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KURIOSES IN DER MOHRENSTRAßE
ОглавлениеBeruf und Berufung fallen bei mir auf eine höchst glückselige Weise zusammen: Ich bin Erfinder, bekannt unter dem Namen Flussel junior. Mitunter, wenn ich mich vorstelle, bemerke ich Unkenntnis auf den Gesichtern meiner Gesprächspartner, und in solchen Momenten pflege ich auf die stolze Tradition meiner Familie zu verweisen. Mein Vater nämlich war der berühmte Flussel senior. Flussel, Eugen (1863–1932) – exakt. Er erhielt 1898 das Reichspatent auf seine „Vorrichtung zum Anheben der Knie der auf dem Abort sitzenden Person gegen die Brust“, die in der Patentschrift wie folgt erläutert wird: „Gegenstand der Erfindung ist eine Vorrichtung, welche die den Abort benutzende Person derart vor sich legen kann, dass beim Ausüben eines Druckes auf eine Armstütze die Platte, auf welcher die Füße der Person ruhen, angehoben wird und die Vorrichtung somit als Brustpresse wirkt.“ Wenngleich diese Erfindung für penible Gemüter etwas anrüchig scheinen mag, so hat sie doch zweifelsfrei vielen Menschen Erleichterung gebracht, und das ist ja wohl der letztendliche Zweck jedes erfinderischen Schaffens. Mir ist bis heute die Patentierung einer meiner Erfindungen versagt geblieben, doch das will nichts beweisen, da viele geniale Erfinder der Vergangenheit dem Verständnis ihrer Zeit weit voraus waren, ich erinnere hier nur an Kollegen Dädalus aus Attika. Neulich nun glückte mir eine Erfindung, der ein Patent so gut wie gewiss ist.
Der erste Schritt nach einer Erfindung führt zum Patentamt in der Mohrenstraße, um dortselbst in den Akten nachzusehen, ob die Erfindung schon existiert oder nicht. Der Lesesaal war ziemlich voll, was auf eine rege Erfindertätigkeit schließen lässt, zumeist junge Techniker saßen da, Ingenieure, Diplomingenieure et cetera, sie blätterten in Akten, die ich nicht verstehe. Ich bin Autodidakt, ohne akademischen Titel, allerdings mit enzyklopädischem Wissen. An dem Ausgabeschalter deutete ich vorsichtig die Art meiner Erfindung an und bat um die entsprechenden Mappen. Hinter dem Schalter sah ich Befremden, verständlich bei der Kompliziertheit meiner Erfindung, dann verstecktes Lachen, sicherlich aus Verlegenheit, Flussel jun. persönlich vor sich zu haben, und schließlich überreichte man mir lächelnd eine schwarz verschnürte Mappe, sie trug die Aufschrift „Sammelmappe für Kuriositäten“. Nun ja, dachte ich, alles Geniale ist zuerst kurios, über alles Ungewohnte wird zuerst gelacht, denken wir nur an das erste Automobil von Benz. Ich begann zu blättern und war ergriffen von der Größe und Vielfalt menschlichen Erfindergeistes.
Da erfand 1899 Wolf von Wolf aus Dresden ein „Kopfkissen mit zum Hineinlegen der Ohren bestimmten Abschnitten“, Otto Reich aus Hannover 1893 einen „Deckbetthalter mit Lüfter“, Paul Bartmann aus Wien 1906 eine „Vorrichtung zur Verhütung des Liegens auf dem Rücken, welche den Zweck verfolgt, das bei vielen Personen sich einstellende Schnarchen sowie das Eintreten von erotischen Traumbildern zu verhindern“, also allesamt überaus hülfreiche Erfindungen bezüglich eines wonniglichen Schlafes.
Viele meiner Kollegen beschäftigte das Problem der universellen Nutzbarkeit von Spazierstöcken: Walter Grunewald aus Riesenburg erfand 1927 einen „Spazierstock mit im Innern untergebrachter Regenhautpelerine“, Hugo Windmüller aus Berlin 1891 einen „zur Aufnahme von Flüssigkeit bestimmten Stock mit Trinkbecher im Griff“, Friedrich Brückner aus Frankfurt am Main 1891 einen „einfachen Spazierstock, zu dessen als Tintenbehälter dienendem, abnehmbarem Knopf ein Federhalter den Stöpsel bildet“, W. A. Herbst aus Pulsnitz 1877 einen „Touristen- und Botanisier-Stock“ mit Signalpfeife, Messer, Kompass, Mikroskop, Objektgläsern, Chloroform-Röhrchen, Thermometer, Sanduhr, Botanisierspatel und Eispickel, Carl Lindner aus Weyer 1905 eine „Wärmevorrichtung für Spazierstock- oder Schirmgriffe“ … Und viele andere einfallsreiche Kollegen erfanden Stöcke zur Aufnahme von Zigaretten, Zigarren, Pfeifen, Brillen, Taschenlampen, Kleiderbürsten, Schlagvorrichtungen und Insektenspritzen.
