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DER LAUTLOSE KRIEG

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Als der Krieg begann: Diesen Satzanfang wird es nach einem nächsten Krieg nicht geben. Noch möglich war und ist Erzählen nach dem, der vor fünfzig Jahren begann. Dem größten seiner Art, der bislang üblichen. Welt-Krieg genannt, doch nicht die ganze Welt erfassend. Menschen verschlingend, doch nicht die Gattung Mensch. Sechzig Millionen Opfer, und doch Millionen, die er überleben ließ und die von ihm erzählen können mit eben diesem Satzanfang: Als der Krieg begann. Sich erinnernd. Uns, die in ihm und später Geborenen, erinnernd.

Das war der alte Krieg. Der seit Jahrtausenden tausendfach geführte, der seine Potenz zu töten immens gesteigert hatte, doch unfähig blieb, alles Leben auszulöschen. Er begann damit, wie vordem auch, dass eine Landesgrenze überschritten wurde. Doch dieser alte und in Europa vorerst letzte der gewöhnlichen überschritt an seinem Ende noch eine Grenze. Die eigene. Der alte, müde und satt vom Würgen und Schlingen, bauchhöhlenschwanger von gesoffnem Blut, platzte auf und stieß aus der zu eng gewordenen Panzerhaut ein plumpes Eisenei. Die Stunde einer infernalen Niederkunft. Der Beginn eines neuen Zeitalters, des nuklearen. Es war die Missgeburt der Bombe, die, detonierend, heller strahlte als das Licht der Welt und Menschenschatten auf Ruinenwände brannte. Geburtsname: Little Boy. Geburtsdatum: 6.8.1945. Geburtsort: Hiroshima. Ein perfektes Monstrum war geboren, das sich spaltend weiterheckte und ungeheuer wucherte, eine Kopfgeburt instrumentellen Denkens, der Ethos und Vernunft entglitt und im kalten Klima demonstrierter Stärke mörderisch gedieh.

Der neue Krieg, der mögliche, stolz zeigte er die Instrumente und wuchs, mutierte immerfort und füllte seine Arsenale. Ein neuer Krieg, ein schlanker, spitz statt stumpf, nicht stiernackig wie der alte, der auf Masse setzte, Landmasse, Menschenmasse, Massenmord, der eisenklirrend über Länder feuerwalzte, steckenblieb und ohne Rücksicht auf Verluste um sich biss und schlug, bis ihm die Luft ausging, die ihm genommen wurde. Der alte war verheerend. Der neue, lässt er die Instrumente los, wird nicht mehr zu beschreiben sein. Der alte ließ noch einen Anfang zu. Der neue ist das Ende.

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Allein ein Poseidon-U-Boot trägt 16 Raketen mit je 10 Sprengköpfen. Sie haben eine Sprengkraft von insgesamt 6,4 Megatonnen TNT. Das ist mehr als alle im Zweiten Weltkrieg verschossene Munition.

Die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von 13,5 Kilotonnen TNT. Sie tötete 100.000 Menschen. Die gesamte Sprengkraft der heute weltweit vorhandenen Kernwaffen entspricht etwa 1 Million Hiroshima-Bomben. Das sind etwa 3 Tonnen TNT pro Kopf der Weltbevölkerung.

