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17 JAHRE LEBEN

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Tagebuch-Notate 1973–1990

18.2.73

Literarisch hineingeboren in die Zeit, da Literatur das Leben meistern helfen sollte, das Land allseitig stärken, die Arbeitsproduktivität kraft des Bewusstseins heben, die Zeit um den VI. Schriftstellerkongress 69, auf dem erstaunliche Redner auftraten, die mit verbalem Senkrechtstart bereits nach wenigen Sekunden über den Wolken waren, zu verstehen nur noch für jene, deren Empfänger im gleichen ideologisch-synthetischen Wellenbereich arbeiteten. Christa Wolf wurde gescholten, rote Kongressmappen verteilt, deshalb der Witz: „Rotmäppchen und die böse Wolf“. Die Jungen wurden zu glätten versucht, das Markige und Hohltönende füllte die Luft, das Leise überjubelt. Und so erschien mir die Anspielung, die sorgsam versteckte Kritik wie eine Heldentat. Das schleichende Einüben der Selbstzensur, der Zucker zum Versüßen des Schlafs, die Peitsche steht sichtbar in der Ecke.

6.3.73

Auffällig die Inflation des Adjektivs „echt“: echtes Gefühl, echte Begeisterung, echtes Gespräch, echter Klassenstandpunkt. Dito „ehrlich“: ehrliche Meinung, ehrliches Bekenntnis, ehrliche Diskussionen etc. Untrügliches Zeichen, wie viel Unechtes, Unehrliches, wie viel Schein statt Sein um uns, in uns ist.

31.8.73

Unglaubliches Becher-Gedicht gefunden: Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte / Der Apfelbäume an dem Bodensee. / Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte / Und winkt zu sich heran ein scheues Reh. Aber, so offiziell: In der DDR hat es Stalinismus nie gegeben.

28.1.74

Das bleibt aber unter uns: idiomatische Redewendung elitärer, dosierter Informationspolitik. Solange diese Wendung nicht in den Zeitungen steht, sollte man Zirkel, Versammlungen, wo so gesprochen wird, demonstrativ verlassen. Dieses Unter-uns-gesagt: Es gibt keine Demokratie für einige Wenige, es gibt nur die für alle – oder keine. Demokratie ohne Volksbeteiligung: ein sprachlicher Irrwitz, reale Farce.

5.10.74

Schrittweiser Abbau der großen Hoffnungen nach dem 8. Parteitag. Erhofft waren das Ende des schweigenden Gänsemarsches, des Händchenhaltens und des verdächtig lauten Singens, das Ende der Tabus, der Beginn des öffentlichen Meinungs- und Ideenstreites, der sozialistischen Demokratie. Aber: Nach einem verhalten kritischen Artikel wird Chefredakteur entlassen, die Nützlichkeit des Meinungsstreits wird theoretisch beteuert, praktisch jedoch administrativ verhindert. Keine Transparenz, sondern Transparente.

12.1.75

„Er hat sein Vaterland verraten“: Kann man verraten, wofür oder wogegen man sich zu entscheiden keine Möglichkeit hatte? Ist der Bürger mit seiner Geburt Staatseigentum? Ist er jemals gefragt worden, war es ihm erlaubt, wahr zu antworten? Die befestigten Grenzen: Stubenarrest für ein ganzes Volk. Wofür aber wird es bestraft?

23.7.75

Unser endgültiger Sieg über die Natur wird der gigantischste Suizid in der Weltgeschichte und das Ende der Menschheitsgeschichte werden. Vorwärts?

28.8.75

Verlautbarungen der marxistischen Partei: … stets haben wir recht behalten … die Partei, die Partei hat immer recht. Marx aber schrieb: „… die Kommune machte keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie dies alle die alten Regierungen ohne Ausnahme tun. Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen, sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten.“ Marx vermurkst.

1.9.75

Grotesk die geistige Defensive der Gesellschaft, die vorgibt, der anderen um eine ganze Epoche voraus zu sein. Bitter die Unmündigkeit des Volks, das, theoretisch, das Sagen hat. Anachronistisch das Einzäunen des befreiten Menschen.

7.10.75

Die Umgangsformen unserer Repräsentanten werden immer bürgerlicher, schlimmer noch: feudalabsolutistischer: Jagdrechte, eingezäunte Absonderung, Staatskarossen, gestaffelte Privilegien, Hofhaltung, Protokoll bis hin zu Zeremonien. Wieso glauben sie, diese Formen übernehmen zu müssen, sich zu absentieren, um zu repräsentieren? Gehören die Repräsentanten der Klasse eigentlich noch zur Klasse? Wäre nicht vorstellbar, sie gingen ins Freibad Pankow, wenn sie schwimmen wollten, säßen mitten im Parkett, nicht in der Fürstenloge, äßen, was alle essen, schirmten sich nicht ab vorm Volk, dessen Teil zu sein sie unablässig behaupten?

16.2.76

„Kramladen“ in Weißensee: eine Veranstaltungsreihe, getragen vom Publikum, wird abgewürgt. Bettina W. darf nicht auftreten, Klubhausbeirat wird einfach aufgelöst, die Auflöser sind selbstredend nicht anwesend, nur Stellvertreter: der Dr.-Dichter W., die Stasi und jede Menge bestellte Claqueurs. Die Dogmatiker siegen, der Sozialismus verliert ein weiteres Mal.

