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1.5 Das System der Kinder- und Jugendhilfe formiert sich (1870–1915)
ОглавлениеObwohl es bereits während des 19. Jahrhunderts in einigen Staaten des deutschen Bundes Ansätze gab, die Situation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern (z. B. Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, Einschränkung der Kinderarbeit, Verbesserung der Situation der Pflegekinder, Sonderbestimmungen für jugendliche Straftäter), setzte ein eigentlicher Umschwung in der Frage der Kinder- und Jugendhilfe erst nach 1871 und der Gründung des Deutschen Reiches ein. Industrialisierung, Verstädterung, Binnenwanderungen enormen Ausmaßes, die bedrohliche Zusammenballung der Armut in den Arbeiter- und Elendsvierteln der Städte und vor allem der sich immer mehr verschärfende Interessengegensatz zwischen Unternehmern und organisierter Arbeiterschaft zwangen den Staat gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend, seine liberale Grundhaltung aufzugeben und Sozialreformen einzuleiten (Sachße 1986, 18 ff.). Mit der Anerkennung seiner grundsätzlichen Verantwortlichkeit für die Ordnung der sozialen Verhältnisse erschien nun auch die allgemeine Fürsorge sukzessive in einem neuen Licht:
»Zivilisierung der Unterschichten im allgemeinen, Kanalisierung des bedrohlichen Massenpotentials der ›gefährlichen Klassen‹, Ersetzung der mangelhaften privaten Wohltätigkeit durch effektivere Staatshilfe, Tendenzen zur generellen Ausdehnung der pädagogischen Provinz und der fortschrittsoptimistische Glaube an die Evolution der modernen Humanwissenschaften zu praktisch durchgreifenden Instrumenten der Abschaffung von Krankheit, Elend und Kriminalität: Solche Strategien und Zielvorgaben standen im Hintergrund der neuen sozialpädagogischen Initiativen« (Peukert/Münchmeier 1990, 6 f.).
Parallel dazu vollzog sich in der Pädagogik »eine dramatische Richtungsänderung der Gedankenentwicklung (…), ein neues Bild vom Kinde, von den Zielen und den Mitteln der Erziehung und des Unterrichts setzt sich immer mehr durch« (Plake 1991, 9).
Dieser von Plake diagnostizierte »Paradigmenwechsel in der Erziehungstheorie« und die Renaissance reformpädagogischer Leitideen führten zusammen mit dem sich wandelnden Staatsverständnis dazu, dass Kinder- und Jugendhilfe nun immer mehr als öffentliche Aufgabe begriffen wurde. Die Kinder- und Jugendhilfe trat damit sukzessive in eine neue Phase ein, in deren Verlauf sie sich zum einen von der staatlichen Armenfürsorge endgültig ablöste und zum anderen immer stärker gegen den konkurrierenden Erziehungs- oder Sozialisationsanspruch der Familie als primäre Sozialisationsinstanz durchsetzte.