Читать книгу Das Blöken der Wölfe - Joachim Walther - Страница 16
125. MORALISCHE EPISTEL
ОглавлениеZum letzten Mal: Seneca grüßt seinen Lucilius. Sei es ein Ende oder ein Hinübergleiten in etwas anderes, ich fürchte es nicht, da ich nirgendwo so eingeengt sein werde wie hier. Der befohlene Freitod, dessen Art ich selbst bestimmen darf, lässt mir Zeit, Dir den Traum von meinem Ende zu beschreiben, der mich einige tausend Jahre in die Zukunft riss, unsere.
Ich also in der von uns fortgeschrittenen Welt, in einem Fahrzeug. Genannt Automobil. Selbstbeweger: ein hybrides Wort. Du musst Dir vorstellen, es war Nacht, über uns kein Mond, kein Stern und also eine Schwärze uns voraus, die dem Auge vorenthielt, was sie in sich barg, und das konnte alles sein: das Gute wie das Böse, Glück und Gefahr, Anfang und Ende. Unter uns die Straße, grau und ölbefleckt, sie jagte unaufhörlich auf uns zu und tauchte unter uns geräuschlos fort, kein Stein, kein Halm auf ihr bot den Blicken halt, alles floss und war rasendes Verschwimmen, grelles Aufscheinen, stummes Verschwinden. Auf dieser Straße ich in diesem metallenen Geschoss, das sich windschlüpfrig in die Dunkelheit bohrte. Außen heulte, pfiff der Wind zerteilt vorbei, innen wehte kein Hauch, gedämpft war das Rollen der Räder von Federn und Polstern, das Tempo, die Wucht und Gewalt dem Körper nicht spürbar und nur dann zu ahnen in diesem wohltemperierten, bequemen Innenraum, wenn ein Insekt auf das Glas dicht vor meinem Gesicht prallte und zu einem gelblichen Brei zerplatzte. Vor uns das Licht der Lampen, das jedoch nicht weit griff, vielleicht zwei-, dreihundert Schritt, bewältigt in Sekundenschnelle. Beklemmend. Und doch auch faszinierend. Ich presste meine Knie aneinander, sah angestrengt voraus, soweit es das begrenzte Licht erlaubte und bebte innerlich, jenseits unseres eingeengten Blickfeldes könnte etwas sein, was wir nicht voraussehen konnten: eine hohe Mauer, ein tiefes Loch, ein toter, umgestürzter Baum, ein Mensch, ein Tier, der Rand der Welt – plötzlich herausgewachsen aus der Ungewissheit vor uns, zu spät, um zu reagieren. Dieses komfortable Geschoss war keine Sänfte, kein Pferdegespann, von ihm gab es kein Abspringen im letzten Moment. Ich war, sah ich, Gefangener der Geschwindigkeit. Umgeben von Bequemlichkeit und trotz vorhandener Türen unentrinnbar eingeschlossen. Während mir der Schweiß ausbrach ob dieser vorsätzlichen Raserei bei beschränkter Sicht, schien der Fahrer offenbar zu hoffen, darauf zu vertrauen oder gar vorauszusehen, alles vor ihm müsse sein wie das hinter ihm Liegende: neu zwar, doch ähnlich dem Bekannten, und also zu beherrschen. Es war ein Spiel, erschrak ich, ein Spiel um alles oder nichts, auf Leben und auf Tod. Durchaus, es konnte sein, wie er vermutete. Was aber, es wäre unversehens anders? Und wie wir derart in die Schwärze vor uns rasten, kam mir das Licht der Lampen wie eine an den Schiffsbug gesteckte Fackel vor: erfinderische Einfalt, wo kein Leuchtturm Richtung gibt. Ach was, raunte wer (einer der Insassen, ich, der Zeitgeist jener fernen Tage?), ist bisher alles glimpflich abgegangen, wird auch in Zukunft nichts passieren. So wird Optimismus fatal zum Überleben nötig. Das Glück als letzter Notausgang. Dies, Lucilius, die völlig irreale Szenerie. Nun zu den Personen.