Carl Külbs aus Freising erfand 1884 eine „Vorrichtung zur Holzzerkleinerung“, und die Patentbegründung wirft ungewollt ein bezeichnendes Licht auf die rauen bajuwarischen Sitten: „Die Vorrichtung hat den Zweck, mittelst jedes gewöhnlichen Beiles sitzend Holz spalten zu können, ohne, besonders in Mietwohnungen, störendes Gepolter zu verursachen“, Kollege Külbs kann demzufolge als Protagonist der Lärmbekämpfung gelten.
Einige Kollegen arbeiteten erfolgreich auf dem Spezialgebiet meines Vaters: Hugo Schwarz aus Gottschimmerbruch zum Beispiel erfand 1911 eine „Vorrichtung zum selbsttätigen Öffnen und Schließen des Klosettdeckels mittels der Tür“ und Otto Leiber aus Königsfeld 1926 einen „Hilfssitz für Nachtgeschirre“ mit Musikauslösung bei Belastung.
Aber auch die holde Weiblichkeit leistete ihren Beitrag im Patentwesen, so unter anderem Emilie Friedrich aus Berlin, die 1920 eine „elektrische Vorrichtung zur Verhütung des Bettnässens“ entwickelte, die bei Beginn der unerwünschten Blasenentleerung einen empfindlichen Stromstoß auslöste und das jähe Aufwachen des kindlichen Schlafpinklers verursachte. Edmund Naundorf aus Luckenwalde zählte sicher zu den glühenden Verehrern der Dichtkunst von Friederike Kempner und deren schrittmachenden Bemühungen um die Scheintoten, denn er erfand philanthropischerweise 1895 einen „Sarg mit Schaufenster“, um den Scheintoten die Möglichkeit zu lassen, bei der Aufbahrung den innen angebrachten Vorhang zur Seite zu ziehen und den Trauernden Winkzeichen zu geben.
Kriegerischer Natur dagegen ist die Erfindung von Carl Hamann aus Bergedorf im Jahre 1898, das sogenannte „Handrad zur Unterstützung beim Kriechen, das vorzugsweise militärischen Zwecken dienen soll und aus einem Handstützrad besteht, welches beim Kriechen des Soldaten zum Heranschleichen an den Feind benutzt wird“. Hätte diese Erfindung nicht auch im Zivilbereich Verwendung finden können? Walter Gerdes aus Berlin erfand 1928 eine „Fahne mit Längs- oder Querstreifen“ und schrieb dazu: „Es ist üblich, feierliche Ereignisse, insbesondere solche politischen Charakters, durch Tragen oder Aufziehen einer Fahne zu bekunden. Zahlreiche Kreise der Bevölkerung haben hierbei nun den Wunsch, die Farben der Fahne der politischen Verschiedenheit der Ereignisse jeweils beliebig anpassen zu können. Das Publikum steht vor dem unter dem Namen Flaggenfrage bekannt gewordenen Problem und vor der Entscheidung, entweder eine zweite Fahne anzuschaffen oder von einer äußeren Bekundung seiner Teilnahme an dem betreffenden Ereignis abzusehen.“ Kollege Gerdes fand die Lösung in verschiedenfarbigen, verschiebbaren Stoffstreifen, die mittels Druckknöpfen umgesteckt werden konnten. Damit endete die Mappe: schade. Ich aber frage: Werden die sogenannten Kuriositäten nur nicht mehr gesammelt oder werden solche verdienstvollen Erfindungen heutzutage nicht mehr eingereicht?
Ich schlug die Mappe zu, beruhigt, meine Erfindung nicht gefunden zu haben. Es handelt sich dabei weder um ein Damenstrumpfband mit Glühbirne noch um eine zusammenklappbare Zahnbürste – das sind unseriöse Spielereien, meine Erfindung setzt unvergleichlich höher an. Sicher ist jedem schon einmal aufgefallen, dass bei Fleischmahlzeiten Knochen übrigbleiben, die zumeist in abgenagter Form auf den Tisch gelegt werden oder aber auf einen dafür vorgesehenen Teller, beides ist gleichwohl kein schöner Anblick. Also habe ich einen Teller konstruiert, der auf seinem Rand eine verschließbare Öffnung aufweist. In diese Öffnung werden die Knochen gesteckt, der Deckel wird geschlossen, und sofort beginnt eine eingebaute Heizvorrichtung, die Knochen zu kochen, anschließend werden dem Knochenfett die einschlägigen chemischen Substanzen beigegeben, das Ganze wird eingedickt, gepresst, und nach Beendigung der Mahlzeit kann so unter dem Tellerrand eine Stück Seife entnommen werden, welchselbiges zum nachfolgenden Händewaschen benutzt werden sollte. Jeder wird zugeben müssen: eine ebenso nützliche wie hygienische Erfindung. Leider weist der Teller aus technologischen Gründen nun einen Durchmesser von mehr als einem Meter auf, doch wo ist schon etwas vollkommen.
Dann gab ich die Mappe ab, und wieder lächelte man hinter dem Schalter. Als ich das Patentamt verließ, war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich meine Erfindung schon jetzt zum Patent anmelden sollte. Ich werde sie wohl noch einige Zeit reifen lassen, die Menschheit hat so lange darauf warten müssen, da kommt es auf ein paar Jahre doch nicht an.
Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, 9. November 1971