30.3.76

Die Utopie lebt als Axolotl in den abgesoffenen Uranschächten des Erzgebirges, bleich und blind.

20.4.76

Die hiesigen Medien lassen die Sonne ununterbrochen scheinen. Dadurch republikweit Bodenerosion, fehlende Feuchte, kein reinigendes Gewitter. Wo die Luft derart trocken ist, wird exzessiv gesoffen. Das Land dürstet nach Wahrheit, die Spiegel sind mit Parolen überklebt, die Ohren verstopft mit ideologischen Wortpfropfen, Sprachknete erschwert das Vorwärtsgehen. Die Arbeit der Vielen, die Macht der Wenigen.

25.8.76

Preußischer Sozialismus: freudlos, grau, militant, verbeamtet, ohne Spontaneität und Humor, eng, intolerant, eckig, von ärmlicher Ölsockel-Sauberkeit. Klingelnde Worthülsen: ewig, heilig, grenzenlose Treue und Ergebenheit, absolutes Vertrauen, unverbrüchliche Freundschaft, ruhmreich, volle Übereinstimmung …

30.11.76

Schwarzer November. Anfang: Einberufung zur Armee, ein halbes Jahr. Ende: Ausbürgerung Biermanns. Verhöre durch Stasi-Offiziere, die sogenannten VO (Verbindungsoffizier, Jargon: Vau-Null) der Armee, die das Gespräche nennen. Ur-Ängste: Demütigung und Bedrohung.

13.1.77

Stimmung im Lande: Resignation, Sich-abfinden mit nichtfunktionierender Infrastruktur (Mangel, Bürokratisierung), Immunität gegen Medienjubel, subjektive Überlebensstrategien: Korruption, Schiebereien, Rückzug ins Private. Die listige Gleichgültigkeit des Mündels Volk. Der Zusammenhang zwischen Mündigkeit, Verantwortlichkeit und Kreativität! Stattdessen: Vernichten der Basisinitiativen, Züchten der Uninteressiertheit, lieblose Geschmacklosigkeit, Zudecken der Fehler mit Polit-Posaunen, autoritäre Erziehung, Überwachung, fehlende Öffentlichkeit, Rechtsunsicherheit, deshalb die wuchernde Staatssicherheit.

8.4.77

Auf dem nächsten Schriftstellerkongress wird es zu Mittag vermutlich Pferdefleisch geben, weil dort zum Auftakt Pegasus geschlachtet werden wird.

29.3.78

Interview mit „Sonntag“. Als der Redakteurin meine Antworten nicht gefallen, beginnt sie (Das müsste man besser so sagen …), die ihren aufzuschreiben. Als ich gegen ihr Selbstgespräch protestiere, erklärt mir der Chefredakteur, dass sich der Klassenkampf ständig verschärfe und der Klassenfeind nebenan auf jegliche Blöße laure. Kein Dialog, die Tür ist zu, die Gesellschaft geschlossen.

14.4.78

Antwort eines Kreis-Funktionärs auf das Ersuchen eines Bürgers, seinen todkranken Vater in Hamburg besuchen zu dürfen: Der stirbt auch ohne Sie!

3.7.78

Unblutige Exekution, 11 Uhr morgens. Rudolf Ch., Leiter des Verlags „für kommunistische Jugenderziehung“, macht uns die amtliche, eiskalte Mitteilung, die Redaktion „Temperamente“ sei ab sofort aufgelöst. Er als Sprachrohr des Zentralrates der FDJ. In 15 Minuten wird alles zerstört an Hoffnung und Engagement: das schreiende Missverhältnis zwischen den Mühen und Freuden einer Geburt und der Kälte und Schnelligkeit des Abtreibens. Kein Dank für geleistete Arbeit, perfid: „Bei uns wird niemand auf die Straße geworfen …“ In den Medien tönt’s währenddessen vom Vertrauen zwischen Kunst und Partei: Noch nie sei es so vertrauensvoll zugegangen. Die Geschichte der Zeitschrift eine permanente Geschichte des Administrierens, des Verbots, der Zensur. Um uns das Schweigen: Weder der „Bücherminister“ noch der Schriftstellerverband rühren sich.

Anwesend wir Redakteure: Rulo, Fritz-Jochen, Mischa, Frank, Richard, ich. Keine Diskussion. Und das alles, während der Renaissance Ulbrichts, der niveaulosen Arbeiterfestspiele (genannt Fest der Lebensfreude), der Verteilung der Staatspreise an die staatstragenden Kollegen, der Verurteilung Bahros wegen Landes- und Geheimnisverrats, der Einführung eines militärischen Pflichtfachs an den Schulen. Abschied nehmen von dem illusionären Gedanken, gebraucht zu werden. Gerade die Linken stören, weil sie auf der Utopie bestehen. Mitläufer, Heuchler, die schweigende Mehrheit sind problemlos zu regieren. Vita intra muros.

17.8.78

Heiner H. wird als Cheflektor abberufen. Zusammenspiel von Blockpartei, Stasi und Büro Hager. Nach der Redaktion nun auch im Verlag der Kahlschlag der Politpuristen.