Der Fahrer neben mir starrte schweigend (fast hätte ich geschrieben: stoisch, wenn diese ausgestellte Seelenruhe nicht von Gewöhnung und Überforderung etwas stumpf gewesen wäre), starrte also auf das lächerliche kurze Stück beleuchteter Straße, und ich ahnte, welch gewaltigen Vorteil er hatte: Er lenkte mit seinen Händen, dirigierte mit den Füßen die Geschwindigkeit und besaß die Macht, das Gefährt zu beschleunigen oder abzubremsen, durfte also wähnen, es im Griff zu haben, während ich neben ihm, ohne jede Möglichkeit des Eingriffs oder Ausstiegs, allem ausgeliefert, deutlich spürte, wie er das Ganze zwar vorwärtsbewegte, aber nicht wirklich beherrschte, und dennoch ein trügerisches Gefühl von Sicherheit verströmte. Ich fand, wir fuhren zu schnell.
Ich finde, wir fahren zu schnell, sagte jemand hinter mir, ein junger Mensch in Deinem Alter.
Der Fahrer sagte nichts.
Wir müssen noch schneller fahren, sagte der Ältere, der neben dem Jüngeren saß. Ich übernehme die Verantwortung.
Im Rückspiegel vor mir sah ich vom Sprecher nur dessen Hut und die getönten Augengläser, die Augen selber nicht. Der Jüngere aber hatte mehr gemeint. Und sagte es. Er meine die vom Menschen verursachten Prozesse des Zerstörens, deren Geschwindigkeit seine Fähigkeit des Beurteilens und Bewältigens bei Weitem übertreffe. Wir sähen nicht weit genug voraus, doch was wir sehen könnten, sei Grund genug, sofort zu handeln. Die Menschen, uneins und ungleich, fräßen auf, was sie erhalte: die eine Erde.
Der Ältere wandte ein, der Zuwachs in der Weltgetreideproduktion habe bisher stets das Bevölkerungswachstum übertroffen, die Erde habe Nahrung und Platz für alle.
Menschen, ergänzte der Jüngere, vielleicht.
Schon jetzt verdrängten die mit ihrem Raumbedarf und ihrer Produktion in jeder Stunde eine Tier- oder Pflanzenart, wodurch, wenn dieses Ausrottungstempo so weiterginge, im Jahr 2000 etwa eine halbe Million Arten unwiederbringlich von der Erde verschwunden wären, darunter solche, die dem Menschen noch nicht einmal bekannt geworden seien.
Eine teilweise signifikante Reduktion, gab der Ältere zu, fügte jedoch an: Wir listen das auf und vervollständigen unsere Gen-Banken.
Energieverbrauch, sagte der Jüngere. Den habe der hochindustrialisierte Mensch in den letzten hundert Jahren verzwanzigfacht, und dazu verbrenne er in einigen Jahrzehnten, was in Jahrmillionen entstanden sei, Bodenschätze, die als Gase in die Atmosphäre stiegen und von dort, angereichert, katastrophal auf uns zurückwirken würden. Der globale Klimakollaps sei von gleicher apokalyptischer Dimension wie ein nuklear geführter Krieg, der Himmel eine tickende Bombe.
Verbale Panikmache! rief der Ältere. Die Beweise!
Nichts ist zu beweisen, sagte der Jüngere, solange es nicht eingetreten ist.
Handeln aber braucht Gewissheit, sagte der Ältere.
Waldsterben sagte der Jüngere. Saurer Regen.
Neuartige Waldschadbilder in einzelnen Regionen, verbesserte der Ältere. Langfristige Strategie: Revitalisierung. Schadfortschrittsverzögerung. Entwicklung rauchtoleranter Baumarten.
Rauchtoleranz, dachte ich, beinahe amüsiert. Der rauchtolerante Mensch. Das Wörter-Boxen regte an. Schlag-Worte, gewiss, Lucilius, doch nicht zu unterschätzen. Unser schlechtes Gewissen hat Türwächter eingesetzt. Zensoren der inneren Ordnung, die unsern Geist beschützen sollen vor dem treffenden Wort. Benennt es bislang Unbenannt-Unerkanntes, wird es Begriff, das uns begreifen lässt, und ist den Türwächtern ein solches Wort entgangen (oder wie sie sagen: eingedrungen), wird es Zeit, Abschied zu nehmen vom liebgewordenen Bild der Welt in unserem Kopf, mit dem sich so gut leben ließ. Und das tut weh.
