Читать книгу Kinder- und Jugendhilfe - Joachim Merchel - Страница 13

1.4 Staatlicher Rückzug aus der Fürsorge und private Rettungshausbewegung (1820–1870)

Оглавление

Das Ende der napoleonischen Kriege bedeutete für die Entwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge einen tiefgreifenden Einschnitt. Nicht nur wurden durch den Krieg, wie in Hamburg, viele ehemals pädagogisch genutzte Einrichtungen in Mitleidenschaft gezogen oder einer anderweitigen Verwendung zugeführt, sondern der völlige Zusammenbruch der Wirtschaft zog zugleich eine allgemeine Verarmung nach sich und brachte viele Städte an den Rand des finanziellen Ruins. Zeitgleich führten das Erstarken der Restauration und die daran geknüpften anti-aufklärerischen Tendenzen zu einer gesellschaftlichen Neubewertung der Armenfrage, die auch die Kinder- und Jugendfürsorge einschloss (Scherpner 1979, 117 f.). Gemäß der damals allgemein vorherrschenden Auffassung, die stark durch den englischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus beeinflusst war, galten nun staatliche Eingriffe zugunsten einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen als im höchsten Maße verfehlt.

Malthus hatte in seinem damals viel beachteten Essay on the Principle of Population (1798) die Theorie entwickelt, wonach die Bevölkerung sehr viel schneller wachse als die für ihre Ernährung notwendigen Subsistenzmittel. Die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung hätte damit zwangsläufig die Not der anderen zur Folge gehabt. Malthus war deshalb ein entschiedener Gegner jeder geordneten öffentlichen Armenpflege, denn jede öffentliche Fürsorge, die aus dem Steueraufkommen die Mittel zum Unterhalt der Armen entnahm, musste sie zu früher Eheschließung anreizen und so die Geburtenzahl erhöhen. Nur moralische Enthaltsamkeit konnte seines Erachtens das Los der Armen verbessern; eine Forderung, die sich im Laufe der Diskussion um die malthusischen Lehren so sehr in den Vordergrund schob, dass schließlich Not und Elend der untersten Bevölkerungsschichten als deren selbstverschuldetes Los erschien. Dabei korrespondierten die malthusischen Überlegungen mit dem individualistischen Geist des deutschen Frühliberalismus, nach dessen Staatsverständnis die Obrigkeit ausschließlich die Interessen der Gesamtheit der Bevölkerung zu schützen habe, es fehle ihr aber jedes Recht, in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben oder in das von Familien einzugreifen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es deshalb zu einem fast vollständigen Rückzug staatlicher und kommunaler Organe aus dem Bereich der öffentlichen Fürsorge: Allenfalls ein regelmäßiger Schulbesuch sollte gewährleistet bleiben, darüber hinaus beschränkten sich das Handeln von Staat und Kommunen auf die Durchführung polizeistaatlicher Maßnahmen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Betreiben von Gefängnissen und Besserungsanstalten.

Die Armen – ebenso wie ihre Kinder – waren damit unmittelbar den Bedingungen des einsetzenden Industriezeitalters ausgesetzt und auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen: Die Verelendung und Verwahrlosung der unteren Bevölkerungsschichten, von der besonders die Kinder betroffen waren, nahm deshalb bald dramatische Ausmaße an (Scherpner 1979, 117 ff.). Parallel zum Rückzug des Staates kam es im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge zu einer Zunahme privater, überwiegend religiös geprägter Hilfsorganisationen und zu zahlreichen Neugründungen von Erziehungsanstalten und Fürsorgeeinrichtungen. Im Zentrum ihrer erzieherischen Arbeit stand die »Seelenrettung« von »leidenden, entwurzelten und unerzogenen Kindern« (Sauer 1979, 39).

Von zentraler Bedeutung für die gesamte »Rettungshausbewegung« war Johann Heinrich Wichern, der 1833 das »Rauhe Haus« in Horn bei Hamburg gründete und später, 1848, eine zentrale Rolle beim Zusammenschluss der protestantischen Hilfsorganisationen zum »Centralausschuß für die Innere Mission der evangelischen Kirche« spielte. Wichern sah, wie die meisten Vertreter der Rettungshausbewegung, die vorrangigen Ursachen der herrschenden sozialen Misere in der unkontrollierten Ausweitung gesellschaftlicher Freizügigkeit. Sein pädagogischer Ansatz war deshalb an romantisch verklärten Vorstellungen einer ständisch-patriarchalen, letztlich vorindustriellen Gesellschaft ausgerichtet, zu der er hoffte, durch traditionale Gemeinschaftsbindung zurückzukehren. Während der praktischen Umsetzung im »Rauhen Haus« kamen allerdings auch neue pädagogische Ansätze zum Tragen: So beispielsweise der familienähnliche Charakter der Erziehung in der Einrichtung (bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Geschlechtertrennung), die Verteilung der Verantwortung (Anfänge von Mitverwaltung), die Verbindung von theoretischer Ausbildung und Werkbildung oder die Integration der Freizeit in den Erziehungsprozess. Gleichzeitig engagierte sich Wichern in der Ausbildung von Diakonen; er schuf gar eine eigene Berufsausbildung für sie.

