Читать книгу Das Blöken der Wölfe - Joachim Walther - Страница 10
3 FÜNF UHR ABENDS
ОглавлениеDie Straße brüllt. Stöhnt blaue Schwaden, riecht nach Benzin und Räucherfisch, hoch wirbelt Staub. Dreispurig heulen Blech und Elaste und Plaste stadtauswärts, stadteinwärts, Mopeds und Fahrräder nahe der Bordkante. Spitzenzeit, oben die U-Bahnen, Berufsverkehr, die Straßenbahn ist gelb, die U-Bahn gelber, die S-Bahnen tunneln donnernd die Straße, der Boden bebt, einfahrende Züge zischen Druckluft, ein Dampfzug zerfasert bauschiges Weiß an der Brückenbrüstung. Der Asphalt – weich wie Haut, Füße treten Pflaster, Teer, Granit.
Berlin! Wie Donner rattert furchtbar dein Geröchel! / Die heiße Luft sich auf die schwachen Lungen drückt. Ströme branden durch die Schluchten, Menschenströme durch Steineschluchten mit Strudel, Stau und Ziel, maßlos und geordnet doch, Steine-Stadt, Straßen-Stadt, Menschen-Stadt, straßengeäderte Steine-Stadt.
Der Verkehrspolizist steht regelnd auf der Straßenmitte, er gibt Fußgängern eine Chance, der himmelwärts gereckte Arm lässt Bremsen quietschen. Eiliges Pflastergetrappel und ungeduldiges Motorheulen im schnellen Wechsel. Ein Unfallwagen mit Blaulicht und Sirene, die Straße hält kurz den Atem an, die Worte sind leiser für Sekunden, Hälse werden gedreht, halblaute Bemerkungen, dann ist das vorbei, der Lärm schwillt zu alter Stärke, es ist vergessen. Aus den Bahnen, in die Bahnen drängen Menschen, zielstrebig, mit Stirnfalten: Könn’Se nich uffpassen? Worte mischen sich, He und Hallo, Lächeln, Lachen, Augen gerichtet und suchend, Warten und Hasten, ein flüchtiger Kuss dort und Unterhaken, Treffpunkt zum Einkauf. Wo die Mühle ist zu seh’n, wird Dein Einkauf angenehm: Leuchtreklame der HO Prenzlauer Berg an der Giebelwand, Vögel nisten darin. Ein Mädchen in Maxi ruft einen Bärtigen, der hört nicht und geht weiter. Am S-Bahnhof klappert eine christliche Schwester die bekreuzte Büchse, vor der Losbude flattern Nieten zu Boden. Am Zeitungskiosk schrumpft der BZA-Stapel, das Abendblatt berichtet: Junger Mann half. An einem Sonntag stand unser ungarischer Gast, eine ältere Dame, hilflos auf dem Ostbahnhof. Die Post, in der sie uns ihre Ankunft mitteilte, war bis dahin noch nicht eingetroffen. Ohne Geld und Kenntnis unserer Sprache wusste sie nicht, wie sie nach Adlershof kommen sollte. Ein junger Mann, dessen Name uns leider nicht bekannt ist, nahm sich ihrer an. Von Herzen möchten wir ihm für seine Hilfsbereitschaft danken. Helga-Ilse Wons, M. Papp, Adlershof. Dorothea Strelau: An allen Tagen wächst die Veränderung. Heute bin ich ein anderer. Die mich gestern kannten, leben im Irrtum. (Aus: Offene Fenster, Schülergedichte.) Sein Lieblingsmotiv: Berlin und die Berliner. Zum heutigen Geburtstag des Grafikers Arno Mohr. Über die Straße spannt die Werbung: Berliner Zeitung gelesen – dabeigewesen. Der Erfrischungswagen ist stark frequentiert. Der Taxistand ist ohne Taxi. Das Kaufhaus Gewa zeigt Sommermoden. Das Sporthaus Olympia präsentiert Campingartikel. Im Schaufenster des Spielwarengeschäfts werben die Worte: Spielend unsere Welt erkennen, Spieltheorie in Praxis. Ein alter Mann im Rollstuhl verkauft Kämme und Zahnbürsten. In die Autos auf dem Parkplatz steigen Männer in Anzügen, sie lockern den Schlips und öffnen das Schiebedach. Die Gleisarbeiter waschen sich am Bauwagen.
Die Sonne wirft lange Schatten. Nach fünf nimmt die Zahl der Mädchen zu, sie gehen zu zweit und kichern permanent. Die Frauen tragen schon kleinere Taschen. Vor dem Kino stehen Gruppen, Kofferradios tönen. Die Mädchen hier sind es gewöhnt, angesprochen zu werden, sie haben es nicht leicht, sie möchten es nicht leichter haben. Fragen werden von ihnen mit Fragen beantwortet. Die Fernseher werden eingeschaltet, die Fenster stehen offen. Auf den Hinterhöfen laufen die Fernseher früher und lauter als anderswo. Die Scheiben der Sonnenseite glühen rot. Links schatten die Gesichter blau. Durch die Seitenstraßen wellt sinkende Sonne, riesenrotes Sinken im Westen hinter Lindengrün vor Mauerweiß. Dort enden unsere Straßen, dahinter beginnen neue. Eine andere Welt, wenige Meter nur trennen Tausende Kilometer, die stehen dahinter: Welten. Unvereinbares auch am Ende der Seitenstraßen dieser Straße, zeitlich und räumlich nicht mehr Vorstellbares in dieser Weltendimension.
Unsere Straße atmet hörbar auf, sie gleitet abendlich in sanfte Offenheit.
Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, Mai 1971