Denaturieren, sagte der Jüngere.
Renaturieren, der Ältere.
Sagte der eine: vergiftete Luft, sagte der andere: partielle Belastung. Ein Spiel, dachte ich. Flüsse verkämen zu Abwasserkanälen, Meere zu Mülleimern. Dem folgte: schrittweises Minimieren des Schadstoffeintrags. Ein Gesellschaftsspiel. Hinter den Worten das Versteck. Wortspiel als Vorspiel, das ewige Spiel der Kräfte. Die Ewigkeit der Welt beruht auf dem Gegensatz. Diesem Gesetz muss sich unser Geist anpassen, ihm muss er folgen, ihm gehorchen. Und was immer sich auch ereignen mag, er muss es als notwendiges Geschehen begreifen und nicht der Natur Vorwürfe machen wollen. So weit, so gut, nun weiter. Der eine sagte: Verpestung, Verseuchung, Vernichtung. Der andere darauf: Beeinträchtigung, Sanierung, Überwachung. Müllgebirge: Deponien. Reaktorunfall: Sicherheitsstandard.
Milliarden für Waffen, sagte der Jüngere.
Ja, der teure Frieden, seufzte der Ältere.
Frieden? fragte der Jüngere. Kein Krieg ist nicht Frieden.
Sicherheit, sagte der Ältere. Das Gleichgewicht.
Ökologische Unsicherheit, setzte der Jüngere dagegen. Gestörtes Gleichgewicht der Natur. Wüstenbildung. Sogenannte Naturkatastrophen: hausgemacht. Treibhauseffekt. Ozonloch. Industrie-Unfälle. Armut. Hunger. Millionen Tote.
Der Ältere unterbrach ihn. Seine Augengläser blitzten, indes er sagte, die Bilanz sei äußerst einseitig. Der Mensch habe auch Großartiges geleistet. Er habe sein Durchschnittsalter erheblich erhöht, die Säuglingssterblichkeit bemerkenswert gesenkt, seinen Lebensstandard bedeutend gehoben, die Annehmlichkeiten des Lebens enorm vermehrt, Erstaunliches erfunden, Gewaltiges entdeckt, mehr Freizeit und Wissen gewonnen und so sein natürliches Bedürfnis nach Wohnraum, Ernährung, Erholung und Gesundheit immer besser befriedigt. Und, das sei nun einmal so und durch nichts aufzuhalten, er werde sich zwangsweise permanent weiterentwickeln, Entwicklung aber, Leben generell, Fortschritt und Fortbestehen gäbe es nirgendwo und nirgendwann ohne ein bestimmtes Quantum an Unvorhersehbarem und ohne ein gewisses Risiko.
Der Fahrer sagte nichts, er fuhr.
Und ich wiederholte mich, da mir schien, es passte noch immer: Natürliche Bedürfnisse haben ihre Grenzen … was irrigen Wunschvorstellungen entspricht, kennt kein Maß, denn der Irrtum spottet jeglicher Schranke … Bleibt trotz ständigen Fortschreitens immer noch ein unerfüllter Rest, so darfst du sicher sein: Dein Streben ist wider die Natur.
Unsinn, sagte der Ältere: Wir müssen noch schneller vorwärts, in der Zukunft liegen die Lösungen für unsere heutigen Probleme, unser Wissen muss wachsen, unsere technischen Möglichkeiten, unsere Nahrungsproduktion, kurz: unsere Produktivität, nur so kommen wir da durch.
Das nenn’ ich Flucht nach vorn mit zurückgebliebenem Denken, sagte der in Deinem Alter.
Und er nannte es einen eklatanten Bruch des Generationenvertrages, der ja nicht nur die Sorgepflicht der Arbeitsfähigen für die Alten und Kranken enthalte, sondern auch der Gegenwärtigen für die Künftigen. Die heute Verantwortlichen seien tot, wenn deren Kindeskinder leben wollten und nicht könnten, weil wir ihnen eine gefledderte Erde hinterließen und unsere ungelösten Probleme. Plutonium, um nur eins zu nennen, das ihnen noch 25.000 Jahre eine strahlende Zukunft bereite.