30.8.78

Weitsicht: Unbeirrt / voranschreitend sehen wir / wie sich das Ziel / entfernt

7.6.79

Neun Kollegen werden aus dem Verband ausgeschlossen. Straffe Regie, die Funktionäre Hermann K., Günter G. und Gerhard H. reden von Optimismus, von der Richtigkeit der Kulturpolitik der Partei. Die Auszuschließenden lieferten dem Gegner Munition, ließen sich antikommunistisch vermarkten, schlügen die ausgestreckte Hand aus. Dann kommt die Stunde der Kollegen Scharfmacher, der Füsiliere des zweiten Glieds. Teils tragisch, teils erbärmlich. Meine Wortmeldung zu Anfang wird übergangen. Der Bezirksvorsitzende zieht die Abstimmung durch. Die vorbestimmte und vorher beschaffte Mehrheit steht. Ich sehe Leute die Hand heben, von denen ich nicht weiß, was und ob sie schreiben. Der Ergebenheitsbrief an die Parteiführung ist vorfabriziert. Wir stimmen dagegen: es ändert nichts. Wie mit diesem Tag hier leben und weiterschreiben?

20.6.79

Havemann in Fürstenwalde zu Geldstrafe verurteilt. Polizeikordon um die Stadt und Gerichtsgebäude. Ein „Post“-Entstörfahrzeug fährt vor, Generator wird angeworfen, die Straßendecke aufgerissen. VP-Offizier: Herr Havemann, Sie behindern die Bauarbeiten! Ein eisiger Sommer: Aus meiner Anthologie werden 11 Kollegen durch die Zensur entfernt, Freund Frank H. hat Parteiverfahren an der Humboldt-Uni, mein Lektor Klaus S. soll aus dem Verlag, der sich Neues Leben nennt, fliegen. Der Cheflektor L.: Empörte Autoren des Verlags hätten ihm berichtet, Klaus S. habe gegen den Ausschluss der Neun gestimmt, damit sei er untragbar für den Verlag. Perversionen, Deformationen, wohin ich sehe.

18.8.80

DDR-Urlaub-Sommer Ostsee: die um sich greifende Nivellierung, die Urlauberströme. Niemand braucht zu hungern, doch was über dieser gewerkschaftlich organisierten Massenabfütterung liegt, ist abgeschafft: Freude am Finden eines außergewöhnlichen Genusses. Stattdessen Groß-Restaurants mit drei Gerichten jeden Abend: Broiler, Bauernfrühstück, Tartar (ohne Ei). Keine Servietten, Tee ist alle. Die Kellnerinnen lamentieren über ihre Belastung, die Gäste mümmeln schweigend, gedemütigt täglich, zu müde zum Protestieren. Es herrscht weithin das zentral verwaltete Masseneinweisungssystem. Das Individuelle, nicht etwa der Staat, stirbt ab.

19.11.80

Der kulturpolitische Oberhofmarschall Kurt H. verkündet Reisestopp für DDR-Künstler, um nicht länger „die magere Kulturlandschaft in der BRD aufzuwerten“. Mein Gott, welch blinde Selbstgefälligkeit, welch dümmliche Arroganz. Immer breiter klafft die Schere Realität-Ideologie.

12.12.80

Empfang in der Ständigen Vertretung. Die Diplomaten als die Fettaugen auf der ungenießbaren Welt-Suppe. Die ideologischen Gegner verzehren gemeinsam ausgesuchte Delikatessen. Karl-Eduard v. S. neben Fritz P. Small talk, schweifende Blicke, entzückte Ausrufe, falsche Freundlichkeit. Gipfel der Geschmacklosigkeit: Ein DDR-Vertreter und einer aus der Bundesrepublik wetten, ob die Rote Armee bis zum Jahresende in Polen einmarschiert oder nicht. Sie wetten um eine Kiste Deinhard lila.

13.4.81

Honecker spricht auf X. Parteitag vom gewachsenen Bildungsstand der Menschen, lässt sich aber am Abend von einigen zigtausend FDJlern bejubeln. Eine Rundfunkreporterin, vom Jubel aufgeputscht, sagt, die Bäume Unter den Linden seien „aus dem Boden geschossen“.

22.4.81

Heute fiel Schnee und es kamen die Störche: Sie segelten durch die Flocken wie zu früh gekommene Dichter.

27.6.81

In der Universität wird eine noch volle Wahlurne vom letzten Mal gefunden.

1.10.81

Die Revolution steht noch aus. Die herrschenden Politbürokraten fürchten die Utopie, versuchen die Träume als konterrevolutionär zu denunzieren. Ziel dieser Revolution wird sein: die Assoziation freier Menschen, die Demokratie, das Ende der Unmündigkeit und der Arbeitsteilung in Leitende und Angeleitete, wird die kreative und transparente Gesellschaft sein.

