu ›modernen‹ sozialrassistischen Deutungsmustern von Verwahrlosung« (Kuhlmann/Schrapper 2001, 296). Die Durchsetzung eugenischer Selektionskriterien hatte noch andere Folgen: Reichsweit wurden nach 1933 ungefähr zwölf Prozent der Fürsorgezöglinge zwangssterilisiert – mit Wissen und Billigung der meisten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendfürsorge.

Daneben existierten im Nationalsozialismus noch zwei weitere Heimtypen, die sog. Beobachtungs- oder Ausleseheime und die Jugendschutzlager: In der Regel kam den Fürsorgeanstalten eine (prä-)selektive Funktion für die Aussonderung »erbgeschädigter Nichterfolgsfälle« zu, die durch Beobachtungsheime – meist in der Trägerschaft der FE-Behörden und unter psychiatrischer Leitung – ergänzt wurde. Dabei sollte

»die frühere Differenzierung nach Alter, Geschlecht und Bildungsgrad (…) durch eine Differenzierung nach Schweregrad der Erbbelastung ersetzt werden. In manchen Provinzen gab es bis zu 11 Auslesestufen, vom ›erbgesunden, geistig normalen Jugendlichen aus schlechten häuslichen Verhältnissen‹ bis zum ›verwahrlosten rassischen Fremdling‹. Für die Einordnung in diese Kategorien gab es trotz aller wissenschaftlicher Rhetorik keine ›objektiven‹ Kriterien, sondern beobachtetes Alltagsverhalten wurde als ›krankes‹ bzw. ›gesundes‹ Verhalten interpretiert« (ebd., 296).

Daneben bestanden die »Jugendschutzlager« in Moringen (seit 1940) und Uckermark (seit 1942), also Jugendkonzentrationslager für diejenigen, die als nichterziehbar, »asozial« oder »gemeinschaftsfeindlich« galten. In der Regel wurden diese aus anderen Fürsorgeeinrichtungen dorthin überwiesen. Zahlenmäßig waren die Lager zwar unbedeutend, dennoch entfaltete schon die Drohung, dorthin überwiesen zu werden, eine gewaltige Wirkung.

»In Moringen gab es sechs verschiedene Blöcke, vom U-Block (für sog. Untaugliche) über die sog. Dauer- und Gelegenheitsversager bis zum E-Block der ›Erziehungsfähigen‹. Aus dem letztgenannten Block wurden die Zöglinge in die ›Freiheit‹, d. h. zum Reichsarbeitsdienst oder zur Wehrmacht entlassen. Aus den Blöcken der sog. Unerziehbaren wurden die Zöglinge in Heilanstalten oder Konzentrationslager überwiesen – beides in der damaligen Zeit in vielen Fällen ein Todesurteil. Die Differenzierung gehörte so notwendig zum nationalsozialistischen Erziehungssystem, dass sogar in der ›Endstation‹, in den Jugend-KZs, nicht darauf verzichtet wurde« (Kuhlmann 2012, 101).

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