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1.3 Kommunale und private Kinderfürsorge unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung (1650–1820)
ОглавлениеNeue Impulse erhielt die Anstaltserziehung in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg durch das Aufkommen des Pietismus. Der Pietismus, wurzelnd im lutherischen Protestantismus, betonte vor allem die persönliche Glaubensüberzeugung und Frömmigkeit sowie die Verantwortung des Einzelnen für sein Seelenheil. Dazu gehörte auch die aktive Befassung mit dem Wort Gottes. Auf diese Weise formulierte der Pietismus gleichzeitig die Programmatik für die grundlegende Bildung breiter Schichten, denn die individuelle Befassung mit der übersetzten Bibel erforderte Kenntnisse im Lesen und förderte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Ordnung und Pflichtgefühl. Die für die Kinder- und Jugendfürsorge wohl wichtigste Person des Pietismus war August Hermann Francke (1663–1727), der um 1695 damit begann, die späteren »Halleschen Anstalten« aufzubauen, in denen die Kinder, getreu seiner pietistischen Überzeugung, wonach erst Bildung den Zugang zu Gott ermögliche, auch eine Schulbildung erhielten, selbst wenn das vorrangige Ziel von Franckes Arbeit mit den Kindern das »Einpflanzen der wahren Gottseligkeit« war. Um einen Teil der Unterhaltskosten selbst bestreiten zu können, vor allem aber, um sie vor den »Verlockungen der Welt« zu schützen, sollten die Kinder in den Anstalten unter ständiger Aufsicht stehen und allzeit nützlich beschäftigt werden, um sie, früh an Arbeit gewöhnt, entsprechend ihren Neigungen und Fähigkeiten auf die Berufsarbeit vorzubereiten (Röper 1976, 107 ff.).
Von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist Francke aber weniger wegen seines pädagogischen Programms und der vielfach auf ihn zurückgehenden Armenschulen, sondern vielmehr deshalb, weil mit ihm ein völlig neuer Organisationstyp in die Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge eintritt: Lag bisher die Verantwortung für die Versorgung von Schutzbedürftigen bei den Städten, den Landesherren oder kirchlichen Einrichtungen, so bemüht sich mit Francke erstmals ein Einzelner, angetrieben von religiösen Motiven, um die Beseitigung sozialer Notstände und gründet dafür eine besondere Einrichtung, wobei die finanzielle Unterstützung von Gesinnungsfreunden den Bestand der Einrichtung sicherstellte (Scherpner 1979, 72 f.). Francke war also, wenn man einen Begriff von Howard S. Becker heranziehen will, der erste erfolgreiche »Moralunternehmer« (Moral Entrepreneur) auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe. Seine Einrichtung stand Pate für viele weitere, ähnlich geartete Institutionen. Das so entstandene Nebeneinander privater, überwiegend religiös motivierter Fürsorge und staatlicher bzw. kommunaler Fürsorge sollte bis in die Gegenwart hinein bestimmend bleiben für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe.
Allerdings blieben die »Halleschen Anstalten« eine – wenngleich in ihrer Modellwirkung nicht zu unterschätzende – Ausnahmeerscheinung im damaligen System der Fürsorge. Die überwiegende Mehrzahl der Waisenkinder war noch immer unter widrigsten Bedingungen in Einrichtungen untergebracht, deren vorrangiges Ziel die Ausbeutung und ökonomische Nutzung kindlicher Arbeitskraft war.
Bekannt geworden ist die Beschreibung Christian Gotthilf Salzmanns, der in der 1783–1787 in Leipzig erschienenen Schrift Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend die Zustände in einem dieser Waisenhäuser wie folgt beschreibt:
»Nie habe ich so anschauliches Gemälde vom menschlichen Elend gehabt, als in dieser Stube. Ein ganzes Heerdchen Kinder (…) Alle sahen sie bleich aus, wie die Leichen, hatten matte, viele triefende Augen, kein Zug von Munterkeit war an ihnen sichtbar, einige hatten verwachsene Füße, andere verwachsene Hände, und alle starrten vor Grätze, die alles Mark auszusaugen schien. Die Stube war schwarz vom Oeldampfe, und an den Wänden flossen die Ausdünstungen herab, die diese Elenden von sich gaben. (…) Und alle ihre Arbeit war Spinnen. Einige, besonders die Kleinen, sponnen sitzend, die anderen stehend.«
Der mit der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende »Waisenhausstreit« (Röper 1976, 140 ff.; Sauer 1979, 25 ff.) richtete sich daher in erster Linie gegen die unhygienischen und gesundheitsgefährdenden Zustände in den Anstalten sowie die inhumane Behandlung der Kinder und die Profitgier der Anstaltsbetreiber. Kritisiert wurde auch das Übermaß an religiöser Erziehung, das nicht mehr den Forderungen eines aufgeklärten Christentums entsprach. Indes wurden keine prinzipiellen Einwände gegen eine Erziehung durch und zur Arbeit erhoben (Eilert 2012, 533 ff.). Im Gefolge dieser Auseinandersetzung kam es jedoch zur Auflösung eines Teils der bestehenden Waisenhäuser, deren Insassen anschließend meist in Familienpflege überführt wurden.