27.10.81

Die Druckgenehmigung für meinen Günther-Roman von der Zensurbehörde verweigert. Daraufhin zieht mein Verlag den Druckantrag zurück. Die Verlagszensoren begründen: Es gäbe veränderte politische Umstände, die zu neuen Überlegungen im Staatsinteresse zwängen, die Parallelitäten im Roman seien evident, es gäbe eine Reihe von Stellen, in denen die Geschichte der Gegenwart den Spiegel vorhalte. Das Buch könne so nicht erscheinen, die Produktion sei gestoppt, nun läge es an mir, den Änderungsvorschlägen nachzukommen. Der Zensor der Hauptverwaltung für Verlage und Buchhandel hat im Manuskript genau die Stellen angestrichen, die ihn treffen müssen und sollen (Zensurpraxis im 18. Jahrhundert, das Spitzelwesen im Königreich Sachsen, die Überwachung der Künstler). Es wäre zum Lachen, hätte ich an diesem Buch nicht drei Jahre gearbeitet.

18.11.81

Klaus H., Chef der Zensurbehörde, der sich gern Bücherminister nennen lässt, schreibt mir auf meinen Brief (in dem ich schrieb, ich möchte in der DDR leben, schreiben und veröffentlichen, wenn aber das Buch nur im Westen erscheinen könne, dann dächte ich auch daran, dort zu leben, wo meine Bücher seien), er fände meine Überlegungen „elementar abstoßend“. Christa W. rät mir zu lernen, mich von Derartigem nicht mehr verletzen zu lassen, findet aber, ich dürfe dem Literatur-Administrator H. diese Formulierung nicht durchgehen lassen. Doch ich bin müde, will den Clinch nicht.

4.2.82

Nun soll das Buch doch erscheinen. DDR mon amour? Doch rechte Begeisterung will sich nicht einstellen für Selbstverständlichkeiten.

29.11.82

Bei einer Lesung in einer Privatwohnung im Prenzlauer Berg erscheint die Stasi und erklärt auf das Argument, es handle sich um eine private Zusammenkunft: Hiermit erklären wir die private Zusammenkunft zu einer öffentlichen Versammlung und für aufgelöst, die Ausweise, bitte.

6.1.83

Vorladung in Verlagsleitung. Die Zensur lehnt einen Beitrag aus meiner Kindheitsanthologie ab, empfiehlt es, was im Totalstaat befehlen heißt. Der Autor Reiner F. erfährt davon, schreibt an den Bücherminister H. Nun fieberhafte Suche nach der „undichten Stelle“, die bei mir vermutet wird. Exemplarischer Vorgang: Die Zensur will nicht genannt sein als Zensur, der Verlag soll deren Entscheidung als seine vertreten und verkünden. Mein Verlagsleiter spricht vom Vertrauensbruch (durch mich natürlich), droht Disziplinarverfahren an, spricht vom freundschaftlichen Verhältnis zum Ministerium. Der Autor soll vorgeladen werden: Wenn er den Namen des Informanten nicht nenne, würde von ihm künftig keine Zeile mehr gedruckt werden. Diese Ungeheuerlichkeit spricht ein Verleger, ohne rot zu werden, gelassen aus.

24.1.83

Heute im Verlag gekündigt. 14 Jahre als Lektor und Herausgeber zu Ende. Verlagsdirektor T. verweigert mir die notwendige Unbedenklichkeitserklärung für meine Studienreise nach Stuttgart, obwohl er letzten Montag sagte, er würde kein Junktim zwischen der Reise und dem schwebenden Disziplinarverfahren herstellen. Er steht unter Druck, involviert ist die Zensurbehörde, die sich bloßgestellt sieht, und der Sicherheitsbeauftragte der Blockpartei, die sich liberal nennt. Ich sage (und hoffe insgeheim, er wird mich überreden zu bleiben), dass ich bei diesem Junktim kündigen müsse. Bitte, sagt er, gib mir das schriftlich, ich unterschreib sofort. Beim Unterschreiben sagt er, er anerkenne meine Konsequenz, ruft aber später im Schriftstellerverband an und sagt, ich sei noch bis 10.2. Angehöriger des Verlags. Meine Reise sollte am 7.2. beginnen.

10.2.83

Ab heute „freier“ Autor. Die Kündigung hat nichts genützt. Nun sieht sich der 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes H. außerstande, meine Reise zu befürworten, solange die Sache nicht geklärt sei. Auch dort das falsche, doch konzertierte Spiel. Ich hab’ das alles gründlich satt, denke an innere Emigration, Rückzug aufs Land. Wie Arnim 1815.

7.12.83

Lesung in Westberlin. Dieses unnormale Gefühl von Normalität, dieses schlechte Gewissen wegen des Reise-Privilegs. Hier wie dort heimatlos. Nach einem Gespräch mit einem West-Verleger die Sicherheit, dort nicht leben und schreiben zu können, der Sog zurück, wo niemand nichts von mir wünscht. Hier die Friedhofsruhe, dort das Marktgeschrei, das Buch als Ware. Zwischen den Welten: im Riss, die Brust offen. Die Lehre der Evolution: Anpassung. Aber wie, ohne als Claqueur missbraucht zu werden? Mit Ironie, die meine Trauer clownesk verdeckt?