Maßlos übertrieben, sagte der Ältere. Wir hinterlassen ihnen auch die Nuklearmedizin zur Krebsbekämpfung.
Ich lauschte dem Streit, an dem vieles für mich neu, wenn auch nicht fremd war, und dachte an die Verschwendung und Überhebung unsrer Tage, an Habsucht und Zügellosigkeit, die ständig wachsen wollen, dachte an die marmornen Bäder in Bajä und das nackte Elend nebenan, dachte an die Federn, die erlauchte Gaumen zum Erbrechen reizen, um neuen Platz zu schaffen in den überfressenen Mägen, dachte an den Hunger in der Welt und hörte, wie heute die einen ihre Exkremente mit Trinkwasser hinwegspülen, indes die andern kein sauberes Wasser zu trinken haben und zu Millionen daran sterben.
Mit der Zügellosigkeit ist es im Grunde, sah ich, so geblieben, wie es war: Erst richtete sie ihre Wünsche auf Überflüssiges, dann auf Naturwidriges, schließlich lieferte sie den Geist dem Körper aus und machte ihn zum Sklaven seiner Begehrlichkeit. Und wenn ich riet, sich von diesem Endlos-Wünschen abzuwenden und die Bedürfnisse auf das natürlich Notwendige einzuschränken, so sah ich jetzt, das reicht nicht aus. Der Ältere erkannte durchaus einige der Gefahren als möglich an, meinte aber, es werde sehr viel für den Erhalt der Natur getan.
Zu wenig, um zu überleben, sagte der Jüngere darauf.
Es genüge nicht einmal mehr, langsamer zu fahren, man müsse raus aus dem gefährlichen Gefährt, in dem wir alle säßen.
Verte! dachte, rief ich und fürchtete zugleich, rückwärtsgewandt geschimpft zu werden.
Kehre um? fragte der Ältere: Wohin? Zurück?
Die Wertewende in die Zukunft, sagte der Jüngere. Ohne Wertewandel ist Fortschritt tödlich, Umweltschutz Kosmetik, die das ursächliche Übel überschminkt, das unterm Make-up unbehandelt weiterwächst.
Wertewandel. Sagte er’s, dachte ich’s? Der Jüngere war’s, mir weit voraus und doch nicht fern. Das anthropozentrische sei durch das ökologische Weltbild zu ersetzen: ein Vorgang, vergleichbar mit der Ablösung des ptolemäischen durch das kopernikanische Weltbild. Die Physik, spätestens desavouiert seit der Atombombe, könne nicht länger Leitwissenschaft sein. Die Ökologie müsse integraler Teil allen Denkens, Planens und Handelns werden. Nötig sei eine neue Ethik für Naturwissenschaft und Technik. Nötig, das Verhältnis des Menschen zur Natur grundsätzlich neu zu formulieren. Fort mit der Hybris, dem Herrschen, Unterdrücken, Ausbeuten und Foltern (Bacon, Vater der Wissenschaft genannt, habe aufgefordert, die Natur auf die Folter zu spannen, um ihr so die Geheimnisse zu entreißen). Hin zur Sanftheit, zum Lauschen, Betrachten und Bescheiden (bei der Photosynthese der Pflanzen würden 40 Prozent der Sonnenenergie genutzt: ein Wert, von dem der umso vieles klügere Mensch nur träumen könne). Umweltverträgliche Produktion. Sanfte Energien. Planetare Solidarität. Alternativkonzepte. Neue Werte: ein alter Baum sei notwendiger und schöner als ein neues Möbel, eine feuchte Wiese nützlicher als ein paar Zentner Fleisch, ein lebendes Nashorn wichtiger für den Fortbestand der Gattung Mensch als die aus seinen Hörnern gewonnenen Potenzplacebos. Alle Güter und Lebewesen seien gleich zu achten, sie hätten den gleichen Wert, der Mensch sei nicht das Maß der Dinge.
Ganz recht: Als Verwandte hat uns die Natur geschaffen, aus den gleichen Stoffen und zur gleichen Bestimmung, und es gibt kein Gut ohne sittlichen Rang, und dieser ist überall der Gleiche. Ich fühlte mich verstanden. Reichlich spät, das gab ich zu, Lucilius, doch immerhin.