Wicherns zentrale Bedeutung für die Kinder- und Jugendhilfe rührt jedoch vor allem aus seiner tragenden Rolle beim freiwilligen Zusammenschluss aller evangelischen Einrichtungen zum »Centralausschuß für die Innere Mission der Evangelischen Kirchen« auf dem Kirchentag in Wittenberg (1848), einer Vorläuferorganisation der heutigen »Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband«. Über die damaligen Landesgrenzen hinweg entstand nun die Möglichkeit, die Aktivitäten der vielfältig zersplitterten Einrichtungen und Vereine durch Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch zu bündeln, überörtlich zu planen, neue Notstände aufzudecken und für spezifische Gruppen von Kindern differenzierte fürsorgerische Angebote zu schaffen (Scherpner 1979, 148 ff.). Zwar waren auf katholischer Seite im 19. Jahrhundert ähnliche Bestrebungen zu beobachten, bis zu einem Zusammenschluss der katholischen Einrichtungen im Jahr 1897, vergleichbar dem der evangelischen, sollte allerdings noch rund ein halbes Jahrhundert vergehen (Buck 1991, 143). Mit dem Zusammenschluss der kirchlichen Träger ging natürlich auch eine Stärkung des kirchlichen Einflusses in der Fürsorge einher.

Gleichzeitig bemühten sich die kirchlichen Einrichtungen erkennbar um Distanz zum Staat, indem sie z. B. aus Gründen der Autonomiewahrung gegenüber dem Staat Kinder und Jugendliche nur mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten aufnahmen. Ungeachtet dessen entwickelten sich einige dieser kirchlichen Einrichtungen – finanziert durch Spenden und Beiträge der Eltern – zu großen Anstaltskomplexen, in denen oftmals mehrere hundert Kinder versorgt und erzogen wurden. Delinquente Kinder und Jugendliche blieben allerdings von dieser Form privater Fürsorge ausgeschlossen. Das Disziplinierungs- und Sanktionsinstrumentarium in Form von Armen- und Besserungsanstalten oder Gefängnissen, das gegenüber straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen zum Einsatz kam, blieb vorerst noch unverändert in den Händen der staatlichen Obrigkeit. Allerdings wäre den staatlichen Organen, die sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wieder stärker in der Kinder- und Jugendfürsorge engagierten, kaum möglich gewesen, eine per Gesetz eingeführte Zwangserziehung durchzusetzen, wenn nicht die privaten Anstalten schließlich ihren Widerstand aufgegeben hätten, im staatlichen Auftrag erzieherisch zu handeln (Scherpner 1979, 155).

Parallel zu den Entwicklungen in der Heimerziehung erfolgten in dieser Phase der »Protoindustrialisierung« und der durch sie erzeugten gesellschaftlichen Wandlungen auch erste Vorstöße zu einer Organisation der öffentlichen Kleinkinderziehung (Erning/Neumann/Reyer 1987; Hering/Schröer 2008). Dabei spielten verschiedene Gründe zusammen: Neben dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Armen, indem man arme Familien von der Kinderbeaufsichtigung versuchte zu entlasten, um insbesondere den Müttern die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu ermöglichen und Unfälle bei unbeaufsichtigten Kindern zu vermindern, spielte dabei die Angst vor möglichen Aufständen bzw. die Erziehung der Kinder zur Selbstgenügsamkeit und zur Vorbereitung auf ihren späteren Stand als erwerbstätige Arme ebenso eine Rolle wie die Erziehungsvorstellungen eines aufgeklärt-philanthropischen Bürgertums, das Kindern zunehmend altersspezifische Entwicklungs- und Bildungsbedürfnisse zubilligte. Typisierend lassen sich diese Ansätze öffentlicher Kleinkinderziehung mit den Begriffen »Bewahranstalt«, »Kleinkinderschule« und »Kindergarten« zusammenfassen, die mit den Namen Johann Georg Wirth, Theodor Fliedner und Friedrich Fröbel als deren zentrale Promotoren verbunden sind (Erning/Neumann/Reyer 1987, 29 ff.).

Kinder- und Jugendhilfe

Подняться наверх