2.3.84

Termin im Büro für Urheberpflichten. Mein Antrag zur Genehmigung einer Simplizius-Adaption für den SDR Stuttgart wird abgelehnt, in Absprache mit dem Bücherminister und dem DDR-Rundfunk. Die Stelle, die vorgibt, keinerlei inhaltliche Fragen zu entscheiden, empfiehlt mir, den Inhalt so zu überdenken, dass dieses Hörspiel in der DDR machbar ist. In der gegenwärtigen Exposé-Fassung sei es politisch nicht zu verantworten. So werden Projekte im Keim vernichtet, dabei immer die latente Drohung: nichts mehr veröffentlichen zu können.

17.4.84

Rückzug aus Berlin. Einzug in Mecklenburg. Das Haus auf dem Feld – ein Ort zum Bleiben, Überleben, fernab der betriebsamen Sinnlosigkeiten, des Rennens gegen Mauerbeton, vergeblich, wunden Kopfs. Die Arbeit ist schwer, doch es wird, es wird. Über mir kreist ein sowjetischer Hubschrauber wie eine dynamitgefüllte, geflügelte Kaulquappe. Ich säe trotzig Möhren. Als ob das hülfe.

1.2.85

Der Staat als Übervater. Er mag die braven Kinder um seiner Ruhe willen, den frechen droht er mit dem Finger, die hartnäckigen verstößt er. – Seine angemaßte Omnipotenz: Er, der allein die Mittel hat, die Giftgehalte in Luft, Wasser und Boden zu messen, erklärt die Daten zur geheimen Verschlusssache, enthält also den Menschen die Daten vor, die sie unmittelbar, vital betreffen, zu seinem, nicht deren Erhalt. Er nimmt sich das Recht: treffender ist diese Herrschaftsform nicht zu benennen.

14.2.85

Eine abblätternde Losung auf einer Barackenfront: Der Sozialismus siegt! Das Provisorium suggeriert Ewigkeit und pfeift im Keller. Sympathie, wachsend, für die Anarchisten: Solange das Hierarchische, das horizontal nicht Vernetzte, sondern sich vertikal Aufgipfelnde bestehen bleibt und in verratenen Revolutionen lediglich umgewälzt, aber nicht strukturell verändert wird, muss dieses menschenverschlingende Spiel, das sich Geschichte nennt, als solches demaskiert werden. Um der Menschen, der Opfer willen. Wenn ich sehe, wie pyramidaler Zentralismus überall über Menschen entscheidet, wie die Entscheider nichts befähigt als ihr mehr oder weniger gekonntes öffentliches Schauspiel (wenigstens einer der Lebenden ist Profi: Ronald Reagan), wie die Beherrscher der Menschen und ihrer eigenen Mienen Mimen sind, jedoch nicht auf harmloser Bühne, sondern realiter mit den sichtbar katastrophalen Folgen (Umwelt, Dritte Welt, Rüstung), wie sie Macht erringen und erhalten, wofür Ressourcen verbraucht, Menschen geopfert werden und gar Kriege stattfinden, wenn ich dies sehe, denk ich, es müssten Verhältnisse her, in denen es niemanden mehr gelüstet, Macht zu haben, weil dies zu gefährlich geworden ist: für den Mächtigen.

29.5.85

Heute etwa 50 Wurzeln einer wuchernden Pflanze in einem Umkreis von 500 Metern eingegraben. So mit dem Spaten außerhalb des Gehöfts umherzuschleichen und der Natur in ihrem Überlebenskampf zu helfen, hatte etwas Närrisches und Subversives.

18.11.85

Provinz, Provinz! Es scheint, als ob der Rückzug aus der sogenannten Großen in die Kleine Welt in seiner Bescheidung weniger Einschränkung denn Erweiterung bedeutet. Der ruhigere und genauere Blick auf die Natur des Wechsels, auf diesen Mikrokosmos eröffnet tiefere Perspektiven in den Makrokosmos, manchmal, selten. Letztlich hingen nach einem Regen an der oberen Querstange des Zauns Tropfen. Sonne brach durch und ließ die Tropfen diamanten blitzen. Eine kurze Zeit, ermöglicht durch einen bestimmten Einfallswinkel der Sonne, vergänglich wie der Tropfen selbst. Was andres ist menschliches Leben in kosmischen Zeiträumen, zufällig wie Tropfen und Sonnenstrahl, aufleuchtend und vergehend wie das diamantene Gleißen, wertvoll durch Unwiederholbarkeit, von einer Schönheit, deren Glanz nur in der Kunst andeutungsweise widerscheint?