In die Schwärze uns voraus dehnte sich ein Streifen Licht, weit hinten. Der Morgen, mir graute. Schälte Formen aus der Nacht: Bäume, Hügel, Häuser. Wir aber rasten unvermindert schnell zum Horizont, der sich entfernte. Morgen-Grauen: Wohin geht die Fahrt? Der Fahrer fuhr, sagte nichts, das hatte ich wohl schon geschrieben. Der Ältere aber schien ein Ziel, weit vorn im Morgendunst, zu kennen: Womöglich war’s der Horizont, den er zu erreichen suchte.
Unbeirrbar, hörte ich ihn murmeln, vorwärts.
Er hatte hier das Sagen, schien mir, der Jüngere die Worte. Der Mensch, so ließ er sich schon wieder hören, sei zerstörerisch: Er habe das Maß verloren und kompensiere den Verlust nun durch die Gier, sich alles einverleiben zu wollen. Unersättlich, um die bleibende Leere zu füllen. Die verlorene Mitte treibe ihn, sich zu zerstreuen. Die einen häuften Dinge, andre Geld, wieder andre fräßen, söffen aus Verzweiflung, flüchteten in Süchte, irrten manisch durch die Welt, besichtigten das Ferne, um sich selbst nicht nah zu kommen. Alleinsein sei für sie bedrückend, Stille nicht auszuhalten. Dagegen gäbe es die Unterhaltungsindustrie. Billigkultur, minderwertige, synthetisch hergestellte Massenware globalen Verschnitts, die sättige und nicht nähre, die ruhigstelle und nicht beruhige, die Leben imitiere und nicht belebe, die Zeit nicht nutze, sondern vertreibe. Es sei, als spiele sie so laut und lustig, um das Röcheln der Natur zu übertönen.
Der einmal eingeschlagene Weg, murmelte der Ältere.
Der Mensch, setzte der Jüngere seine Rede fort, werde wohl auf Überflüssiges verzichten müssen: Er, Nutznießer und Opfer seiner erstaunlichen wie erschreckenden Produktivität, sähe sich immer weniger imstande, den Selbstlauf der Prozesse zu steuern. Technologie gehe ihm vor Ethik. Instrumentelles Denken vor Moral. Gegenwart vor Zukunft. Wissenschaft vor Gewissen. Was er vorantreibe, erlebe er als Fatum, vor dessen Folgen er die Augen schlösse, zumindest eins.
Im Vorwärtsschreiten Unvollkommenheiten überwinden, sagte der Ältere. Mit weniger mehr produzieren.
Der Mensch als der Treibende, der immer mehr wolle, mehr Dinge, mehr Bequemlichkeit, mehr Unterhaltung. Wissenschaftsfasziniert, fortschrittsgläubig, wachstumsbesessen und nicht bereit, die naturverheerende Entwicklung durch eigenen Verzicht zu stoppen.
Wo und was soll wann und wem gestrichen werden? fragte der Ältere. Und wer soll das entscheiden, wer das vorschreiben und durchsetzen?
Fast hätte ich gesagt: Vorschriften zu geben, wird demnach gar nichts fruchten, wenn du nicht vorher alles diesen Vorschriften Entgegenstehende beseitigt hast. Doch ich schwieg und konnte es, da der Jüngere sagte: freiwilliger Verzicht, nicht verordnete Askese. Die Einsicht, dass es wichtigere Güter gibt als die käuflichen. Wasser. Oder Luft.
Wasser und Luft, sagte der Ältere, konsumiert der Mensch wie andre Lebensmittel auch. Und er entnimmt sie der Natur. Das hat er getan, seit es ihn gibt. Und daran wird sich auch nichts ändern.
Entnehmen klingt so mild, sagte der Jüngere. Ausrauben muss das heißen. Die Natur verarmt, der Mensch bereichert sich auf ihre Kosten. Und Reichtum wird gleichgesetzt mit dem Mehren materieller Güter. Unbegrenztes Wachstum innerhalb naturgegebener Grenzen: das ist der Punkt. Verzicht auf das, was machbar ist, wäre wahre Stärke, Verzicht auf Macht, echte Größe. So aber entwickelt er die Produktivkräfte immer fort und benutzt Natur als Billiglieferant von Rohstoffen, Energie, Land und Lagerplatz für Abfälle. Die Umwelt wird so Unwelt werden.
