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1.5.1 Das Wiedererstarken öffentlicher Fürsorge

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Als Ausdruck dieses relativ günstigen »reformerischen Milieus« lassen sich in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung eine ganze Reihe folgenreicher Entwicklungen, zunächst vor allem im rechtlichen Bereich, beobachten: Seit der Novelle zum Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1876, wonach strafunmündige Kinder unter zwölf Jahren nach Maßgabe landesrechtlicher Vorschriften in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt untergebracht werden konnten, war es grundsätzlich möglich, statt einer Gefängnisstrafe Zwangserziehung für Kinder und Jugendliche zu verhängen. In der Folge ergingen dann in zahlreichen deutschen Staaten Ausführungsgesetze, wie z. B. das preußische Zwangserziehungsgesetz von 1878. Dieses Gesetz war für die Entwicklung der Fürsorgeerziehung (FE) insofern von Bedeutung, als es in Form der Provinzialverbände erstmals spezifische Erziehungsbehörden vorsah, die FE ausdrücklich außerhalb der Armenfürsorge ansiedelte und die strafrechtliche Beurteilung strafunmündiger Kinder zumindest teilweise aus dem allgemeinen Strafrecht auslagerte (Sachße 1986, 72).

Eine zweite wesentliche Neuerung war die Einführung der Berufsvormundschaft (nach Art. 136 EG.BGB). Vor allem infolge der rasch voranschreitenden Industrialisierung, zogen immer mehr junge Frauen aus ländlichen Gebieten in die damaligen industriellen Zentren. Ein Anstieg der nichtehelichen Geburten dort war die Folge. Da sich die Mütter häufig zur Sicherung des eigenen Überlebens als Dienstmädchen oder Arbeiterinnen verdingen mussten, wurden die Kinder vielfach in Pflege gegeben (Scherpner 1976, 169). Als Folge davon stieg die Säuglingssterblichkeit bei nichtehelichen Kindern rasch an, denn die Bedingungen in den Pflegestätten waren häufig erbärmlich. Um 1900 betrug sie in Teilen der städtischen Agglomerationen Berlins und des Ruhrgebiets zwischen 40 % und 80 % (Spann 1912, 27). Nicht zuletzt waren diese hohen Sterblichkeitsraten eine Folge der damaligen Praxis im Vormundschaftswesen, die sich stark auf das Ehrenamt stützte: Da viele der zugezogenen Frauen über keine verwandtschaftlichen Bindungen in der Stadt verfügten, auf die man bei der Wahl des Vormunds hätte zurückgreifen können, war es bei nichtehelichen Geburten üblich, dass die Gemeindewaisenräte willkürlich Namen aus Adressbüchern auswählten und diese Männer den Vormundschaftsrichtern vorschlugen. Diese oftmals nur widerwillig ihren Bürgerpflichten nachkommenden Personen wurden dann zu Vormündern bestellt, um das Aufwachsen der Kinder zu beaufsichtigen (ebd., 13). Da ein persönliches Interesse an Mutter und Kind meist nicht gegeben war, beschränkten sich die so Ausgewählten oftmals nur auf die gesetzliche Vertretung, ohne eine angemessene Betreuung der Kinder sicherzustellen und deren Aufwachsen zu überwachen. Der Schutzgedanke, der seit dem späten Mittelalter immer hinter der Vormundschaft gestanden hatte, wurde so systematisch ausgehöhlt.

Unter der Führerschaft des Arztes Max Taube entwickelte sich deshalb zwischen 1886 und 1900 in Leipzig die sog. »Generalvormundschaft« auf kommunaler Ebene. In ihr wurden, anknüpfend an die ältere Form der Anstaltsvormundschaft, mehrere Vormundschaften zusammengeführt und an einzelne Personen übertragen, die sich als behördliche Vertreter berufsmäßig um das Wohl der Kinder kümmern sollten (Klumker 1931; Jenner 2006, 18 ff.). Diesen »Berufsvormündern« oblag neben der Überwachung der Erziehung und Versorgung der Kinder auch die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen gegenüber dem Kindesvater (Studders 1919, 29 ff.). Somit brachte die Schaffung der Berufsvormundschaft für alle Seiten erhebliche Vorteile, sowohl für die wirtschaftliche und soziale Lage der Kinder und deren Mütter als auch für die kommunalen Armenkassen, da die Behörde sofort nach der Geburt des Kindes dessen Rechts- bzw. Unterhaltsansprüche gegenüber dem Vater durchsetzen konnte. Aus dieser zunächst auf einzelne Städte begrenzten Neuerung entwickelte sich später die sog. Amtsvormundschaft des Jugendamts über nichteheliche Kinder, die 1922 im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz rechtsverbindlich festgeschrieben wurde (Hasenclever 1978, 21 ff.; Scherpner 1976, 170).

Von besonderer Bedeutung für den Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe war ferner, nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 1. Januar 1900, die Möglichkeit, die elterliche Gewalt nach § 1666 BGB einzuschränken. Damit einher ging die landesrechtliche Ermächtigung zu privatrechtlicher Zwangserziehung (nach Art. 135 EG.BGB), die bei einem Versagen der elterlichen Erziehung und drohender Verwahrlosung des Jugendlichen angeordnet werden konnte (Hasenclever 1978, 20 ff.). Noch im selben Jahr verabschiedete Preußen das »Gesetz für die FE Minderjähriger«, das Zwangserziehung sowohl im Kontext der Strafunmündigkeitsproblematik als auch durch vormundschaftliche Eingriffe »zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens« des Minderjährigen vorsah (Peukert/Münchmeier 1990, 7). Dieses Gesetz verdient Beachtung nicht nur wegen seiner ›modernen‹ Terminologie – FE statt Zwangserziehung – und dem sich darin andeutenden Umschwung von Strafe zur Erziehung, also von einem reaktiven zu einem eher präventiven Vorgehen, sondern auch, weil es insbesondere bezüglich des Verfahrens die Regelungen des Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) im Jahr 1922 bereits vorwegnahm (Sachße 1986, 73).

Kinder- und Jugendhilfe

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