2.1.86

Ein Traum. Mein Hinrichtungstermin ist auf 6 Uhr des nächsten Morgens festgelegt, ohne Angabe von Gründen, verhängt von einem anonymen Staat. Ich versuche verzweifelt, die wenigen Stunden sinnvoll zu nutzen, doch fällt mir in der Lage nichts Sinnvolles ein. Beim Erwachen der Schrecken über den Leviathan, des Gottes, der sich selbst inthronisiert hat und nicht sterben will. Wie überirdisch steht das staatliche Prinzip über allen und allem, führt ein abgehobenes, abstraktes Dasein und übt konkret Macht aus, die jedoch von den Vollziehenden des Apparates unabhängig ist. Er verteilt, analog zu Gottes unerforschlichen Ratschlüssen, Lob und Tadel, fasst Beschlüsse, die zu begründen er nicht verpflichtet ist, verhängt Strafen bis hin zur Todesstrafe (dies eine seiner ungeheuerlichsten Monstrositäten), reißt Völker in Abgründe, die seinem Überleben dienen. Und doch ist kein einzelner Vollstrecker des staatlichen Willkürwillens persönlich dafür verantwortlich: Dies zeigen die Schwierigkeiten, führende Staatsverbrecher als Schuldige in den großen Weltprozessen zu verurteilen – immer gibt es den Befehlsnotstand, und selbst bei den Ersten Männern gab es Zwänge, die ihnen keine andere Wahl ließen. Vergeblich, einen Schergen eines beliebigen Systems moralisch zu verurteilen, da sein Tun von ihm unabhängig einem höheren Prinzip, dem staatlichen, untergeordnet ist, das, gleich ob er wollte oder nicht, vollzogen werden muss, wenn nicht von ihm, dann von einem anderen, und einer findet sich immer. Das Verweigern des Einzelnen hält diese selbstlaufende Mechanik nicht an.

13.8.86

25 Jahre Mauer. Steinernes Sinnbild einer Herrschaftsform, einer Denkungsart. Leben am anus mundi.

26.2.87

Der Gerontologe Gorbatschow versucht den sklerotischen Koloss zu verjüngen. Er als Gejagter, der nicht viel Zeit hat. 70 Jahre Zentraldiktatur hat die Menschen unschöpferisch, lethargisch werden lassen. Nun steht der Käfig halb offen, doch sie wollen nicht fliegen, sie glauben’s nicht, haben Angst, haben das Fliegen verlernt. Wenn der gute Zar Gorbatschow am apathischen Apparat scheitert, ist der Sozialismus fürs erste passé. Ohne Demokratie keine Kreativität. Sklaven verweigern die Leistung, zu Recht. Nun erzwingt die Stagnation Wandel, bei Strafe des Untergangs. Es ist ein Nachholen, noch immer keine Neuerung. Gorbatschow gebraucht dramatische Worte. Nichts davon in den DDR-Medien, diesem täglichen Trauerspiel. Die politbürokratische Überheblichkeit: Wir hätten keinen Nachholbedarf in Sachen Demokratie, bei uns, so Honecker, sei die bereits verwirklicht, so beispielsweise bei der Mitarbeit in Küchenkommissionen, wörtlich, ernsthaft, schamlos. Er brüstet sich mit ökonomischen Erfolgen, der reale Mangel indes bleibt. Das Volk wird nicht befragt, nicht informiert, es darf Ergebenheit ausdrücken. Das Volk als Wink-Element. Wieder das Erstarren, das Sträuben gegen Neues, die Furcht vor Veränderung. Nur gezwungen und gestoßen bewegen sich die neokonservativen Führer einen Trippelschritt vorwärts. Zukunft hat das nicht. Die DDR als faradayscher Käfig: unter ihm geschützt sitzen die Informationsmonopolisten und leiten die Perestroika-Blitze aus dem Osten ab. Ein neuer betonierter Provinzialismus – der real pervertierte Sozialismus.

17.7.87

Die DDR schafft die Todesstrafe ab, der Staat verzichtet auf ein Machtmittel: die Anmaßung, rechtmäßig zu töten. Nun müssten weitere Schritte folgen. Verzicht auf das zentralistische Administrieren. Außerdem gibt es eine Amnestie: ein Gnadenakt der alten Art. Nicht Gnade, sondern Rechtsstaatlichkeit ist nötig. Und das Abschaffen der Honecker-Strafrechtsparagrafen Hetze, Verbindungsaufnahme etc., dieser Gummi-Paragrafen, die machtpolitischer Willkür alle Möglichkeiten geben. Aber nichts davon.

27.12.87

Der Mensch, Nutznießer und Opfer seiner erhöhten Produktivität, sieht sich immer weniger imstande, den Selbstlauf der Prozesse zu steuern. Sein Tun ist immer weniger freiwillig, freie Entscheidung zum Fortschreiten. Es ist ein zwanghaftes, zwangsläufiges Vorwärtshasten, eine Flucht nach vorn, ein Zug ohne Bremse, ohne Möglichkeit des Aussteigens, das Tempo ist zu hoch. Es sei denn, er verzichtet aus Einsicht, er findet für sich neue Werte. So aber wie bisher isst er den Apfel Erde, auf dessen Schale, von dessen Fruchtfleisch er lebt, selber auf. Die instrumentelle Vernunft hat sich schneller entwickelt als die Moral, die Technologie schneller als die Ethik: Daraus ergibt sich unsere Hilflosigkeit gegenüber der selbstgeschaffenen Bedrohung.

16.3.88

Gestern in „Panorama“ ein übergelaufener Stasi-Fotograf. Er zeigt auch ein Foto von mir: bei der Lesung zur 1. Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche. Das Engagement für den Frieden verdächtig: Verdacht wohnt stets im schuldigen Gemüt (Shakespeare, Hamlet).

