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KUNSTLOSE VEREINIGUNG?
ОглавлениеDie Politiker in Bonn und Ostberlin haben einen Staatsvertrag geschlossen – und einen Generationenvertrag gekündigt: den über die Nationalkultur. Die Künste und die Künstler haben sie in der Eile glatt vergessen.
Doch auch die wollen sich vermählen. Nicht, weil sie müssten. Weil sie wollen, froh, dass sie nun zueinander können und das viel zu tiefe Wasser überbrückt ist. Immanuel Kant meinte, der Ehevertrag werde durch die körperliche Vereinigung vollzogen. Dazu gehören allemal zwei. Möglichst zwei gleichwertige, unverklemmte und vitale Partner, wenn es denn Spaß machen soll. Nun aber wird, steht zu befürchten, die östliche Braut gar nicht mehr ins gemeinsame Brautbett steigen können, da sie vorher an Schwindsucht verstorben ist. So wird dem westdeutschen Bräutigam nur noch die Grabpflege bleiben.
Die Nationalkultur aber ist ein Kontinuum über Jahrhunderte hinweg, ein Vertrag der Generationen, sie zu bewahren, zu entwickeln und weiterzureichen, und es gibt eine Pflicht der Gegenwärtigen, die zeitgenössische Kultur und Kunst zu pflegen, auf dass sie gegenwärtig überlebe, ihrer Zukunft wegen. Die Deutschen, die sich doch so gern selbst attestieren, eine Kulturnation zu sein, werden sie es auch in Zukunft bleiben oder lediglich Weltmeister des Exports, Konsums und Reisens sein? Wir haben die Wirtschafts-, Währungs- und (etwas leiser gesagt) Sozialunion vollbracht, doch die Kulturunion nicht.
Künste sind nicht bloße Schmuckelemente des Staats. Die Literatur, nur zum Beispiel, ist die Seele der Nationalsprache. Der Staat hat die Pflicht, die Künste zu erhalten, und ergo auch die Künstler, die noch lebenden, versteht sich.
Man hört es von dem neuen Oben unten raunen, die Künstler sollten sich eine Arbeit suchen, als ob ein Bild zu malen, ein Buch zu schreiben, eine Partitur zu setzen keine Arbeit wäre. Und wir, die Künstler, hellhörig aus Erfahrung, hören da schon wieder leise die Töne der Kunstfeindlichkeit.
Übertreibungen? Hier die Fakten: Ab 1. Juli 1990 haben die freiberuflichen Künstler in der Noch-DDR, da sie sinnigerweise steuerrechtlich zugleich als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten, summa summarum 51,2 Prozent Steuern zu zahlen. Gleichzeitig werden deren Konten halbiert, obwohl die doch nichts anderes als bereits bezahlter Lohn sind. Gleichbehandlung ist gefordert, kein neues Privilegium. Dazu kommt die Halbierung der noch zu zahlenden Raten aus bestehenden Verträgen. Ihre Arbeitsräume werden als Gewerberäume miet-bemessen. Die Arbeitsämter lehnen es ab, sie bei Arbeitslosigkeit zu vermitteln. Dies alles kommt bedrohlich auf sie zu, indes die Verlage ums nackte Überleben ringen, Verträge zurückgeben, Auflagenhöhen minimieren und Programme reduzieren. Und auch die Künstlerverbände als berufsständische Interessenvertreter wissen nicht, wie sie nach der Währungsunion ohne Geld fortbestehen sollen.
So ist die Lage. Und sie ist bedrohlich. Es ist hohe Zeit, Alarm zu schlagen und den Staat dringlich an seine Kulturpflicht zu erinnern.
Ja, ganz recht: Wir sind ein Volk. Aber sind und bleiben wir auch ein Kultur-Volk?
Zuerst veröffentlicht: Sonntag, 8. Juli 1990