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MEHR ALS GLAUBEN, MEHR ALS HOFFEN

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Rede Erlöserkirche Berlin, 28. Oktober 1989

Als vor 18 Jahren Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich 28. Dem Neuen damals wollten viele glauben. Er ermunterte zu Meinungsstreit, doch zeigte sich sehr bald, er hatte es nicht ernst gemeint: die öffentliche Widerrede blieb weiter unerwünscht. Er verkündete, es gäbe von nun an keine Tabus mehr für Kunst und Literatur, doch blieben uns Zensur, Verbot und Vormundschaft. Er referierte über Volksverbundenheit, Lebensnähe, Realismus in der Politik und besah sein Volk am liebsten von Tribünen, wie es, straff organisiert, spontan an ihm vorüberjubelte. Er versprach den Bürgern kühn eine bürgernahe Bürokratie, doch war’s verbal die Quadratur des Kreises, da jegliche Büroherrschaft zum Eigenleben neigt und Sekretär, zum Beispiel, von lat. secretus kommt und abgesondert, geheim heißt. Schließlich hob er ab in Sphären, wohin ihm das unreife Volk, der große Lümmel, auch Massen genannt, nicht zu folgen vermochte, und während er das politische Strafrecht um drei dehnbare Paragraphen bereicherte, rief er seinem Volke munter zu, es habe zu keiner Zeit so frei geatmet wie eben hier und jetzt, unter seiner Führung. Demokratie, sprach er, wir hätten sie schon, die sozialistische, und nannte als Beweis die Mitarbeit in Küchenkommissionen. Die Statistik produzierte Wachstumszahlen, die auf dem Weg nach oben dynamisch schwollen, indes der reale Mangel unten blieb und wuchs. Transparente statt Transparenz. Losungen statt Lösungen. Das alles ist Geschichte, doch unser Leben auch.

Als am 18. Oktober 1989 Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich 46. Des Neuen Rede geht von lebensnahen Medien, von Dialog ohne Tabus, von Realismus in der Politik. Noch nicht genug, doch einiges ist anders, vor allem eins: Sehr viele sind 18 Jahre klüger. Diesmal wollen sie dem Neuen nicht nur glauben müssen, wollen nicht nur hoffen dürfen, sie bitten nicht, sie fordern: Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit. Und sie misstrauen eilig aufpolierten Worthülsen wie: … die sozialistische Demokratie noch wirksamer entfalten … Noch wirksamer: Als hätte es die schon gegeben. Der alte Apparat greift zur Puderquaste und schminkt die grauen Wangen jugendlich, doch diesmal, sehen wir, lassen sich die Vielen mit Kosmetik nicht besänftigen und fragen nach: nach der Struktur des Staats. Sie fragen friedlich auf der Straße und beharrlich im Diskurs, damit sie künftig mehr als glauben, mehr als hoffen können. Sie wollen wählen, was Auswahl und Abwahl voraussetzt. Und so demonstrieren sie dem bislang allmächtigen Übervater, was er ist ohne seine Kinder, die längst erwachsen sind und mündig: ein einsamer und ohnmächtiger homo hierarchicus. Jetzt hat er die einmalige Chance, herabzusteigen und vom erstarrten Schemen zu einem lebendigen Wesen zu werden. Wir stehen bereit, ihn hier unten herzlich zu begrüßen.

Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 2/1990

Das Blöken der Wölfe

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