2.7.88

Der DDR-Problemberg wächst ökonomisch, ökologisch, innenpolitisch, die Perestroika-immune Führung verhindert erfolgreich deren öffentliche Diskussion, weshalb die Leute, die systemimmanente Veränderungen anstreben, den Konsens, nicht die Konfrontation, zunehmend unglaubwürdig werden. Ihre Kritik bleibt hinter der Schärfe der Widersprüche zurück, gerät in den Ruch des Konformismus. Beispielsweise sagt die unabhängige Öko-Bewegung das Notwendige, wird aber in die Nähe der Staatsfeindlichkeit manövriert, während wir im Schriftstellerverband unserer Kritik ein Halten-zu-Gnaden anhängen.

20.11.88

Der „Sputnik“ wird verboten. Statt Öffnung – Abschotten. Honecker hängt gleichentags Ceausescu, dem Großen Conducator, den Karl-Marx-Orden an. Eine Provokation des Volks. Außerdem werden fünf sowjetische Filme verboten: verzweifelte Defensive der Gerontokraten?

21.11.88

Besuch in Leipzig. Kein Zug pünktlich. Zugeschissene, stinkende Toiletten. Fabrikgebäude, die wie Ruinen aussehen. Verfallende Stadtviertel, schrundige Fassaden, löcherige Straßen, keine Taxis, Dreck, Barackenkultur, das allgegenwärtige Grau: die real existierende DDR, demoralisierend. Und das täglich den Bewohnern dieser einst schönen und vitalen und intakten Stadt. Wann endet deren engelhafte Geduld?

6.6.89

Nach fünf Monaten Gastprofessur in den USA wieder in der DDR. Erster Eindruck: eklatanter Widerspruch zwischen Ideologie und Realität. Alles klein, abgeschabt, die Gesichter mürrisch, das Land zurückgeblieben provinziell, abgehängt von der Welt. Ein Schock die Berichterstattung des ND über das Massaker der alten Männer an den chinesischen Studenten, Überschrift: Volksbefreiungsarmee Chinas schlug konterrevolutionären Aufruhr nieder. Widerlich. Und gefährlich: Es ist die Warnung ans Volk der DDR: Wir schießen auch, wenn …

12.9.89

Tausende verlassen über Ungarn die DDR, ein Trabi-Treck gen Westen. Die DDR-Oberen und deren Presse bewältigen das Problem wieder einmal sprachlich, man spricht von Hetzkampagne, Lüge, organisiertem Menschenhandel und von – Verführten. Hier zeigt sich das autoritäre Menschenbild der Partei: Die Bürger als unmündige Kinder, die vom Bösen Mann verführt und missbraucht werden. Die Partei als Erziehungsberechtigter und Vor-Mund. Als hätten die Menschen nicht selbst entschieden. Agonie, Lähmung, wirklichkeitsverleugnendes Wortgerassel. Honecker krank: Der Apparat läuft weiter, ohne die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Zentralistische Verantwortungslosigkeit. Der Unmut wächst. Stimmung wie vor Gewitter.

14.9.89

Versammlung des Schriftstellerverbandes Berlin. Die Regie der Funktionäre klappt nicht mehr, sie isolieren sich selbst: Sie erreichen 5 Gegenstimmen bei der äußerst zurückhaltend formulierten Protestresolution. Wären heute Wahlen gewesen, sie wären aus ihren Funktionen. Stolz auf meine Generation: Von da kommt jetzt das Substantielle. Optimismus des Veränderns. Das lustvolle Erlernen demokratischer Umgangsformen. Die verblüffte Lähmung der überstimmten Dauerfunktionäre.

21.9.89

Traum. Speisesaal eines Gefängnisses. Ich bin zum Tode verurteilt einer Unterschrift wegen. Ein Mädchen, verurteilt wie ich, lächelt mich an, kommt, liebt mich unterm Tisch, sagt: Es war nie schöner als mit dir, mein Einziger. Geht zum Nächsten, lächelt ihn an, liebt ihn, sagt: Es war nie schöner als mit dir, mein Einziger. Es ist kein Verantwortlicher da, alle zu Hause, alt, krank, ich frage, wann meine Hinrichtung sei. Es antwortet ein Baby, das in einem Körbchen liegt, hinter ihm die Amme mit dicken, bloßen Brüsten. Es sagt, schrill und dünn: So schnell wie möglich, also morgen früh um vier. Ich überlege, ob ich die anderen Verurteilten zum Widerstand gegen die lächerliche Baby-Gewalt auffordern oder das Baby, das sich als Stellvertreter des stellvertretenden Gefängnisdirektors bezeichnet, um eine Schreibmaschine bitten soll. Da sehe ich, das Baby schläft mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Es ist die Amme, die spricht: eine Bauchrednerin. Ich weiß, ich habe keine Chance.

2.10.89

Die Lage spitzt sich zu, die Massenflucht geht weiter. Krenz umarmt in Peking den fünfundachtzigjährigen Schlächter vom Platz des Himmlischen Friedens, Honecker bereitet den 40-Jahre-Jubel vor, die Stimmung im Volk ist depressiv bis aggressiv. Die Politgerontokraten klammern sich an die Macht, die, so Mao, aus den Gewehrläufen kommt. Dies die Gefahr, die Drohung.

