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DER LEKTOR ALS ENTDECKER

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Junge Autoren: gesucht.

Gesuchte und Suchende sind wie Perlmuschel und Taucher. Der Taucher ist der Lektor. Zuerst muss er überhaupt mal Muscheln finden. Dann müssen die Muscheln geöffnet werden. In wenigen nur findet sich eine Perle. Manche sind völlig leer. Etliche zeigen eine hübsche Schale. Mehrere tragen innen eine Perlmuttschicht. Bei anderen ist die Perle noch klein, sie wächst aber noch. Muscheln können auch gezüchtet werden. Das geschieht in sogenannten Verlagen. Außerdem gibt es Muscheln, die sich anbieten: Sie liegen am Strand. Die offizielle Bezeichnung für sie lautet: unaufgefordert eingesandte Manuskripte. Deren Begleitschreiben sind äußerst informativ. Es gibt solche, die um Prüfung und kritische Hinweise bitten, und solche, die Erscheinungstermin, Papierqualität und Honorarhöhe bestimmen. Genug des Vergleichs. Er ist gut, aber schlecht.

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„Aber zu dir, teurer Jüngling, gesell ich mich, der du bewegt dastehst und die Widersprüche nicht vereinigen kannst, die sich in deiner Seele kreuzen, bald die unwiderstehliche Macht des großen Ganzen fühlst, bald mich einen Träumer schiltst, dass ich da Schönheit sehe, wo du nur Stärke und Rauheit siehst … Die Kunst ist lange bildend, ehe sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja oft wahrer und größer als die Schönheit selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist. Sobald er nichts zu sorgen und zu fürchten hat, greift der Halbgott, wirksam in seiner Ruhe, umher nach Stoff, ihm seinen Geist einzuhauchen …“ (Goethe)

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Lektoren sitzen an Schreibtischen. Links der Stapel ungelesener Manuskripte, rechts die gelesenen, oder umgekehrt, da liegt der Spielraum für Individualitäten. Dazwischen der Kopf. Der liest. Fabeln findet. Raucht. Handlungsstränge knüpft. Muster und Motive entdeckt. Begabung spürt. Fleiß anerkennt. Zur Uhr schaut. Und schließlich in Schubladen katalogisiert. (Im Übrigen ist es immer leichter, für andere als für sich weise zu sein.)

Schublade 1: Literatur aus Literatur. Fabelführung, Konflikt-Konstellation und Stil sogar erscheinen wundersam bekannt. Geklaut darf werden, wenn: es keiner merkt, wenn: dadurch Besseres entsteht. Manch einer muss, um etwas zu finden, erst wissen, dass es da ist. Alles das braucht nicht bewusst zu geschehen. Höflich gesagt: Das Subjekt des jungen Autors ist in diesem Falle zu zaghaft. Notwendig aber ist es in jedem Fall. „Denn Dichten ist eine geistige Hervorbringung und der Geist existiert nur als einzelnes wirkliches Bewusstsein und Selbstbewusstsein.“ (Hegel)

Schublade 2: Die hemmungslos gefluteten Gefühlsschleusen. Alles kommt auf einmal: Bildungsgut, Gefühle, Bekenntnisse, Allergien. Das sind autobiografische Entwicklungsgeschichten in wenig distanzierter Schreibweise. Aber nichts hindert so sehr, genial zu sein, wie das Bestreben, es zu scheinen. Jeder Mensch ist unverwechselbar, einmalig. Nicht jede Biografie muss deshalb lesenswert sein. Allerdings: Die Reflexion über das Ich ist Voraussetzung zur Gestaltung der äußeren Realität.

Schublade 3: Das Abseitige, gesellschaftlich bereits Überholte, das illustrativ Historische. Hier finden sich die Fleißarbeiten. Oft mit Herzblut geschrieben. Deswegen nicht selten tragisch. Zum Beispiel: Eine zweibändige Entlarvung des Aberglaubens in Thüringen im Jahre 1919. Oder: Das Schicksal der dressierten Zirkusrobbe Betty zur Zeit des Kapp-Putsches. Offensichtlich fehlt diesen Autoren ein wenig der Kontakt zur gesellschaftlichen Praxis.

Schublade 4: Die künstlich gestreckten Manuskripte. Die Möglichkeiten eines Stoffes werden überschätzt, das Gegenteil ist seltener. Der kleine Stoff wird auf Länge getrimmt. Mit seitenfressenden Landschaftsbeschreibungen: Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund. Mit Dialogen der Art: Nein, sagte er. / Ja, sagte sie. / Nein und nochmal nein, sagte er, irgendwie erregt. / Doch, sagte sie und ihre Nasenflügel bebten leicht … Zum Wein wird Wasser gepanscht. Die Sache schmeckt fad.

Schublade 5: Die theoretische Literatur. Da wird kühn ein Theorem genommen und dieses umschrieben. Es entsteht die literarisch ornamentierte Illustration des Theorems. Die Aufgabe der epischen Poesie aber ist noch immer, letztes Hegel-Zitat: „… das Geschehen einer Handlung darzustellen und deshalb nicht nur die Außenseite der Durchführung von Zwecken festzuhalten, sondern auch den äußeren Umständen, Naturereignissen und sonstigen Zufällen dasselbe Recht zu erteilen …“ Unter anderem.

Schluss der Schubladenzieherei. Andere haben andere Schubladen. Es gibt Probleme mit jungen Autoren. (Aber nicht nur mit denen.) Es gibt sie, weil etwas getan wird. Die Manuskripte, die gut sind, gehen in die Druckereien. Sie werden öffentlich. Sie sind bekannt. Die in der Schublade bleiben da. Über sie war zu reden.

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Es genügt nicht zu sagen: Wenn die Kraft auch versagt, allein der Griff nach Ruhm ist ruhmvoll. Junge Autoren brauchen Behutsamkeit: Sie sind verletzbar. Junge Autoren brauchen Forderungen: Ohne Widerstand entsteht nichts Bedeutendes. Wer Prosa schreibt, muss etwas zu sagen haben. Wer etwas sagen will, sollte über Erfahrung verfügen: Kunsterfahrung, Lebenserfahrung, politische Erfahrung. Ausbildung der Persönlichkeit und der literarischen Methode müssen ein simultaner Prozess sein.

Die Verlage können einiges tun. Die Zirkel. Aber wo ist Raum? Raum, um sich zu artikulieren? Die Rubrik „Neue Namen“ in der Zeitschrift NDL reicht nicht aus. Es wird viel geschrieben bei uns hier. Aber wo gedruckt? Und wo sind die erfahrenen Autoren, wo? Patenschaften wie Gorki/Babel oder Brecht/Strittmatter sind schöne Erinnerung. Doch elegisch. Erfahrung ist nicht lehrbar, sie muss erlebt werden. Lektoren können lediglich etwas helfen beim Prozess des Sich-bewusst-werdens und beim Bewusst-machen von Problemen. Hilfe beim Erkennen der Individualität, des Wollens und nicht zuletzt des Könnens.

Die Literatur der kommenden Jahre keimt im heutigen Klima. Es liegt an uns allen, wie sie aussehen wird.

Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, 29. Dezember 1971

Das Blöken der Wölfe

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