Links und rechts der Straße Bäume, Wald. Ein schütteres Gebilde: verkahlte Kronen, gilbende Blätter, skelettiertes Geäst.
Wissenschaft und Technik, sagte der Ältere, stellen lediglich Wissen und Mittel für Zwecke bereit. Die Zwecke jedoch werden nicht von ihnen, sondern von der Politik gesetzt, letztendlich aber von der herrschenden Kultur.
Das delegierte Gewissen, sagte der Jüngere.
Du, Lucilius, weißt es so wie ich: Das ist ein Unding. Gewissen meint den inneren Mitwisser, den Zeugen jeder schlechten Tat in jedem Einzelnen von uns. Den kann man keinem andern einfach übergeben. Und selbst wenn man’s versuchte, wird kein Politiker, kein Wissenschaftler die Gesamtverantwortung übernehmen. Siehe Caligula, Nero und weitere Sehenswürdige im Potentaten-Panoptikum der Weltgeschichte. Und täte einer diesen rhetorischen Kraftakt, es bliebe Imponiergehabe, schöne Floskel, ebenso viel wert wie die Versicherung des Älteren, die Verantwortung für die überhöhte Geschwindigkeit zu tragen. Er saß hinten, weit weg von Bremse, Gaspedal und Lenkrad, und hatte keine Möglichkeit, irgendetwas zu tun, rechtzeitig zu reagieren im Falle der Gefahr, er hatte nur die Macht, dem Fahrer Richtung und Geschwindigkeit anzuweisen. Tatsächlich trug der Fahrer die Verantwortung, denn nur er war wirklich in der Lage, etwas zu tun. Der aber fuhr, wie ihm geheißen war, schweigend, mit dem Gleichmut der Gewöhnung im Gesicht, das weder Zustimmung noch Ablehnung verriet. Zeige mir den, der kein Sklave ist: der Begierde, des Geizes, der Geltungssucht, des Machtstrebens, der Hoffnung, der Furcht, der Gleichgültigkeit.
Felder beidseits nun. Soweit das Auge reichte, Monokulturen. Kein Weg, kein Baum, Bäche betoniert, begradigt. Ungeziefer zu Lande und zu Luft bekämpft mit tödlichen Dosen, die anderen Kräuter, das Getier, nützlich auch den Menschen, zu dessen kurzfristigem Gewinn mit, für den er später zahlen muss.
Kompetenz, sagte der Ältere. Es wäre besser, alles den Fachleuten zu überlassen.
O weh, Lucilius. Ich hielt, innerlich errötend, den Atem an, da ich fürchtete, zitiert zu werden mit dem stolzen Satz von mir: Über Dinge von Rang muss ein Geist von Rang entscheiden. Dabei dachte ich natürlich an mich selbst, wen sonst. Gottlob hielt sich der Kompetente allein für kompetent genug, dass er eines Autoritätsbeweises nicht zu bedürfen glaubte und mich, den er ohnehin nur flüchtig wahrnahm, nicht zitierte.
Unmündigkeit, sagte der Jüngere. Selbstverschuldete Unmündigkeit: Ich habe den Satz, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit bisher immer falsch gelesen. Unverschuldete Unmündigkeit, las ich, obwohl es anders schwarz auf weiß geschrieben stand. Unverschuldet unmündig, las ich und dachte an die wechselnden Herren Vormünder, die immer ein Interesse an der Ohnmacht des massenhaft Einzelnen hatten und sie aus ihrer Vogelperspektive auch so nennen: die Volksmassen, ein emsiges Gekrabbel am Boden. Unverschuldet unmündig – das nahm ich bis vor Kurzem auch für mich in Anspruch und suchte die Verantwortung außerhalb von mir, bei denen da oben, den Erdengöttern, Häuptern, Ernannten, Vertretern, den Befugten und Geheimnisträgern, und hatte einen Grund, nicht selber verantwortlich zu sein und nichts zu sagen und zu tun.