23.10.89

Mittwoch, 18.10., endet die Honecker-Ära, glanzlos. Die DDR gärt: Massenflucht und Massendemonstrationen, überall werden Resolutionen verfasst, in denen gefordert wird, nicht mehr gebeten. In dieser Lage reagiert die Partei. Der neue Generalsekretär Krenz, „gewählt“ wie in Rom: Rauch aus dem Kamin des ZK-Gebäudes, der neue Papst. Drei (3) Leute werden ausgewechselt, nicht mehr, alle andern bleiben. Krenz im Fernsehen: ein mieser Mime, schmeichelt sich dem Volk an mit wölfischer Stimme, die Kreide fraß. Die Presse ändert ihren Ton, will, dass die Leute von der Straße kommen, bietet den Dialog an. Die Sprache ist verräterisch: „… die sozialistische Demokratie noch wirksamer entfalten …“ – als hätte es die jemals gegeben, „… die Medien noch lebensnaher gestalten …“ – als wären sie je lebensnah gewesen, noch mehr, stärker als bisher, vor allem mehr arbeiten – als läge es daran, dass die Wirtschaft krankt. Zu hoffen ist, das Volk lässt sich diesmal nicht wieder betrügen und besteht auf strukturellen Änderungen.

4.11.89

Die erste freie Großdemonstration auf dem Alex. Transparente mit knallharten Forderungen und kreativem Sprachwitz. Das Volk auf der Straße erzeugt den Veränderungsdruck. Eine Dynamik ist im Gange, an die niemand vor drei Monaten geglaubt hätte.

5.11.89

Das Volk erzwingt politischen Wandel. Die letzten Wochen, Tage spannend wie ein ganzes Jahrzehnt. Die Politbürokraten mit dem Rücken zur Wand, sie aber texten: Mit dem Gesicht zum Volke. Wohl wahr. Noch einmal die Lust des Veränderns, noch einmal Aufbruch und Hoffnung. Ein Volk findet seine Würde und Stimme wieder. Der Reform-Zug beschleunigt, die alte Partei rennt ihm außer Atem nach. Wer weiß, auf welchem deutschen Bahnhof die Reise endet.

29.11.89

Am Morgen im Roten Rathaus, unabhängiger Untersuchungsausschuss. Die Schuldigen lügen massiv, vertuschen, haben nichts gesehen, gehört, getan, sind vollkommen unschuldig. Wie gehabt. Der andere Teil der Wahrheit: die Post-Stalinisten ducken sich ab und versuchen, sich und die alten Mechanismen über die Runden zu retten.

10.12.89

Die kulturellen Deformationen. Der real pervertierte Sozialismus hat gewachsene Kunst vernichtet, doch keinen neuen Stil geschaffen. Die Städte verkommen, zerstört durch einen Krieg des schlechten Geschmacks. Auf dem Land die über Jahrhunderte gewachsene Infrastruktur nach 45 und bei der Zwangskollektivierung vernichtet, ersetzt durch provisorische Barackenarchitektur. Beschädigt auch die Alltagskultur: die Sprache, die Umgangsformen, die Kultur des Streits.

21.12.89

Ceausescu nannte gestern sein demonstrierendes Volk Konterrevolutionäre und Faschisten. Unser Sprachsensorium ist geschärft. Vor Wochen noch nannte man bei uns das demonstrierende Volk Staatsfeinde, Mob und Abschaum, die Munition war ausgegeben, Pläne für Internierungslager und schwarze Listen waren fertig. Uns blühte eben jener himmlische Frieden, der jetzt in Rumänien wütet. War der Conducator bislang nur lächerlich, ist er nun blutig, ein anachronistisches Monstrum, behängt auch mit zwei Karl-Marx-Orden dieses Landes. Wir, die wir nur knapp seinen Brüdern im Geiste entgangen sind, fordern von der Regierung, den Mörder öffentlich einen Mörder zu nennen.

15.1.90

Besetzung, Begehung des Hauptquartiers der Stasi in der Normannenstraße. Die Tore wurden von innen geöffnet, und die Menschen liefen durch das riesige Objekt, Stolz und Unglauben in den Gesichtern.

22.2.90

Der Stoff der nächsten Jahre: die Trauerarbeit, die Frage nach der Mitschuld. Was hätten wir wissen, erkennen können? Warum vermieden wir die konsequente Analyse? Aus Furcht, das Verderbte, aussichtslos Misslungene illusionslos zu konstatieren, weil wir uns dann hätten moralisch entscheiden müssen: zu Widerstand oder Flucht. Der Selbstbetrug, der bequeme, an die Lernfähigkeit des Totalitarismus glauben zu wollen. Die hilfreiche Illusion von der Aufklärung der Macht durch Vernunft. Das kindliche Festhalten an einer Utopie aus dem 19. Jahrhundert, die schon 1930 in der Sowjetunion pervertiert worden war. Das Abstumpfen des Gewissens angesichts deutlichster Zeichen: Wahlbetrug, Totalüberwachung, Machtarroganz. Das Wissen ohne Folgen, das Hinsehen, ohne zu reden, das geflüsterte Murren, kein lauter Protest. Psychologisch ein Verdrängen, ethisch ein Versagen, politisch ein Stabilisieren. Wie uns, wie mir das geschah, diese Geschichte ist schreibend zu erkunden, zu erkennen.

Zuerst veröffentlicht: Der Morgen, 1. September 1990

Das Blöken der Wölfe

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