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1.5.2 Jugendbewegung und Jugendpflege

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Im Übergang zum 20. Jahrhundert lassen sich also auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge eine ganze Reihe von Entwicklungen erkennen, die auf eine veränderte Wahrnehmung dieser Aufgabe hindeuten. Parallel dazu setzten mehrere Entwicklungen ein, aus denen sich die später so bezeichnete Jugendarbeit speisen sollte: So begann sich etwa um die Jahrhundertwende eine autonome bürgerliche Jugendbewegung zu formieren, die zumeist mit dem Begriff »Wandervogel« assoziiert wird (Giesecke 1981; Krafeld 1984). Diese zunächst überwiegend von Schülerinnen und Schülern getragene selbstorganisierte Bewegung reagierte auf die Verunsicherungen einer dynamischen Industrialisierung mit einer romantisch verklärten Hinwendung zu intensivem Naturerleben, indem die Jugendlichen beispielsweise Wanderungen und Reisen ins Umland der Städte unternahmen, dabei Volkslieder sangen und zusammen am Lagerfeuer campierten. Oder wie Krafeld (1984, 26) formuliert: »Dem romantischen Vagantenbild entsprach es, sich frei von den Sorgen des Alltags und achtlos gegenüber gesellschaftlichen Zwängen in der Natur wiederzufinden und sich selbst zu entfalten.« 1901 erfolgte dann die Gründung des »Wandervogels« durch Karl Fischer. Die daraus hervorgegangene Vereinsbewegung bestand aus zahlreichen kleinen autonomen Ortsgruppen, die meist unter Anleitung eines jungen Erwachsenen selbstorganisierte Wochenendfahrten im Freien durchführten. Von zentraler Bedeutung für die spätere Bedeutungsgeschichte der Jugendbewegung war das Treffen auf dem Hohen Meißner bei Kassel im Oktober 1913, auf dem etwa 2000 »Wandervögel« zusammenkamen, um den »nicht wieder verhallenden Anspruch auf Selbstbestimmung, Gegenseitigkeit und Aufrichtigkeit« (Breyvogel 2005, 14) zu bekräftigen.

Etwa zeitgleich begann sich auch die Arbeiterjugend zu organisieren: Als Reaktion auf den Selbstmord eines Schlosserlehrlings, der sich erhängte, weil er die Schikanen seines Lehrmeisters nicht mehr ertragen konnte, gründete sich 1904 in Berlin der »Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins« und bildete gewissermaßen den Kontrapunkt zur bürgerlichen Jugendbewegung. Giesecke (1981, 38) schreibt dazu:

»Der emanzipatorische Ausgangspunkt der proletarischen Jugendbewegung war ein ganz anderer als bei der bürgerlichen Jugend. Weniger von den Sozialisationsdeterminanten der eigenen Familie und deren sozio-kultureller Umwelt musste man sich befreien, mit ihr war man vielmehr durch die Solidarität der gemeinsamen materiellen Notlage verbunden, sondern von der ökonomischen Ausbeutung durch den Arbeitgeber, der zugleich aufgrund der Gewerbeordnung von 1896 die ›väterliche Erziehungsgewalt‹ über seine Lehrlinge hatte.«

Dieses Aufbegehren und der Versuch, der alltäglichen Repression zu begegnen, spiegelten sich vielfach in der klassenkämpferischen Zielsetzung der sozialistischen Jugendverbände.

Schon einige Jahrzehnte früher begannen sich die Kirchen, vorwiegend aus sozialen und missionarischen Motiven, in Form von Jünglingsvereinigungen, Gesellenvereinen, Jünglingsbünden u. a. m., für männliche Jugendliche zu engagieren (Gries/Ringler 2003, 18). Zu dieser freien Jugendpflege gesellte sich Anfang des 20. Jahrhundert – gestützt auf die preußischen Jugendpflegeerlasse von 1911 und 1913 – die behördliche Jugendpflege.

Hauptsächlich aus zwei Gründen wurde damals eine immer stärkere Notwendigkeit gesehen, junge Menschen außerhalb von Familie und Schule zu betreuen: Einerseits sollte mit der Förderung der Jugendpflege auf vermeintliche Gefährdungen reagiert werden, denen schulentlassene männliche Jugendliche ausgesetzt waren (Wirtshäuser, Alkohol, Tanz, Schundliteratur, Prostitution usw.), andererseits stellte die Jugendpflege aber auch eine Reaktion auf die vermeintliche Gefährdung dar, die von diesen Jugendlichen ausging (Verwahrlosung, Kriminalität, politische Radikalisierung usw.).

Besonders plastisch wird dieses in Sorge gekleidete Kontrollbedürfnis des Staates in den ersten Sätzen des preußischen Jugendpflegeerlasses von 1911:

»Die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Veränderung der Erwerbsverhältnisse mit ihren nachteiligen Einflüssen auf das Leben in Familie und Gesellschaft hat einen großen Teil unserer heranwachsenden Jugend in eine Lage gebracht, die ihr leibliches und noch mehr ihr sittliches Gedeihen aufs schwerste gefährdet« (zit. nach Naudascher 1990, 32).

Wenn man so will, zielte die staatliche Jugendpflege also vor allem auf die »Schließung der ›Kontrolllücke‹ zwischen Schulbank und Kasernentor« ab (Lindner 2015, 736; auch Peukert/Münchmeier 1990, 8).

Für das Jahr 1911 wurde zu diesem Zweck erstmals ein Fonds von einer Million Reichsmark zur Verfügung gestellt, aus dem jugendpflegerisch tätige Vereine und Verbände in ihrer praktischen Arbeit unterstützt werden konnten – allerdings nur, wenn diese vaterländisch gesinnt waren (Müller 1994, 26). Mit dem ministeriellen Erlass wurde nicht nur der Begriff Jugendpflege endgültig etabliert, sondern auch die Notwendigkeit freier Jugendpflege hervorgehoben:

»Das Werk der Jugendpflege bedarf aber vor andern des Wohlwollens und der opferwilligen Mithilfe aller Vaterlandsfreunde in allen Ständen und Berufsklassen. Es ist daher dringend erwünscht, dass die warmherzige Liebe und opferwillige Begeisterung, die ihr von Einzelpersonen und freien Vereinigungen wie den zahlreichen kirchlichen Vereinen, den großen Turn-, Spiel- und Sportvereinigungen, Vereinen für Volkswohlfahrt u. a., bisher schon zugewandt worden ist, ihr nicht bloß erhalten bleibe, sondern an Umfang und Stärke zunehme« (zit. nach Naudascher 1990, 33).

Nun ist es vermutlich richtig zu konstatieren, der Staat habe mit der Jugendpflege vorrangig sozialdisziplinierende Absichten verfolgt und versucht, mit dieser Form der Unterstützung außerhalb der Kinder- und Jugendfürsorge Jugendliche in die staatliche Ordnung zu integrieren, allerdings weist Müller darauf hin, dass sich dadurch erst die Möglichkeit für eine wenigstens modellhafte pädagogische Praxis eröffnet habe, »die durch die nachträgliche Hilfe bei der Korrektur defizitärer Lebenslagen und Lebensläufe gekennzeichnet war« (Müller 1994, 26).

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