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Ein Alb. Ein Traum, in ihm ein Zwilling, siamesisch, mit zwei Köpfen und einem gemeinsamen Unterleib, in Brusthöhe, herznah, verwachsen. Giovanni und Giacomo. Giovannigiacomo. Showfreak im Zirkus Welt. Oben die Bühne mit billigem Flitter, Diskolicht und poppiger Pappe. Unten die zahlenden Massen, wir. Die Show läuft nonstop. Nur mühsam hält der Zwilling die Balance auf seinen beiden Beinen, die voneinander wollen und nicht können. Die Stirnadern geschwollen. Vier Arme ringen, schlagen, wehren ab, wobei schwer auszumachen ist, welche Hand von welchem Schrei gesteuert wird. Sie umklammern einander, gehen sich an die Kehlen, zeigen sich die geschärften Hieb- und Stichgeräte, stoßen jedoch nicht zu. So stehen sie, schwankend, keuchend, belauern und bedrohen sich, schrecken ab durch Muskelspiel und können doch die Angst, die sie beherrscht, nicht verbergen. Blutsbrüder, zunehmend gelähmt in feindseliger Umklammerung. Gezeichnet von der Anstrengung, fortwährend zu drohen, den Argwohn ständig wachzuhalten und nicht zu wissen, wie der Tod des anderen den eigenen vermeiden könnte. Denn das wissen sie: Stirbt einer vor dem anderen, folgt der Sieger dem Besiegten bald schon nach. Ratloses Geschling, ein Blutkreislauf. Die Leute unten werden langsam ungehalten. Wollen was sehen für ihr Geld. Wollen sich amüsieren. Sie sind des aussichtslosen Schaukampfs müde, fordern Giovanni und Giacomo auf, vierhändig Klavier zu spielen und zweistimmig zu singen, Giovannigiacomo jedoch verharrt in seinem kämpferischen Starrkrampf, unfähig zur Bewegung. Labiles Gleichgewicht des Schreckens. Tickende Stille auf der Bühne. Nichts von Belang geschieht, der Traum tritt schmerzend auf der Stelle, unerträglich.

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Das Erwachen ein globales Erschrecken: Der Suizid, zu dem die Menschheit fähig ist, kein Traum. Die Gefahr, zwar nicht gebannt, jedoch benannt: spät, die Hoffnung ist, noch nicht zu spät. Der neue Krieg, der täglich mögliche, ist, wenn er wirklich wird, weder zu gewinnen noch zu überleben. Das erkannt zu haben, ist viel. Ist es genug?

Was hat uns denn bislang vor dem bewahrt, was demnächst nicht abzuschaffen ist? Die gewachsene Vernunft, der zum Homo sapiens gereifte Homo faber? Die symmetrisch drohende Vernichtung, das Gleichgewicht der Waffen? Die nackte Angst vorm Untergang? Die massenhafte Friedenssehnsucht? Die Einsicht führender Köpfe? Das mit der Menschenmacht synchron gewachsene Gewissen?

Oder hat sich der aus dem alten Krieg gekrochene neue selbst daran gehindert auszubrechen? Hat er sich selbst gelähmt, indem er so monströs gerüstet ist, dass er sich im Ernstfall mit der ausgelöschten Menschheit selbst abschafft? Hat er sich wandeln müssen, um sich zu erhalten? Freuen wir uns zu früh, wenn der ausbleibende Countdown des atomaren Endes uns schon wie eine Rettung scheint? Starren wir auf die Gefahr, das uns Bekannte, und nehmen eine andere nicht wahr? Was hilft es, wenn wir das Schweigen der Waffen Frieden nennen?

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Der lautlose Krieg hat längst begonnen. Er findet täglich weltweit statt. Er ist ein gänzlich neuer, ein abgehobener, gereinigter Krieg, der, praktisch nicht mehr führbar, theoretisch ausgefochten wird. In ihm triumphiert die Logistik über die Strategie, die Zahl über den Namen, die Zeit über den Raum. Statt Kriegskunst Rechenkunst. Statt Materialschlacht Kosten-Nutzen-Rechnung. Statt Kriegsspiel im Sandkasten Computerschlacht am Monitor. Aufrechnen der Daten und Anzahl vorhandener Waffen, entscheidende Größe: die Geschwindigkeit. Berechnung von Schlag und Gegenschlag. Die mathematisierte Größe für den Menschen: Megatote. Zahlen, Varianten, Wahrscheinlichkeiten. Digitalisiert, binärkodiert. Simulationen und Szenarien. Und immer schnellere, genauere, tödlichere Waffen, damit die Rechnung dort aufgeht, wo sie allein aufgehen kann: auf dem Papier.

