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2 Migration und die Hintergründe
ОглавлениеAus welchen Gründen wandern Menschen?
Bild Seite 19: Ein Auswandererbrief ist aus Nordamerika eingetroffen. Gemälde von Berthold Woltze (1829–1896), das um 1860, also in einer der Hochphasen der Auswanderung aus deutschen Staaten, entstanden ist.
Migrationen sind räumliche Bewegungen von Menschen. Jedoch wird keineswegs jede dieser Bewegungen als Migration verstanden, touristische Unternehmungen, Reisen oder das tägliche Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort etwa zählen nicht dazu. Gemeint sind vielmehr jene Formen regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert. Migration kann das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen bedeuten. Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines staatlichen Gebildes lassen sich als Migration fassen; denn selbst sie können es erfordern, dass Migranten sich mit wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinandersetzen, die sich zum Teil erheblich von denen des Herkunftsortes unterscheiden.
Migration kann unidirektional eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasst aber nicht selten auch Zwischenziele, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Weiterreise dienen. Fluktuation, beispielsweise zirkuläre Bewegung oder Rückwanderung, bildete immer ein zentrales Element von Migration. Die dauerhafte Ansiedlung andernorts stellt also nur eines der möglichen Ergebnisse von Wanderungsbewegungen dar. Um nur ein Beispiel zu nennen: In die Bundesrepublik Deutschland kamen vom Ende der 1950er-Jahre bis 1973 rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte (»Gastarbeiter«), etwa elf Millionen, also 80 Prozent, kehrten wieder in ihre Herkunftsländer zurück.22
Der Prozess der Migration bleibt grundsätzlich ergebnisoffen, denn das Wanderungsergebnis entspricht bei Weitem nicht immer der Wanderungsintention: Eine geplante Rückkehr wird aufgeschoben, die Ferne schließlich zur Heimat, und die alte Heimat erscheint fern. Räumliche Bewegungen werden abgebrochen, weil bereits ein zunächst nur als Zwischenstation gedachter Ort unverhofft neue Chancen bietet. Umgekehrt kann sich das geplante Ziel als ungeeignet oder wenig attraktiv erweisen, woraus eine Weiterwanderung resultiert. Zudem vermag der Erfolg im Zielgebiet die Rückkehr in die Heimat möglich oder der Misserfolg sie nötig machen.
Tabelle 1: Migration: zentrale Begriffe
Migration kann eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes bedeuten23, ist aber auch häufig durch zeitlich begrenzte Aufenthalte andernorts gekennzeichnet, die nicht explizit den Lebensmittelpunkt versetzen24: Saisonwanderungen, die mehr oder minder regelmäßig zu wochen- oder monatelangen Aufenthalten andernorts führen, sind beispielsweise in der Regel darauf ausgerichtet, Geld zu verdienen, um die Existenz der Familie am Ort des Lebensmittelpunktes aufrechterhalten zu können. Zahlreiche Beispiele für solche mitunter über längere Zeit hinweg strukturstabilen Formen zirkulärer Migration finden sich in agrarisch geprägten Herkunftsgesellschaften beziehungsweise Herkunftsregionen, aber auch im Kontext der seit dem 19. Jahrhundert weltweit beschleunigten Urbanisierung: Eine lineare Wanderung vom Land in die Stadt als »Einbahnstraße« bietet nur eines unter vielen Mustern jener Migrationen, die das massive Wachstum der städtischen Agglomerationen in aller Welt wesentlich tragen. Ein weiteres Mobilitätsmuster ist der Kreisverkehr von temporären Land-Stadt-Land-Wanderungen, die nach Jahren in dauerhaften Niederlassungen in den Städten enden können, aber nicht notwendigerweise müssen.