Zwei Entwicklungen, die in dieser Zeit ihren Anfang nahmen, scheinen für die weitere Entwicklung der Anstaltserziehung folgenreich: erstens die weitere Ausdifferenzierung der Waisenhäuser, die bis dahin noch immer eine eher unspezifische Fürsorgeeinrichtung gewesen waren. So entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts »aus der Einsicht in die besonderen Erziehungsbedürfnisse bestimmter Gruppen von Kindern die ersten Sonderanstalten: die Blinden- und Taubstummenfürsorge findet von Frankreich ausgehend überall Nachahmung, die Anfänge von Idioten-(Kretinen-)Anstalten tauchen auf, denen später Krüppelanstalten und Epileptikeranstalten folgen. An die Stelle jenes einen Waisenhauses traten die verschiedensten Anstalten mit besonderen Aufgaben und eigenen Arbeitsformen« (Klumker 1931, 670). Erst durch die ›Auslagerung‹ von geistig- und körperbehinderten Kindern und Jugendlichen, für die nun eigene Spezialeinrichtungen geschaffen wurden, wurde für die verbleibenden Anstalten der Weg frei, sich nun sukzessive immer stärker Erziehungsaufgaben zu widmen. Die zweite folgenreiche Entwicklung, die sich mit Namen wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi verbindet, mündete in die Forderung, Kindheit als eine eigenständige Lebens-, Lern- und Entwicklungsphase zu betrachten. Damit einher ging eine Aufwertung der Pädagogik, die nun konkurrierende Ansprüche, etwa das Interesse der Landesfürsten an möglichst rentablen Produktionsbetrieben, in spezifischer Weise überformte. Sichtbar wurde dieser Wandel an der allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse in den noch bestehenden Waisenhäusern: Man bemühte sich z. B. nicht nur um eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Verpflegung, sondern versuchte auch die Kinderarbeit zu reduzieren und stattdessen den Schulunterricht auszuweiten und zu modernisieren.
»Bei Neubauten machte man sich jetzt Gedanken über einen pädagogisch geeigneten Standort und sorgte für Gärten und Spielplätze. Insbesondere aber versuchte man, die Vorteile der Familienerziehung mit denen der Anstaltserziehung zu verbinden und sprach sich für kleine Gruppen aus, die in voneinander getrennten Häusern oder doch in abgetrennten Abteilungen wohnen sollten, so dass die Kinder zu ihrem Hauselternpaar (eine ganz neue Vorstellung!) besser ein persönliches Verhältnis gewinnen könnten« (Sauer 1979, 32).
Parallel dazu entwickelte sich allmählich das allgemeine Schulwesen, das nun auch für Kinder aus den sozialen Unterschichten zunehmend die gesellschaftlich notwendigen Integrationsaufgaben übernahm.
In diesem Kontext muss auch die Hamburger Armenreform aus dem Jahr 1788 gesehen werden, die dort zu einer vollständigen Neuorganisation der städtischen Armenfürsorge führte (Scherpner 1979, 99 ff.): Durch ein feinmaschiges Netz städtischer Armenüberwachung wurden nicht nur unmittelbar hilfsbedürftige Kinder erfasst, sondern alle armen Kinder, um so vorbeugend auf deren Erziehung einzuwirken. Durch eine planvolle schulische Erziehung und das Erlernen handwerklicher Fertigkeiten sollten diese Kinder auf ihren Stand, den der »arbeitenden Armen«, vorbereitet werden (ebd., 100). Im Kern der Hamburger Armenkindfürsorge stand folglich ein umfassendes Armenschulsystem, das Arbeitsausbildung, Erwerbsarbeit und Lehrschule miteinander verband. Die Hamburger Armenreform ging damit weit über Reformen hinaus, die zur selben Zeit an anderen Orten Europas stattfanden, was vermutlich ihre Vorbildfunktion auch außerhalb von Deutschland erklärt:
»Man machte hier den ersten Versuch, die Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenpflege herauszulösen und als ein eigenes Gebiet gesellschaftlicher Hilfeleistungen zu erkennen und zu organisieren. Die Armenkinder waren (…), soweit sie in die Schule gingen, im Wesentlichen von der Schule erfasst und erzogen worden. Daneben aber stand von Anfang an die häusliche Beaufsichtigung aller von der Armenpflege versorgten Kinder durch die Armenpfleger in den einzelnen Armenquartieren« (ebd., 110).
Die Hamburger Reform ist also in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen nahm sie in Ansätzen bereits vorweg, die mehr als 130 Jahre später reichsweit durchgesetzt werden sollten – die kommunale Organisation der Kinder- und Jugendhilfe. Zum anderen wurde hier erstmals in Deutschland ein präventiver Ansatz – Kinderfürsorge als vorbeugende Armenpflege – verfolgt und notfalls auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt, indem der Armenpfleger die Kinder aus den Familien nehmen konnte. Im Grunde finden sich hier also bereits die ersten Vorläufer der späteren Jugendämter.
In der Kinder- und Jugendfürsorge zeichnen sich damit weit früher als in anderen Bereichen des organisierten Umgangs mit sozialen Problemen erste Umrisse einer »Pädagogisierung« ab. Mit Richard Münchmeier (1981, 9 f.) kann »Pädagogisierung« hier verstanden werden, als »die ›Umdefinition‹ sozialer und sozial verursachter Probleme in solche individuell zu konstatierende Defizite von Moral, Lernen und Erziehung. In dieser individualisierenden Deutung sowohl der Erscheinungsformen wie der Ursachen sozialer Not ergibt sich eine – politisch ungemein relevante – veränderte Lokalisierung der Probleme von Armut, Desintegration und Devianz: im Rückgang von der äußeren Not auf den ›inneren Menschen‹ wird das innere Leiden an der Armut zur ›eigentlichen‹ Not und die Bearbeitung des inneren Leidens an der äußeren Not zur genuinen Aufgabe einer sich pädagogisch verstehenden Fürsorge.« Erst diese »Pädagogisierung« der Kinder- und Jugendfürsorge öffnete den Blick auf Normalisierungsarbeit im engeren Sinne und wurde zu einem generativen Kern, um den herum sich das Selbstverständnis der Jugendhilfe bis in die jüngste Zeit kristallisiert.