Wir fuhren durch eine große, graue Stadt: dicke Luft, brennender Müll, brüllender Verkehr. Die Menschen hastend, mürrischen Gesichts, so mürrisch, dass man denken konnte, Leben sei ihnen Last, nicht Lust: Jäger und Sammler, hochzivilisiert.
Inkompetenz, sagte der Ältere.
Unwissen, sagte der Jüngere. Verantwortungsbewusstsein braucht Wissen. Und Wissen braucht Informationen: Daten, Vergleiche, Schadensbilanzen, der Blick aufs eigene Nahe so scharf wie der aufs fremde Ferne.
Es ist Hoheitsaufgabe jedes Staats, sagte der Ältere und hob die Stimme ein klein wenig, mit seinen Zahlen so oder so umzugehen. Schließlich trägt er die Verantwortung fürs Ganze.
Er allein? Und wer ist ER überhaupt, der Staat? Die Führung? Der Apparat? Die Bürger? fragte der Jüngere. Natur ist keine Domäne. Wir alle sind ihr Teil und also jeder einzeln auch verantwortlich. Verantwortlichkeit aber steigt mit dem Grad der Mündigkeit.
Wenn hier und da diese oder jene Zahl zurückgehalten wird, sagte der Ältere, dann allein im Interesse der Menschen: um sie nicht zu beunruhigen und unnötige Ängste zu wecken. Um Zahlen zu verstehen und komplex einzuschätzen, braucht es Wissen, Überblick.
Und beide brauchen Informationen, sagte der Jüngere. Da liegt der Hund, der sich in den Schwanz gebissen hat, begraben.
Am Rande der Städte Fabriken. Ein Zementwerk: die Landschaft in weitem Umkreis gestäubt, gestorben. Bäume wie Totenmale aus Beton.
Weitere Vervollkommnung des prinzipiell Bewährten, sagte der Ältere.
Neues Denken, sagte der Jüngere.
Dem Volk gefällte Entscheidungen geduldig erläutern.
Daran beteiligen, sagte der Jüngere.
Umerziehen, der Ältere.
Informieren, sensibilisieren und eigene Schlüsse ziehen lassen.
Laienhafter Eifer moralisierender Schöngeister, sagte der Ältere und lächelte. Übrigens ist die Ökologie auch eine Wissenschaft.
Und Demokratie, sagte der Jüngere, eine Kunst.
Ja, die Künstler! rief der Ältere. Heulen. Zähneklappern. Klagen mit der Lust am Untergang. Genießen der Wehmut, leicht morbid. Kassandrarufe.
Eine Chemiefabrik: Man roch sie schon, bevor sie sich in ihren satten Farben zeigte. Der Ältere rümpfte die Nase und wies den Fahrer an, das Fenster dicht zu schließen.
Ganz so, fuhr er fort, als wären Wissenschaftler ohne Ethos. Nicht mal jene, die für die Rüstung arbeiten, haben ein Interesse am Krieg.
Pervers, sagte der Jüngere.
Dialektik, sagte der Ältere. Zusammenhänge, Abhängigkeiten, Widersprüche, Zwänge, Notwendigkeiten. Das alles hält uns im Griff. Noch. Schwärmer werden das nicht erkennen, geschweige denn ändern, sondern nur exakte Wissenschaft.
Darauf schwieg der Jüngere, mir schien, entnervt, und ich dachte, lieber sich selbst bessern wollen als die Götter, und weiter dachte ich, dass nicht Wissenschaft noch Kunst allein die Welt im Ganzen fassten. Aber die Kunst, mein lieber Lucilius, hat den unschätzbaren Vorteil, das Recht und die Pflicht, unorthodox, querdenkerisch, apodiktisch, radikal moralisch zu sein, da ihr Wesen weder zweckhaft war noch jemals sein wird.
Ein Tagebau. Das gigantische Erdloch eine schrundige Wunde. Eisenungetüme fraßen Landschaft, schaufelten Felder, Wälder, ganze Dörfer, Bäche, Wiesen, Wege in sich hinein und schieden sie hinter sich wieder aus. Eine zerkleinerte, amorphe Masse, leblose Halden kilometerweit, die Folgelandschaft eine Steppe: ohne Gesicht, auch rekultiviert der Geschichte beraubt, exkrementiert.