Wissenschaft und Technik machen’s möglich. Sie stellen die permanent perfektionierten Waffen für die Logistiker bereit, sie produzieren die Beschleunigung, verkürzen die Reaktionszeiten, delegieren Intelligenz an Waffen, erhöhen die Effizienz des Tötens und eskalieren so ständig die Modelle, bereiten endlos vor, was sie vermeiden wollen: das Ende.

Die gigantisch hohen Kosten sind bekannt: etwa 1 Million Dollar pro Minute, und das stündlich, täglich, jährlich. Aber es ist nicht das Geld allein. Obwohl bis jetzt rein theoretisch geführt, ist der lautlose Krieg real und fordert täglich Opfer.

Zu der Bilanz gehören die Hungertoten in der Dritten Welt: Im „Jahr des Kindes“ 1979 verhungerten von 120 Millionen geborener Kinder 12 Millionen, das ist 1 Hiroshima alle drei Tage. Die verschwendeten Ressourcen, die verbrauchte Energie beim ständigen Üben dessen, was dadurch verhindert werden soll, die ausgeraubte, beschädigte, vernichtete Natur, gefleddert vom errüsteten Frieden, der die Biosphäre des Planeten derart schädigt, dass er, was er zu erhalten meint, zwar nicht mit 1 Atomschlag, doch nach und nach und immer schneller ebenso nachhaltig in Frage stellt – das Überleben des Naturwesens Mensch. Die den militärtechnischen Fortschritt forcierende, massenhaft verschleuderte Intelligenz, die pervertierte Kreativität, die missbrauchte Wissenschaft. Die Zukunft, die mehrfach auf dem Spiel steht, obwohl die zukünftigen Generationen nicht mit am Spieltisch sitzen. Ein unverantwortbares Vabanque-Spiel. Für das wer haftet? Die einschüchternde Dominanz der Drohung, die uns duckt und Dringliches vertagt: planetarische Gerechtigkeit und ökologisches Handeln. Und, was vielleicht das Ärgste ist, das Leben bei ständiger Lebensgefahr verengt das Blickfeld, entrückt den Horizont, hinter dem die Utopien noch immer auf uns warten.

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Warum, so frag ich mich, nachdem der letzte Satz geschrieben schien, schreib ich an keiner Stelle: Ich? Warum zum Beispiel nicht von den Kampfhubschraubern, die, während ich dies schreibe, im Tiefflug übers Dach donnern, nichts vom verdünnten Düsendröhnen im Luftraum darüber und den Schallmauer-Durchbrüchen, die mich zusammenzucken und die Scheiben beben lassen? Weshalb bemühe ich die Menschheit? Weshalb Zahlen, die nicht ernüchtern können? Weshalb abstrakt: der Krieg, obwohl der konkret ist wie jedes andre Wahre auch? Weshalb der wortaufwendige Faltenwurf der Stirn? Um meine Ängste zu verhüllen? Um verbal zu überspielen, wo mir die Sprache stockt? Um hinter vielen Worten zu verbergen, dass ich ratlos bin?

So tue ich, als ob. Als ob ich kühlen Kopfes sei. Als ob ich emotionslos wäre. Nicht betroffen, nicht hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Objektiviere, um nicht subjektiv zu werden, da emotionales Reagieren als intellektueller Makel gilt, das den Verstand in Mitleiden-Schaft zieht. Sachlichkeit als Tugend, Freisein vom Subjektiven als effiziente Denkmethode hochgepriesen. Die Errungenschaft wird mir suspekt, da ich rational beschreiben will, wo das Treffende geschrien werden müsste: Wahnsinn! Immer wieder: Wahnsinn! Doch schrei ich nicht, ich schreibe. Im Hinterkopf das anerzogene Stereotyp, dass, wer schreit, unrecht hat. Also bewahr’ ich Haltung. Verliere nicht den Kopf. Beherrsche die Gefühle. Lass mich nicht irremachen und such den Irrsinn zu erklären.

Ich schreibe, wo ich schreien müsste. Und weiß, das kann nicht alles sein.

Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 8/1989

Das Blöken der Wölfe

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