Wählen Sie, sagte der Ältere und zeigte freudlos nach draußen. Das hier. Oder das da vorne.
Wir sahen Kühltürme in der Ferne und näherkommend ein Atomkraftwerk. Da roch nichts, da war kein Rauch zu sehen und kein Lärm zu hören. Blumenrabatten, sauber gefegte Wege, beschnittene Büsche, viel Grün ringsum, hell gestrichene Gebäude, Kühe, in der Nähe grasend, friedlich, das setz ich noch hinzu, ein Fluss, der still vorüberfloss. Ein freundlicher Eindruck, den nur der hohe Stacheldraht um die Idylle störte. So hoch, als lagere dahinter eine besonders gefährliche Waffe.
Das die Alternativen, sagte der Ältere.
Wenn Wissenschaft nicht mehr zu bieten hat, sagte der Jüngere und schwieg.
Dörfer, kaum zu unterscheiden voneinander. Bauten aus Beton, genormt. Gasthäuser, die hießen: Wildschütz, Anglertreff, Jägereck.
Apropos, sagte der Ältere. Ich habe Hunger.
Ein weiteres Dorf, der Teich verschlammt, müllgesäumt. Storchennester, keine Störche.
Hunger und Durst, sagte der Jüngere. Müssen muss ich auch.
Na also, sagte der Ältere entspannt. Und Sie?
Er meinte den Fahrer. Mich übersah er. Der Fahrer schüttelte den Kopf, griff ein Warmhaltegefäß und eine Brotbüchse und aß. Die beiden anderen entfernten sich, miteinander diskutierend.
He, du, willste mal? fragte der Fahrer, als wir allein waren.
Ich weiß nicht, sagte ich und wusste, dass ich wollte.
Wir wechselten die Plätze. Er zeigte mir, wo ich zu lenken, bremsen, kuppeln und Gas zu geben hatte, und los ging’s. Tatsächlich wie von selbst bewegte sich das Ding und mich, der ich nicht mehr tat, als mit dem Fuß auf ein Pedal zu tippen. Minimale Muskeltätigkeit, die Kräfte freisetzte, die meine eigenen weit überstiegen. Und ich der Herr darüber. Ich fuhr schneller, drückte das Pedal bis zum Anschlag durch und meinte bald zu fliegen. Rausch der Geschwindigkeit. Ich nahm die Straße vor mir wahr, seitlich jedoch verwischte, verhuschte alles, zog sich seltsam in die Breite, ein Bildbrei unkenntlicher Details. Es machte Spaß, Lucilius, und wie!
Ich habe überlegt, ob ich Dir meine Verführung verschweigen sollte. Doch was nutzte das? Handelst du schändlich, was macht es dann noch aus, wenn’s keiner weiß? Du selber weißt es ja. Diesen Mitwisser zu verachten, das eigentlich bedeutet, elend zu sein.
Mir war, als wäre ich gewachsen. Hätte mich vervielfältigt. Ein Riese nun, Gigant. Ein Gott. Allmächtig. Insekten schlugen auf die Scheibe vorn. Schmetterlinge wurden in den Motorraum gesogen, ein Vogel prallte auf, und dann die Katze: plötzlich vor mir auf der Straße. Und ich fuhr direkt auf sie zu, der Fahrer riet (mit vollem Mund), auf keinen Fall zu bremsen oder auszuweichen. Draufhalten! schrie er, sich verschluckend, voll drauf! Die Katze mir voraus, die gelben Augen, darin die Angst. Das Gift in mir. Es war, als führe ich in dieses Gelb hinein. Ich das Gift. So also war das Ende, dachte ich, erschrak: vor mir, dem Töten noch im Sterben. Die Katze duckte sich, da war es schon geschehen: ein dumpfer Schlag vorn, ein Poltern unterm Wagenboden, aus. Mit ihr. Mit mir. Der Traum ein Leben. Das Leben ein Verrat. Nicht mich versteh ich, doch die anderen besser. Zu spät, Lucilius. Doch Du, Du hast noch Zeit, das Deine Dir zu denken. Und nun leb wohl.
Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 11/1989